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Das Ergebnis schenkte Rogge sich: nichts. Abgesehen davon, dass Grem seitdem in der Kantine häufiger angemosert wurde, wann er denn regelmäßig als Moderator im Fernsehen zu bewundern sei.
Und nun wollte Simon den Fall vom Tisch haben! Mit diesen Anhaltspunkten, Nachdem Rogge beträchtliche Löcher in die Luft gestarrt hatte, raffte er sich auf und rief ihren Polizeipsychiater an, im Hausjargon Bullentröster genannt.
Das Glück lächelte ihm, Sedelmann hob sofort ab: »Herr Rogge! Was kann ich für Sie tun?«
»Sie kennen den Fall Inge Weber?«
»Grems Waterloo? Ja, aus den Akten.«
»Dann müssten Sie mir eine Frage beantworten können. Die Frau saß in BH und Slip auf einer Bank. Ohne Schuhe. Es hatte zwar noch etwa zwanzig Grad Celsius, aber nach einiger Zeit muss sie doch zu frieren begonnen haben.«
»Richtig.«
»Hätte sie dann nicht aufwachen müssen?«
»Vorsicht, Herr Rogge. Ich ahne, worauf Sie hinauswollen. Es spricht viel dafür, dass die Kälte das Aufwachen ausgelöst hat, also die Reaktion, die sie in dem Auto dann erlebte. Aber an dem grauen Loch hätte das nichts geändert - aller Wahrscheinlichkeit nach nicht.«
Bloß nicht festlegen, dachte Rogge resigniert, »Gut, Nach der Aussage dieses Jödels, die wir alle für korrekt halten, ist sie aber erst in seinem Auto aufgewacht. Kann ich daraus den Schluss ziehen, dass sie noch nicht sehr lange auf dieser Parkplatzbank gesessen hatte, als Jödel sie auflas?«
»Ich weiß, dass meine Vorbehalte Sie ärgern, aber trotzdem: möglich, ja.«
»Wie lange hat sie da gehockt? Fünf Minuten? Zehn Minuten? Eine Stunde?«
»Tut mir Leid, auf das Eis lasse ich mich nicht locken.«
»Und warum nicht?«
»Herr Rogge, Sie gehen doch auch davon aus, dass sie irgendetwas erlebt hat, etwas Schreckliches, Ungewöhnliches, Fürchterliches, jedenfalls so schlimm für sie, dass ihr Verstand darauf mit Verweigerung reagiert hat. Mal laienhaft: Im Unterbewusstsein kann sie die Kälte gespürt haben, aber dieser Reiz muss nicht so groß gewesen sein, dass er die Blockade, die Hürde vor dem Bewusstsein, überwunden hat.«
»Schade.«
»Ja, tut mir Leid. Die Neuigkeit ist natürlich im Haus längst rum. Viel Glück, Herr Rogge.«
»Danke, das kann ich gebrauchen.«
Nach der Fernsehsendung hatte sich tatsächlich ein Autofahrer gemeldet, der am 15. September auf dem Parkplatz Feltenwiese gehalten hatte. Auf die Minute konnte oder wollte er sich nicht festlegen, gegen 23.20 Uhr war er eingebogen und ausgestiegen: Kniebeugen, Arme schwingen, etwas Hüpfen, ein paar Schritte hin- und herlaufen, eine Zigarette rauchen - Abfahrt gegen 23.35 Uhr. Auch zu der Zeit hatte kein Auto auf dem Parkplatz gestanden, dessen war er sich »ziemlich sicher«, also leider nicht hundertprozentig. Nein, er hatte keinen Menschen gesehen und eine Frau in Unterwäsche - nein, die wäre ihm doch bestimmt aufgefallen. Na schön. Laut Auskunft der Autobahnpolizei wurde die Feltenwiese selten angesteuert. Es gab keine Toiletten dort, kein Telefon, übrigens auch keine Beleuchtung, nur drei roh gezimmerte Holztische mit Bänken aus halben Baumstämmen; ein Fahrer würde sich gerade nachts überlegen, ob er nicht noch die vierzehn Kilometer bis zur Autobahnraststätte dranhängen sollte. Auch Jödel war nur abgebogen, weil er unbedingt musste.
