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»Ich hab schon den Eindruck.« Plötzlich hatte er wieder zu seinem normalen Ton gefunden. »Sie machen übrigens kein Geheimnis daraus. Mit Schönborn hab ich ein paar Mal gesprochen. Er möchte natürlich auch gern erfahren, wen er sich da ins Bett geholt hat. Dafür wäre er auch bereit zu löhnen, Sachverständige und Gutachten und Psychiater und Privatdetektive und Belohnungen. Er hat’s ja!«, fügte er bitter hinzu.
»Und sie? Wie benimmt sie sich?«
Bevor Grem antwortete, griff er in eine Schublade und holte den gefürchteten Stinkkocher hervor; Rogge hielt sich die Nase zu, was Grem aber nicht beeindruckte.
»Wahrscheinlich ganz normal, Jens. Das Schwierige ist - ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie es ist, wenn man nicht mal mehr weiß, wie man heißt, wann und wo man geboren wurde.«
Jetzt gestattete sich Rogge ein Schmunzeln, das Grem mit einem finsteren Blick quittierte. Eine Simulantin - als solche hatte er sie anfangs behandelt, grob, unhöflich, an der Grenze zur unerlaubten Einschüchterung, bis die Ärzte dazwischenfunkten und die Presse informierten. Daraufhin hatte Grem einen offiziellen Verweis bekommen, der jetzt seine Personalakte verunzierte, den Fall aber noch behalten, weil Simon vor den Angriffen in den Zeitungen nicht kuschen wollte. Was Grem wahrscheinlich schon vergessen hatte. Oder verdrängt, sein Sündenregister hatte eine beachtliche Länge und Dankbarkeit gehörte ohnehin nicht zu seinen Stärken.
»Was ist denn dein Eindruck? Will sie ihr Gedächtnis wiederfinden?«
»Ach, ich denk schon!« Dies einzugestehen fiel Grem schwer, Rogge nickte nachdenklich. Viele Menschen verschwanden, wurden eines Tages auf gestöbert und behaupteten, sie hätten vorübergehend ihr Gedächtnis verloren. In neun von zehn Fällen logen sie, wollten etwas vertuschen, vor der Polizei, den Eltern, dem Ehepartner. Natürlich gab es Fälle, in denen wirklich eine Amnesie zutraf, nach Schädelverletzungen etwa bei einem Verkehrs- oder Arbeitsunfall oder bei Schlägereien. Aber dann konnten die Knochenklempner Beweise vorlegen, Röntgenbilder, Computertomographien oder auch EEGs, die der misstrauische Grem mittlerweile akzeptierte. In anderen Fällen ließ er sich von Blutanalysen überzeugen; Junkies dröhnten sich mit allen möglichen Drogen zu, bis der Film riss, für einige Zeit oder - seltener - auch für immer. Aber eine Frau, die nicht die geringste Verletzung oder hirnorganische Veränderung aufwies? - Nein, nicht mit ihm, nicht mit Grem dem Groben.
»Na dann, vielen Dank, ich halte dich auf dem Laufenden.«
In seinem Zimmer lehnte Rogge lange am Fenster und schaute träumend in den Innenhof hinunter, den eine riesige Kastanie fast vollständig beschirmte. Jedes Jahr begann im Herbst ein Krieg zwischen den Kollegen, die das Privileg genossen, im Innenhof parken zu dürfen, und der obersten Etage des Präsidiums, weil einige fallende Kastanien winzige Dellen in die bunten Bleche schlugen. Bis jetzt hatten sich die Baumfreunde durchgesetzt, aber immer nur mit knapper Mehrheit.
Rogge schätzte das altmodische Präsidium, das in den zwanziger Jahren erbaut worden war, ein vierstöckiger Bau rund um einen großen, fast quadratischen Innenhof, aus dunkelbraunen Klinkern, mit doppelten Holzfenstern und einem ordentlichen Ziegeldach mit zahlreichen Gauben. Vor einem Jahrzehnt war das Dachgeschoss ausgebaut worden, was vorübergehend Platz geschaffen hatte, aber bestimmte Abteilungen, vor allem die Kriminaltechnik, hatten in einen Neubau umziehen müssen. In den Räumen über den beiden Durchfahrten in den Längsseiten beschwerten sich die Kollegen im Winter, sie bekämen kalte Füße; das war bewusst doppeldeutig gemeint, aber die Klagen hatten nachgelassen, weil an einen weiteren Neubau wegen der allgemeinen Finanznot nicht zu denken war und selbst die größten Meckerer langsam einsahen, dass sie solch breite Flure, bequeme Treppen und zahlreiche Nebenräume in einem funktionalen Hochhaus nicht erwarten durften.