Also mal angenommen: Der Zeuge hatte sich nicht geirrt, war um 23.35 Uhr wieder abgefahren. Zweite Annahme: In dem großen, dunklen Wagen, den Jödel um 23.55 Uhr beobachtet hatte, als der auf die rechte Spur zog, hatte vorher Inge Weber gesessen. Also konnte, was immer sich am 15. September abgespielt hatte, höchstens zwanzig Minuten gedauert haben.
Bevor er sich erneut über Simon aufregte, klingelte das Telefon: »Rogge, weißt du, wie spät es ist?«
»Sei gegrüßt, schöne Dörte«, sagte er ergeben.
»Von wegen gegrüßt! Wir waren zum Essen verabredet, vor einer Viertelstunde wolltest du mich abholen und jetzt nimmst du die Beine in die Hand, ich warte bei Renzler auf dich.«
Sie hatte bei Renzler einen der seltenen Zweiertische belegt und blitzte ihn finster an. Dörte von Sandau, ein Jahrzehnt jünger als Rogge, von Beruf Staatsanwältin, geschieden, seit einiger Zeit Rogges Nachbarin eine Etage tiefer, wartete nicht gerne, wie sie ihm mehr als einmal erklärt hatte. Obwohl er sonst nicht gerade begriffsstutzig war, hatte er lange gebraucht, bis er diese Sätze auf sich bezog.
»Lass dir was Überzeugendes einfallen!«, drohte sie und er schmunzelte.
Von dem Fall Inge Weber hatte sie gehört. »Und was will Simon von dir?«
»Dass ich herausfinde, wer sie ist.«
»Wieso du? Was hat die Mörderei mit Gedächtnisverlust zu tun?«
»Das musst du Simon fragen.« Rogge seufzte, weil sie die Stirn runzelte. »Ich glaube, er will mir einen Gefallen tun und mich aus dem Routinebetrieb rausziehen.«
»Verheizen.«
»Nein, das denke ich nicht, er weiß zu genau, wie verfahren die ganze Kiste ist.«
Dörtes skeptischem Blick hielt er stand. Sein Vertrauen in Simons Anständigkeit teilte sie nicht uneingeschränkt, sie war mit dem alten Fuchs mehr als einmal dienstlich zusammengerasselt, aber wenn Jens meinte, Karl Simon sei ein echter Freund, so wollte sie nicht widersprechen. Im vergangenen Dezember war sie seine Nachbarin geworden, ganz und gar nicht freiwillig, wie sie immer wieder betonte. Kurz zuvor hatten die Banken und die Gläubiger sich auf die Summe geeinigt, die sie zurückzahlen musste, nachdem der Ehemann haarscharf an einem Verfahren wegen Konkursbetrugs vorbeigeschlittert war. Da sie in Zuverlustgemeinschaft gelebt hatten, wie sie wütete, blieb ihr nichts anderes übrig, als die große Wohnung in einer alten Villa am Stadtpark aufzugeben und sich etwas Billigeres zu suchen. Rogge hatte von ihren Nöten gehört, und als er erfuhr, dass eine der Zweizimmerwohnungen in seinem Hochhaus frei werden sollte, informierte er sie. Notgedrungen griff sie zu, der Göttergatte Felix hatte sich seinen finanziellen Verpflichtungen durch Abtauchen entzogen, was die Gläubiger empörte, sie hingegen erleichterte, weil es kein Konto mehr gab, auf das sie den gerichtlich verfügten Unterhaltsausgleich überweisen musste. »Für den Scheißkerl auch noch löhnen? - Mit unserer Gesetzgebung stimmt was nicht.« Für einen lockeren Spruch war Dörte jederzeit gut, was den Umgang mit ihr angenehm erfreulich machte, ihre Karriere aber gewaltig hemmte. Und dann war sie die einzige Frau gewesen, die regelmäßig zu ihm ins Krankenhaus kam, meist in Eile, mit einer Unsentimentalität, die sogar die Schwestern erschreckte, immer voller Neuigkeiten und vor Optimismus platzend. »Ich mag Männer, die schwächer sind als ich«, erklärte sie fröhlich, aber als Rogge seinen linken Arm wieder gebrauchen konnte, das Argument also nicht mehr zutraf, meinte sie spöttisch, nun habe sie sich an ihn gewöhnt und er als Kriminalbeamter wisse ja, über welche Macht eine zornige Staatsanwältin verfüge.