Leise seufzend drehte Rogge sich um. Das schöne Wetter verlockte zum Träumen. Im Mai war er wieder zum Dienst angetreten, nach acht Wochen Krankenhaus und sechs Wochen Rehaklinik, die Schusswunde war verheilt, er spürte sie nur noch, wenn er den linken Arm überanstrengt hatte. Doch die Müdigkeit überwältigte ihn immer wieder, sie steckte nicht in Knochen und Muskeln, sondern in seinem Kopf. Immer häufiger ertappte er sich dabei, dass er neben sich trat und ratlosneugierig den großen, hageren Mann mit dem faltigen Gesicht und eisengrauen Haaren betrachtete, der manchmal nur wie ein Automat funktionierte, präzise zwar und zuverlässig, aber ohne Anteilnahme, als sei ihm der Beruf so fremd geworden wie die Umgebung. Rogge hatte zu viel gesehen und erlebt, um noch tolerant zu sein, und sein Mitleid sparte er sich für die wenigen Fälle auf, in denen es angebracht war. Als Erster hatte Simon Rogges Probleme bemerkt. Dem stets auf Distanz bedachten und schweigsamen Rat entging wenig, doch weil er sich nichts anmerken ließ, unterschätzten viele seine Scharfsichtigkeit.
»Noch nicht wieder da, Herr Rogge?«
»Nein. Es gibt Tage, da laufe ich wie ein Fremder durchs Haus und begleite mich.«
In den sechs Wochen Rehakur hatte Rogge viel gegrübelt. Dass ihn die meisten Kollegen nicht leiden mochten, dass er als schwieriger Einzelgänger galt, um den man besser einen Bogen schlug, wusste er schon lange. Dass er seinen Beruf trotz aller Schattenseiten liebte, würden ihm die meisten Kollegen nicht glauben. Während er mechanisch den Anweisungen der Krankengymnasten folgte, überlegte er, ob er wirklich noch an seinem Posten hing oder nur die Langeweile der vorzeitigen Pensionierung fürchtete. Seine drei Kinder hatten das Haus verlassen und standen auf eigenen Füßen, führten ihr eigenes Leben in anderen Städten und nahmen sich selten die Zeit, den Vater zu besuchen. Rogges Frau war vor fünf Jahren gestorben; und als ihm das Haus zu groß geworden war, hatte er es zu einem sehr guten Preis verkauft und das Geld gut angelegt. Er hatte in einem anonymen Hochhaus eine kleine Wohnung gemietet, in der er sich gelegentlich wie eingesperrt fühlte. Seitdem gab Rogge sein Gehalt nicht mehr aus und rührte die Zinsen nicht an. Redselig war er nie gewesen, nun wurde er wortkarg. Klar, Simon wollte diesen unangenehmen Fall endlich abschließen, aber wahrscheinlich rieb sich der Rat gleichzeitig die Hände, weil er gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe erschlagen hatte: Grem einen Dämpfer verpasst und für Rogge etwas gefunden, das der allein recherchieren, bei dem er sich seine Zeit selbst einteilen konnte.
Nun denn! Rogge schlug die Akte auf.
Die unbekannte Frau, die jetzt unter dem Namen Inge Weber geführt wurde, war am 15. September des vorigen Jahres auf dem Autobahnparkplatz Feltenwiese gefunden worden, knapp 25 Kilometer östlich der Stadt. Grem hatte eine Kopie aus dem Straßenatlas beigefügt: Der Parkplatz lag südlich der Autobahn, an der von Ost nach West führenden Seite. Gegen 23.55 Uhr hatte der in Frankfurt lebende Vertreter Arno Jödel auf dem Platz angehalten, weil er unbedingt pinkeln musste.