»So, die Akten rufen nach mir.«
»Und ich werde eine schöne Bäckerin besuchen.«
»Pass auf, dass sie dich nicht mit Mehl einstäubt, und bring mir eine frische Baguette mit.«
»Zu Befehl!«
Die Semperstraße lag in einem Viertel, das vor der Erfindung der Betonplatten entstanden war, und die Bäckerei Krone befand sich in einem kleinen Einkaufszentrum. Es roch nach frischem Brot und warmem Gebäck, die drei Frauen hinter der Theke hatten gut zu tun, Rogge musste sich in eine kleine Schlange einreihen.
Inge Weber erkannte er nach den Bildern aus der Akte sofort. Zweite Hälfte dreißig, hundertfünfundsiebzig Zentimeter groß, knapp über sechzig Kilo, bestimmte Dinge registrierte er automatisch. Dunkelblonde lockige Haare, kurz geschnitten. Grüne Augen, hohe Wangenknochen, Stupsnase, breiter, voller Mund; ein schmales, ungewöhnliches Gesicht, das auffiel, das man nicht so leicht vergaß. Sie bewegte sich schnell und zielstrebig, Energie schien sie im Übermaß zu besitzen, aber sie lachte auch gerne und für jede Kundin hatte sie einen freundlichen Satz parat.
Langsam rückte er vor. Jetzt konnte er auch die Worte verstehen, die sie mit den Kundinnen wechselte. Sie biederte sich nicht an, dazu schien sie zu intelligent, und sie achtete bei aller verbindlichen Freundlichkeit doch auf Distanz. Das graue Loch hatte ihr Selbstbewusstsein erstaunlicherweise nicht beschädigt, dachte Rogge flüchtig, und nach der kurzen Zeit, die er sie beobachten konnte, war er sicher, dass sie früher privat und auch beruflich, was immer sie getan hatte, beliebt und erfolgreich gewesen war.
»Ja, bitte?«
»Ich hätte gerne eine frische Baguette und ein Pfund geschnittenes Graubrot.«
»Ja.« Als die Sachen auf der Glasplatte lagen, zückte er seinen Ausweis. »Außerdem möchte ich Sie gern sprechen, Frau Weber.«
Sie hob die Augenbrauen, las seinen Ausweis und stöhnte leise: »In einer Stunde habe ich frei. Können Sie so lange warten?«
»Kein Problem. Ich hole Sie ab, ja?«
»Bis dann, Herr Rogge.«
Mit etwas schlechtem Gewissen schlenderte er zu einem Geschäft auf der anderen Straßenseite. Kaufhäuser hasste er, die vielen Menschen, das Gewusel und die schlechte Luft stimmten ihn reizbar, aber neue Hemden brauchte er, daran führte kein Weg mehr vorbei; die Sandausche Freifrau drängte ihn, entweder zuzunehmen oder neue Anzüge zu kaufen. Im Krankenhaus und in dieser Folterwerkstatt von Reha hatte er fast fünfzehn Kilo verloren und darüber hinaus auch den Appetit. Schon vor dieser Schießerei war er mager gewesen, jetzt durfte er sich mit Fug und Recht als hager bezeichnen und Jacken und Hosen saßen großzügig, um nicht zu sagen: Sie schlotterten. Also neue Hemden und vielleicht ein, zwei Krawatten.
Das kurze Kleid stand Inge Weber gut, er lächelte anerkennend, was ihr nicht entging. Lange Beine, schmale Hüften, ein schöner Busen; im letzten Moment verbot er sich, ihre Maße zu schätzen und in seinem Gedächtnis zu speichern.
Während sie ihm die Hand gab, zerkaute sie ein Lächeln. »Wir kennen uns noch nicht.«
»Nein. Kollege Grembowski hat den Fall heute abgegeben.«
»Den Fall?«, spottete sie und schwang sich die Tragetasche über die Schulter. »Meinen Fall?«
Die Sonne tat des Guten fast zu viel, Inge Weber setzte eine sehr dunkle Sonnenbrille auf, was Rogge bedauerte, ihre lebhaften Augen verrieten viel.
»Sie sind eine Art Herausforderung für uns, Frau Weber.«
»Das hat Ihr Kollege immer anders, etwas gröber formuliert.«
»Kollege Grem neigt zu einer gewissen Direktheit«, stimmte er zu und lachte leise.
»Das ist sehr diplomatisch ausgedrückt, Herr Rogge. Darf ich fragen, was Sie im Präsidium machen?«
»Ich bin Leiter des Ersten Kommissariats.«
»Des Ersten - das ist doch die Mordkommission?«
»So heißen wir in den Krimis. Aber präzise definiert sind wir zuständig für Taten gegen Leib und Leben und die persönliche Freiheit.«
»Das heißt konkret was?«
»Wenn Sie zum Beispiel gewaltsam, gegen Ihren Willen, zu diesem Parkplatz gebracht worden wären, fiele das in meine Zuständigkeit.«
»So ist das!« Sie holte tief Luft: »Herr Rogge, ich wollte eigentlich zu meinem Gymnastikklub.«
»Mein Auto steht da drüben.«
»Nein, danke, ich brauche Bewegung und frische Luft. Hätten Sie was dagegen, mich dorthin zu begleiten? Es sind nur etwa zwanzig Minuten.«
»Gerne. Ich hocke sowieso zu viel am Schreibtisch.«
Leider verbarg die Sonnenbrille ihre Augen, sie drehte kurz den Kopf zu ihm und Rogge vermutete, dass sie ihn halb erstaunt, halb amüsiert betrachtete.
»Na denn.« Sie schlug ein beachtliches Tempo ein. Nach einer Weile gestand Inge Weber unvermittelt: »Mit diesem Herrn Grembowski bin ich nicht ausgekommen.«
»Ja, ich kann’s mir gut vorstellen, Grem hält Sie nämlich für eine Simulantin.«
»Und Sie? - Glauben Sie auch, ich spiele Theater?«
»Nein«, erwiderte er friedfertig.
»Gott sei Dank«, murmelte sie. »Aber Sie sind doch nicht vorbeigekommen, um mir das zu sagen?«
»Nein, ich wollte Sie einmal sehen, mir ein Bild von Ihnen machen.«
Das schien sie zu erheitern, aber sie antwortete nicht.
Mehrere Minuten liefen sie schweigend, sie bog in den Reschenpark ab und erkundigte sich ernsthaft: »Gehe ich zu schnell?«
»Nein, noch kann ich mithalten.«
»Dieses Stehen - ich hab hinterher das Gefühl, meine Beine sind doppelt so dick.«
»Können Sie sich zwischendurch nicht mal setzen?«
»Doch, natürlich, aber heute war wieder ein Betrieb, man ist gar nicht dazu gekommen.«
»Ja. Frau Weber, eine Frage hätte ich allerdings: Als Sie in Jödels Auto auf gewacht sind — wie haben Sie das alles betrachtet, das Auto, die Autobahn, dann die Polizei? Ist Ihnen das fremd vorgekommen? Oder vertraut?«
»Darauf sind die Psychiater auch herumgeritten. Nein. Ich war natürlich erstaunt und verwirrt, eine ganze Zeit auch ängstlich, aber nicht wegen der Gegenstände oder Personen, sondern wegen meiner Situation.«
»Sie sprechen ein völlig akzent- und dialektfreies Hochdeutsch.«
»Alle vermuten - oder gehen davon aus, dass ich auch vor meinem grauen Loch in Deutschland gelebt habe.«
Er nickte zufrieden. Auch Grem hatte in seiner persönlichen Beurteilung ihre schnelle Auffassungsgabe und Intelligenz hervorgehoben. Aber weil Grem sich in den Gedanken verrannt hatte, sie täusche den Gedächtnisverlust vor, war er nie auf die logische Alternative verfallen: Entweder schwieg Inge Weber über ihre Vergangenheit, weil ihr Gedächtnis tatsächlich blockiert war - oder sie schwieg, weil sie etwas zu verbergen hatte; in beiden Fällen durfte er von ihr keine Informationen erhoffen.