Rogge blätterte, bis er das Protokoll fand: Jödel erinnerte sich, dass zu dieser Zeit ungewöhnlich wenig Verkehr herrschte. Drei, wenn nicht vier Minuten hatte er weder Rücklichter vor sich noch Scheinwerfer im Innenspiegel gesehen, bevor er auf den Parkplatz einbog. Allerdings glaubte er auch wahrgenommen zu haben, dass gut zweihundert Meter vor ihm ein wahrscheinlich großer, dunkler Wagen auf der Einfädelspur beschleunigte, während er auf der Abbiegespur bremste. Zum Autotyp konnte er keine Angaben machen, natürlich auch nicht über das Kennzeichen.
Jödel hatte sich auf die erste Parkfläche gestellt und war dann in den Wald gestürmt, der bis an den Platz reichte. Nach seiner Aussage war der dunkle Rastplatz zu diesem Zeitpunkt völlig verlassen gewesen. Nachdem er sein Geschäft erledigt hatte, ging er langsam zu seinem Auto zurück. Erst als er auf die Ausfahrt zurollte, bemerkte er die Frau. Sie saß regungslos auf einer Bank und im Scheinwerferlicht erkannte er, dass sie nur einen BH und ein Höschen trug; später fiel ihm auch auf, dass sie barfuß war. Die fehlende Kleidung und ihre Regungslosigkeit alarmierten ihn; er war schon an ihr vorbei, als er bremste und nach kurzem Zögern zurücksetzte.
»Warum, Herr Jodel?«
»Ich weiß nicht. Sie sah so hilflos aus. Ich dachte, es wäre ihr etwas passiert. Oder jemand hätte sie belästigt.«
Das Wort belästigt korrigierte er später freiwillig in vergewaltigt. Und danach habe der Täter sie hier ausgesetzt oder aus dem Auto geworfen. Vorsichtshalber rangierte er so weit zurück, dass er sie im Scheinwerferlicht wieder deutlich sehen konnte. Als er ausstieg und sich ihr näherte, rührte sie sich nicht, sagte auch kein Wort, so als habe sie ihn gar nicht wahrgenommen. Auch als er sie ansprach, reagierte sie nicht, sondern starrte weiter geradeaus vor sich hin.
»Als ob sie stumm und blind und gelähmt wäre.«
Er versuchte es noch einmal, wieder keine Reaktion.
»Wie im - Schock.« Medizinisch war dieses Wort unkorrekt, aber der verdutzte Jödel konnte ihr Verhalten nicht anders beschreiben. »Starr und völlig weggetreten.«
Ihm war klar gewesen, dass er jetzt nicht einfach wegfahren und die Frau ihrem Schicksal überlassen konnte. Aber seine Aufforderung, in sein Auto zu steigen, schien sie gar nicht zu erreichen, also hatte er es endlich riskiert und sie am Oberarm angefasst, um sie von der Bank hochzuziehen. Zu seiner großen Verblüffung folgte sie sofort, ohne Widerstand, immer noch wortlos, mit der unverändert maskenhaften Miene. Jetzt war ihm aufgefallen, dass sie keine Schuhe trug.
»Sie gehorchte wie eine - eine - Marionette. Ohne eigenen Willen.«
Jödel räumte ein, dass er ins Schwitzen geriet. Helfen wollte er, aber so etwas hatte er noch nie erlebt und die Furcht, in eine Falle gelockt zu werden, wuchs von Sekunde zu Sekunde. Außerdem hatte er, wie er offen zugab, auch Angst vor der Reaktion der Frau: halbnackt, um Mitternacht auf einem einsamen Parkplatz - wenn sie nun später behauptete, er hätte sie belästigt - von solchen Fällen hatte er schon gelesen, und gerade weil er als Vertreter viel unterwegs war, nahm er grundsätzlich keine Anhalterinnen mit. Das hatte er erstens seiner Frau versprochen und zweitens kannte er einen Kollegen, der bei strömendem Regen eine junge Frau aufgelesen hatte, die am Ziel seelenruhig ausstieg und sofort zum nächsten Revier marschierte, wo sie ihn wegen sexueller Belästigung anzeigte. Mit perfekter Personenbeschreibung und vollständigem Kennzeichen. Das alles war ihm durch den Kopf geschossen, während er sie zu seinem Wagen führte.
»Ich musste sie regelrecht auf den Beifahrersitz drücken.«
Was sie ohne Widerstand mit sich geschehen ließ; als er einstieg, saß sie kerzengerade, die Hände flach auf den Oberschenkeln, den Kopf nach vorn gerichtet.