Der Reschenpark war nicht groß, zweihundert Meter lang, um die fünfzig breit, ein grüner Fleck in dem dicht bebauten Viertel. Am Ausgang Collinistraße hielt Inge Weber sich links, jetzt schlenderte sie sehr viel langsamer.
»Was werden Sie tun, Herr Rogge?«
»Das weiß ich noch nicht«, wich er aus. »Mit Leuten reden.«
»Verhaften Sie diese Psychiater!«
»Warum denn das?«
»Weil die mich wahnsinnig machen. Reden geschwollen daher, stehlen meine Zeit und produzieren nur warme Luft.«
»Vorsicht, Frau Weber, wenn das ein Haftgrund wäre, gäbe es viel Platz in der Stadt.«
»Nix dagegen!« Sie lachte fröhlich, blieb stehen und nahm die Brille ab. »Ich bin da. Es hat mich gefreut, Sie kennen zu lernen, Herr Rogge.«
»Ebenfalls, Frau Weber. Und viel Spaß bei der Gymnastik.«
Auf dem Rückweg zu seinem Auto setzte Rogge sich für eine Zigarettenlänge auf eine Bank im Park. Wenn Inge Weber heuchelte, hatte er es mit einer beachtlichen Gegnerin zu tun. Und dieser Spaziergang hatte nicht nur seiner Gesundheit genutzt, sondern ihm auch einen Anhaltspunkt gegeben: Sie war kräftig und energisch, keine Frau, die man rein durch Einschüchterung dazu bekam, ein Kleid und die Schuhe auszuziehen, brav in einem Auto sitzen zu bleiben und sich dann widerstandslos auf einem Parkplatz abladen zu lassen wie ein überflüssiges Möbelstück. Schön, vor der Mündung einer Pistole reduzierte sich jeder Mut, aber neben der körperlichen Kraft, eine Gegenwehr zu versuchen, verfügte sie auch über das nötige Temperament, um viel zu riskieren.
Auf der Rückfahrt ins Präsidium musste Rogge vor einer Ampel einmal hart auf die Bremse steigen, weil er das Umspringen auf Gelb verdöst hatte. Hinter ihm kreischten Reifen, instinktiv sah er in den Rückspiegel, es hatte gerade noch gereicht, aber zwischen beide Stoßstangen passte wahrscheinlich nur noch ein Blatt Papier. Entschuldigend hob er eine Hand, doch der Fahrer senkte rasch den Kopf, als wolle er verbergen, was er von dem Trottel vor ihm wirklich dachte.
»Blödmann!«, grummelte Rogge verärgert. Einer dieser unerträglich schönen Sonnenbrillentypen.
Den Rest der Strecke fuhr Rogge vorsichtiger, schaute häufiger in den Rückspiegel, aber er begann sich erst zu wundern, als er vom zweiten Ring in die Einbahnstraße abgebogen war und dieser Schönling immer noch hinter ihm hing. Wollte der was von ihm? Doch als er auf den Parkplatz des Präsidiums steuerte, gab der Knabe Gas und röhrte ganz knapp hinter seinem Heck vorbei. Es gab schon seltsame Geschöpfe auf Gottes weiter Welt!