»Ich hab ihr gesagt, sie müsse sich anschnallen, aber das hat sie nicht gehört. Oder nicht verstanden.«
Was sollte er tun? Schließlich hatte Jodel an ihr vorbei nach dem Gurt gegriffen, selbst dabei bewegte sie sich keinen Millimeter, auch nicht, als er sie aus Versehen streifte. »Mir ist richtig unwohl geworden«, gestand er und seine Zähne klapperten noch in der Erinnerung. »Das war doch nicht normal.«
Rogge legte einen Merkstreifen auf die Protokollseite und blätterte schnell weiter: keine Einvernahme durch einen Sachverständigen. Wahrscheinlich hatte Jödel mehr als einmal bedauert, sich um die Frau gekümmert zu haben, die Protokolle mussten ihn mindestens zwei Tage gekostet haben. Von den sonstigen Scherereien ganz zu schweigen.
Bei der zweiten Einvernahme hatte schon Grem die Fragen gestellt und Jödel gelöchert: Wie viel Zeit war zwischen seinem Einbiegen auf den Parkplatz und der Abfahrt verstrichen? Hatten in dieser Frist andere Autos auf dem Platz angehalten? Hatte er einen Menschen bemerkt? Ein Auto, dessen Fahrer sich merkwürdig verhielt?
Rogge schmunzelte mitfühlend; den armen Jödel konnte er sich gut vorstellen, vor ihm ein drohend-unfreundlicher Grem, daneben neugierige Beamte. Doch Jödel war fest geblieben: ziemlich genau um 23.55 Uhr angehalten. Fünf, höchstens sechs Minuten später wieder abgefahren. Während dieser Zeit hatte kein anderer Wagen den Parkplatz angesteuert; er hatte niemanden bemerkt, ihm war nichts aufgefallen. Ja, in der Zeit waren einige Wagen auf der Autobahn vorbeigefahren. Nein, auf der Fahrt bis in die Stadt war ihm niemand gefolgt, er glaubte sich daran zu erinnern, dass er mehrfach überholt worden war, aber konnte sich nicht daran erinnern, dass ein bestimmtes Auto ihm über eine längere Strecke gefolgt sei.
Acht oder neun Minuten nach der Abfahrt hatte sie plötzlich zu sprechen begonnen: »Wer sind Sie?«
Vor Schreck hätte er beinahe das Lenkrad verrissen. Sie hatte den Kopf zu ihm gedreht und betrachtete ihn, als sähe sie ihn zum ersten Mal, nicht ängstlich oder entsetzt, sondern völlig verwirrt, erstaunt, als sei sie aus einem tiefen Schlaf aufgewacht und wisse nun überhaupt nicht, wo sie sich befinde.
»Ich heiße Arno Jödel«, antwortete er hastig.
Darauf blinzelte sie; seine Worte hatte sie gehört, auch verstanden, dessen war sich Jödel sicher, aber damit war für sie die Situation nicht erklärt.
»Und wer sind Sie?«, hatte er gefragt.
»Wer ich ...« Danach war sie verstummt und hatte wieder unbeweglich nach vorn geschaut. Die maskenhafte Starre war gewichen, jetzt sah sie völlig hilflos aus. Nach dreißig Sekunden sagte sie mit dünner Stimme: »Das weiß ich nicht.«
Jödel zweifelte, wie er zu Protokoll gab, keinen Moment daran, dass sie die Wahrheit sagte. Sie wusste nicht, wer sie war, er verstand zwar nicht, wie einem Menschen das passieren konnte, aber er war überzeugt, dass sie nicht log. Damit stand für ihn fest, was er tun musste.
»Ich bringe Sie zur Polizei«, erklärte er fest und nach einer Weile echote sie unsicher: »Zur Polizei, ja.«
Auch bei mehrmaligem Nachfassen beharrte Jödel darauf, dass sie danach keine Fragen mehr gestellt habe. Zwar sei sie jetzt voll bei Bewusstsein gewesen - oder aufgewacht, wie er es umschrieb —, aber sie wollte weder wissen, wo er sie aufgelesen hatte, noch, was mit ihrer Kleidung geschehen war.
Um 0.16 Uhr am 16. September erschien Jödel mit ihr im Autobahnpolizeiposten Terborn Nord.