Von den zehn Planstellen des Ersten Kommissariats waren drei nicht besetzt. Kollege Schubert lag nach einem Autounfall immer noch in der Klinik, der Trümmerbruch wollte einfach nicht verheilen. Nach der Versetzung der Kollegin Ackermann musste ihre Stelle im Zuge der Sparmaßnahmen sechs Monate frei bleiben. Für den Kollegen Henrich, der zu einem Lehrgang abgestellt war, gab es erst recht keinen Ersatz. Früher hatten zwei Frauen die Sekretariatsarbeiten im Dienstzimmer erledigt; seit dort der Computer Einzug gehalten hatte, war eine Stelle gestrichen worden. Es klemmte an allen Ecken und Kanten und die Schutzpolizei verlangte lautstark, mehr als bisher bei der Kripo zu sparen. Das immer schon wenig harmonische Verhältnis hatte einen bösen Knacks bekommen, nachdem das Tageblatt Anfang des Jahres ein von der Schutzpolizeiführung ausgearbeitetes Organisationskonzept veröffentlicht hatte. Danach sollten das Präsidium drastisch verkleinert und auf allen Revieren selbstständige Kriminalwachen eingerichtet werden. Uniform macht dumm und machtgeile Imperialisten hatte der Bund der Kriminalbeamten in seinem BdK-Verbandsorgan zurückgekeilt, was genau den falschen Auftakt für eine, wie Rogge fand, längst überfällige Reformdiskussion abgab. Im Moment wurde geschimpft, wann immer sich eine Gelegenheit dazu bot. Unmittelbar vor den Personalratswahlen hatte der BdK in einer Öffentlichkeitsaktion die ob der steigenden Kriminalität verunsicherten Bürger aufgefordert, Möbel und technisches Gerät für die völlig unzureichend ausgestattete und deshalb so erfolglose Schutzpolizei zu spenden; die Erfinder der Aktion rieben sich die Hände, es flössen tatsächlich Spenden, und die Schutzpolizeiführung, die zähneknirschend diese Wohltaten in Empfang nehmen musste, überlegte krampfhaft, wie sie diese Gemeinheit heimzahlen konnte. Seit einiger Zeit kursierten Memoranden und Unterschriftenlisten aller möglichen Gruppen im Präsidium und Rogge wollte nicht darauf wetten, dass seine Leute seine dienstliche Anweisung befolgten, sich aus diesem Zank herauszuhalten und keine Stellung zu beziehen. Natürlich war dieser Befehl längst im ganzen Haus bekannt und einte wahrscheinlich die Zerstrittenen wenigstens in einem Punkt, nämlich in ihrer Abneigung gegen den Leiter des Ersten K., der sich bis jetzt geweigert hatte, seine Meinung kundzutun. Grem gehörte zu den lautstarken Verteidigern der Kripo und reagierte wie der Stier auf das rote Tuch, wenn er nur die Wörter Gewerkschaft der Polizei hörte. Und er verfocht mit Grem’scher Sturheit die These, dass jeder gegen ihn sei, der sich nicht explizit für ihn aussprach.
Oberkommissar Hans Kirchbauer hatte alle zu der üblichen Abendbesprechung zusammengerufen. Obwohl Rogge sich hundertprozentig auf ihn verlassen konnte, war Rogge mit seinem Vertreter, der überall seine Ohren aufsperrte, das Gras wachsen hörte und jede Intrige im Voraus witterte, nie recht warm geworden. Das behinderte sie nicht im täglichen Geschäft, führte aber dazu, dass sie privaten Kontakt mieden.
Der Einzige, der diese Spannung nicht zu spüren schien, war Hauptmeister Kilian Haindl, ein schwarzlockiger Energie- und Temperamentsbolzen und umtriebiger Hansdampf in allen Gassen. Kili, wie er allgemein genannt wurde, hatte das große Los gezogen, bei einem steinreichen Onkel mietfrei in einem großzügigen Apartment zu wohnen und die gar nicht so alten Autos seines Onkels, wie er spottete, auftragen zu können. Geldsorgen kannte er folglich nicht, notfalls half der liebe Onkel aus, der immer noch hoffte, Kili würde eines Tages sein Geschäft übernehmen. So konzentrierte sich der Herzensbrecher in erster Linie auf Frauen, dann auf seine Computer und zum Schluss auf seinen Beruf. Rogge schätzte Kilis Intelligenz und Fantasie, bemängelte aber dessen Bereitschaft, fünf auch einmal gerade sein zu lassen.