Rogge lehnte sich zurück und gähnte. Ob Simon wirklich hoffte, mit diesen kümmerlichen Anhaltspunkten ließe sich der Fall jetzt noch, ziemlich genau zwölf Monate später, aufklären? Oder hatte Simon ihm nur eine Möglichkeit bieten wollen, sich für einige Zeit aus dem Routinebetrieb des Ersten Kommissariats zurückzuziehen, allein und unbeobachtet zu recherchieren, ohne ständig die heimlichen Blicke der Kollegen zu spüren, die sich besorgt oder auch hämisch fragten, ob Rogge es schaffte, sich wieder in die Mannschaft einzugliedern, ob er noch einmal über den Berg käme.
Mit der Schusswunde hatte er im Grunde sogar Glück gehabt. »Neun Millimeter Stahlmantel, mein Bester, die reinste Zimmerartillerie. Glatt rein, glatt durch, glatt raus.« Leinbusch verfügte über jenen speziellen Humor, den nur Arzte im langjährigen Dienst bei der Polizei erwarben, und auch Rogge hatte sich ein Grienen abgezwungen. »Gute Handwerker hier, Jens, die Schulter wird nicht steif bleiben, aber deine Karriere als Gewichtheber ist hiermit beendet.«
»Ich hatte schon auf Marathonlauf umgestellt. Was ist mit dem Jungen?«
»Vor zwei Tagen Exitus.« Sein Mitleid sparte sich Leinbusch für die unschuldigen Opfer auf. Eine Rumänenbande, fünf Männer, wenn man Jugendliche zwischen sechzehn und zweiundzwanzig überhaupt schon so bezeichnen durfte. Der Bruch in das Warenlager war hervorragend ausbaldowert, aber der Zufall machte ihnen einen Strich durch die Rechnung. Der Nachtwächter hatte einen Freund mit gebracht und deswegen missglückte der Überfall. Wächter und Freund konnten noch schießen, ein Einbrecher wurde tödlich getroffen, einer schwer verletzt, die drei anderen Täter verschanzten sich in den Büros. Rogge wollte weiteres Blutvergießen vermeiden. Der MEK-Einsatzleiter hatte ihn gewarnt: »Die sind schon tot, entweder legen wir sie hier um oder die Auftraggeber zu Hause, weil sie den Bruch verpatzt haben. In diesem Geschäft duldet man keine Zeugen.«
»Ich versuche trotzdem.«
»Mensch, Herr Rogge, die haben nichts mehr zu verlieren, die haben mit dem Leben abgeschlossen, was immer Sie denen versprechen.«
»Sorgen Sie bitte dafür, dass endlich der Dolmetscher kommt.«
Der Bullige hatte Recht behalten. Nach sechs Stunden waren zwei endlich mit erhobenen Händen herausgekommen, als plötzlich der dritte, jüngste an ihnen vorbeistürmte, direkt auf Rogge zu, die Pistole im Anschlag, das Gesicht zu einer Fratze aus Hass, Wut und Todesangst verzerrt, den Mund zu einem lautlosen Schrei aufgerissen. Zweimal konnte er noch schießen, bevor er unter dem Feuer der MEK-Leute zusammenbrach, und seine zweite Kugel durchschlug Rogges linke Schulter.
Verheilt war die Wunde wohl, aber manchmal zuckte ein stechender Schmerz durch seinen Arm und die linke Seite, der ihm die Tränen in die Augen trieb, und dahinter tauchte das Gesicht des Schützen auf, verzweifelt, hilflos, hoffnungslos, wie eine überscharfe Momentaufnahme. Auf Killen dressiert, hatten die Zeitungen geschrieben, vielleicht stimmte es sogar, aber den Dresseur hatten sie nicht ermittelt. Die beiden Überlebenden schwiegen immer noch eisern; sie hatten nicht einmal ihre Namen preisgegeben. Sickert, der im Landeskriminalamt die Einsätze gegen die Balkanbanden organisierte, hatte Rogge im Krankenhaus besucht: »Die werden auch keinen Ton sagen, Herr Rogge, Lieber lebenslänglich in einem deutschen Knast als nach Rumänien abgeschoben zu werden,«
»Womit müssten sie dort rechnen?«
»Wenn sie bis dahin keine Silbe aus geplaudert haben — eine schnelle Kugel. Wenn sie auch nur einen Namen genannt haben - tja ...« Er hob beide Hände. »Es gibt sehr unangenehme Methoden, diese Erde zu verlassen. Und an die Familienmitglieder möchte ich gar nicht denken.«
»Vermuten Sie das oder wissen Sie das?«
Sickert hatte unbehaglich gelächelt: »Ich weiß es, Herr Rogge. Aber ich werde Ihnen nicht verraten, woher.« Nach einer Pause hatte er widerwillig hinzugefügt: »Um Ihr Wohlwollen restlos zu verscherzen, will ich Ihnen gestehen, dass ich über Ihre Verletzung nicht unglücklich bin. Die MEK-Kollegen haben in Nothilfe geballert, das akzeptiert die Öffentlichkeit. Andernfalls würde es heißen, wir duldeten schießwütige Killer in unseren Reihen und so gefährlich und so brutal seien diese Banden doch gar nicht, das sei nur die Propaganda rechter Hardliner in der Polizei.«
»Und in der Politik«, hatte Rogge spöttisch ergänzt. »Ihre Fähigkeit, Trost zu spenden, überwältigt mich.«
»Dann hat sich mein Besuch ja gelohnt«, gab Sickert gemütlich zurück. »Übrigens schöne Grüße und gute Besserung auch von Peter Reineke.«
Nachdem Jödel geschildert hatte, wo und wie er die Frau aufgelesen hatte, informierte die Autobahnpolizei sofort die Kollegen in der Stadt. So heiße Kartoffeln schob man am besten gleich einen Teller weiter, zollte Rogge in Gedanken Beifall. Immerhin war die Routine angelaufen und - was immer man Grem vorwerfen konnte - er hatte nichts übersehen und nichts versäumt. Beim ersten Tageslicht hatten zwei Züge Bereitschaftspolizei das Gelände rings um den Parkplatz Feltenwiese abgesucht. Ohne Ergebnis, keine Spur von der fehlenden Oberbekleidung und den Schuhen der Frau. Und leider auch keine Spur von einer Handtasche mit Ausweispapieren.
Auch die ärztliche Untersuchung hatte ihnen nicht weitergeholfen. Die Frau war nicht vergewaltigt worden, es gab keine Anzeichen eines Notzucht-Versuchs, überhaupt keine Wunde oder Verletzung, die ihre Amnesie erklären konnte, nicht einmal Hämatome, die auf eine körperliche Auseinandersetzung hindeuten würden. Unter ihren Fingernägeln keine Hautpartikel, wie sie bei Abwehrreaktionen typisch waren. Eine Blutuntersuchung ergab eine Alkoholkonzentration von 0,6 Promille für den Zeitpunkt 1.00 Uhr am 16. September, aber sie konnte nicht sagen, wann und wo sie zuletzt etwas getrunken hatte. Auch nicht, ob und wann sie die Beruhigungspillen geschluckt hatte; die ermittelte Diazepam-Konzentration legte die Vermutung nahe, dass sie etwa 0,75 Milligramm sechs Stunden vor der Blutprobe eingenommen hatte. Ob und wie weit die Kombination von Alkohol und Valium die Amnesie ausgelöst haben konnte, blieb reine Spekulation, solange nichts über die Mengen und Umstände zu erfahren war. Ansonsten war die Frau organisch völlig gesund, Seh- und Hörstärke normal, ihre Zähne in einem beneidenswert guten Zustand.
Fingerabdrücke - nirgendwo registriert.
Der Abgleich der Vermisstenanzeigen mit den Merkmalen der Unbekannten füllte eine eigene Nebenakte. In zwei Fällen hatte Grem eine Gegenüberstellung arrangiert, beide Male negativ. Niemand schien die Frau zu vermissen.
Die zweite Nebenakte überflog Rogge nur. Wenn man alle gelehrten Spekulationen und unverständlichen Fachausdrücke wegließ, musste auch die Weißkittelriege bestätigen, was die Unbekannte plastisch so formuliert hatte: »Ich bin aufgewacht und saß neben einem netten Mann im Auto. Was früher war, ist ein graues Loch voller Nebel.« Grems Vermutung, sie sei eine hervorragende Simulantin, wollte kein Psychiater unterstützen, im Gegenteil, alle unterstrichen, dass sie ernsthaft mitarbeitete, um ihre wahre Identität herauszufinden. Doch selbst Hypnose führte keinen Schritt weiter und irgendwann im März musste Inge Weber, wie sie in den amtlichen Unterlagen jetzt genannt wurde - jeder Mensch brauchte einen Namen -, eine Krise durchlebt haben. An der Fixierung auf die vergeblichen Bemühungen, ihre Vergangenheit zu rekonstruieren, drohte sie zu verzweifeln. Scheinbar aus heiterem Himmel erklärte sie dem Psychologen, der Mensch sei nicht dazu geschaffen, immer den Kopf nach hinten zu drehen, sie wolle jetzt nach vorne schauen, irgendwas unternehmen, tun, arbeiten.
Als Grem davon erfuhr, blühte er auf: Das war’s, sie hatte Angst, man werde ihr auf die Schliche kommen; jetzt noch einmal kräftig durch den Fleischwolf gedreht und er konnte diesen verdammten Fall abschließen. Die Sachverständigen waren anderer Meinung oder, wie Rogge stirnrunzelnd las, verschiedener Meinungen mit annähernd demselben Ergebnis.
Ihren Versuch, die Identitätskrise aus eigener Kraft zu meistern, konnten sie nicht missbilligen, allerdings auch nicht uneingeschränkt gutheißen. Wie auch immer, seit April ging sie nur noch unregelmäßig zu einem Psychologen, der sich Grems pausenlose Anrufe zum Schluss verbeten hatte: Nein, sie simuliere nicht, das graue Loch existiere immer noch und der Herr Kriminalhauptkommissar möge sich gefälligst gedulden und sich in Zukunft aller beleidigenden Äußerungen enthalten.
Diese Abfuhr - Durchschlag: an den Polizeipräsidenten - hatte Grem keine Ruhe gelassen und deswegen enthielt die dünne Beiakte Sprengstoff: Grem hatte Inge Weber überwachen lassen. Ohne den Betreuer zu informieren, den das Vormundschaftsgericht bestellt hatte, und gegen die Anweisung Simons. Doch die Mühe hatte nicht gelohnt. Inge Weber war in eine kleine Wohnung in einem scheußlichen Hochhaus eingezogen, in der Wilhelmstraße, und arbeitete als Halbtagsverkäuferin in der Bäckerei und Konditorei Krone, Semperstraße 144. Diesen Job hatte ihr der Betreuer besorgt. Inge Weber lief sehr viel zu Fuß, schien sich ausgesprochen gern zu bewegen, besuchte Symphoniekonzerte und Museen. Die Nachbarn und Kolleginnen schilderten sie als offen, energisch, humorvoll und zuverlässig; aus ihrer ungewöhnlichen Lage machte sie kein Geheimnis: »Guten Tag, ich werde Inge Weber genannt, meinen wahren Namen weiß ich nicht, weil ich mein Gedächtnis verloren habe, aber Sie müssen sich nicht fürchten, ich bin nicht verrückt.«
Selbst Grem hatte zähneknirschend einsehen müssen, dass sie nichts verheimlichte. Nicht einmal die Tatsache, dass sie in der Bäckerei einen Mann kennen gelernt hatte, Achim Schönborn, mit dem sie seit Mai ein Verhältnis hatte.
Rogge trommelte einen Marsch auf den Schreibtisch. Der liebe Grem forderte mit seiner Art viele Menschen zu unerwarteten Reaktionen heraus!
In der letzten Nebenakte war der Papierkrieg um die Sendung XY ... ungelöst vom März abgeheftet. In seiner Begründung hatte Grem offen zugegeben, dass er eine positive Personenidentifizierung nicht mehr erhoffe; sie war jetzt sechs Monate verschwunden, hätte also längst vermisst werden müssen, wo immer und mit wem immer sie früher gelebt hatte. Aber da war die Unterwäsche, ein sehr teures, nicht weit verbreitetes Produkt, und da gab es die drei Schmuckstücke, die sie getragen hatte, als sie mit Arno Jödel bei der Polizei erschien: eine flache goldene Armbanduhr, eine doppelreihige Kette echter Perlen und einer Schließe mit zwei Diamanten und ein goldenes Armband, besetzt mit Smaragden. Zumindest die Schließe der Perlenkette und das Armband waren Einzelanfertigungen. Wenn sie die rechtmäßige Eigentümerin dieser Stücke war, konnte sie vor dem grauen Loch keine arme Frau gewesen sein.