Wie immer hatte es Kili geschafft, sich neben die Kollegin Petra Steiniger zu drängen, die ihn mit permanenter Missachtung strafte und seine täglichen Annäherungsversuche hoheitsvoll abprallen ließ, weshalb Kili sie gerne Petra Peiniger nannte. Dann allerdings startete die große Obermeisterin sofort unter die Decke. Sie war wirklich eine schöne Frau, was Kili automatisch herausforderte, und besaß einen dicken Kopf, was Kili einfach nicht wahrhaben wollte.
Dagegen gab die schüchterne Erika Scholz zu erkennen, dass sie für Kili viel übrig hatte, sehr zum Ärger ihres Kollegen Peter Dingeldey, der sich vergeblich um Erika bemühte. Obermeister Dingeldey kultivierte im Übermaß, was Kili Haindl abging, Gründlichkeit und eine schwerblütige Langsamkeit, die den Umgang mit ihm nicht eben erleichterten.
Kommissar Achim Born war der scharfe Hund des Ersten, klein, drahtig und ungeduldig. Mit Bello Born arbeitete niemand gern zusammen, weil Born verlangte, dass sich alles nach ihm richtete. Bei Kili zog er damit regelmäßig den Kürzeren, mit Dingeldey brachte er nicht die nötige Geduld auf und sein bevorzugter Partner Schubert, den ein gesundes Phlegma vor allen Aufregungen schützte, faulenzte im Krankenhaus, wie Born regelmäßig schimpfte. Permanenter Krieg herrschte zwischen Born und Hertha Wassmuth, ihrer Dienstzimmerkommandantin, die in dreißig Jahren so viele Kommissare hatte kommen und gehen sehen, dass der Grauhaarigen niemand mehr imponierte, geschweige denn Furcht einjagte. Tüchtig und zuverlässig war sie, das erkannten alle an, und Rogge schmunzelte oft bei dem Gedanken, sie habe von allen Kollegen am besten gelernt, sich durch Bärbeißigkeit unnütze Arbeit vom Halse zu halten. Anerkanntermaßen kochte sie den besten Kommissariatskaffee des Präsidiums und ihre Technik, für die Kaffeekasse zu sammeln, streifte oft den Tatbestand der Nötigung.
Die laufenden Fälle waren schnell besprochen, man konnte über Kirchbauer denken, was man wollte, sein Geschäft verstand er und Rogge saß deshalb schweigend auf der Fensterbank und hörte nur mit halbem Ohr zu, bis Kili ihn direkt anflachste: »Im Hause schleicht das Gerücht umher, du würdest den Leibwächter für eine schöne Frau spielen.«
»Simon hat mir diese Inge Weber aufs Auge gedrückt.«
»Ach nee! Will er Grem eins überbraten?«
»Möglich.«
»Was ist denn mit der Weber wirklich los? Simuliert sie?«
»Nein, das glaube ich nicht.« Dabei schüttelte Rogge unmerklich den Kopf, damit Kili seine nächste Frage verschluckte, die ihm auf der Zunge lag. »Ich habe auch schon eine Idee und werde in den nächsten Tagen was nachprüfen.«
»Das hört sich an, als würdest du dich ausklinken,«
»Ja, das habe ich vor. Im Augenblick braucht ihr mich nicht und für den Fall, dass es eng wird, hinterlasse ich bei Hertha, wo ihr mich finden könnt.«
Kili wollte noch etwas sagen, aber Rogge blinzelte ihm zu und sein Adlatus kapierte, drehte sich zu Petra um und schmeichelte: »Was meinst du - haben wir auch eine Idee, die wir mal überprüfen müssen?«
Dingeldey knurrte, Erika Scholz seufzte und Petra kicherte: »Sicher, Kili, du könntest mein Auto waschen.«
»Das ist keine Idee, das ist eine Schnapsidee.«
»Du weißt doch, dass ich nur Wein trinke.«
»Wein trinken und Wasser predigen!« Kili schüttelte empört den Kopf, von Borns finsterer Miene nicht die Spur beeindruckt. Eines Tages würden die beiden gewaltig zusammenrasseln, Kili hielt Bello für einen aufgeblasenen Westentaschendiktator und Born hasste die Unabhängigkeit eines Mannes, der auf jede Hierarchie pfiff.
»Okay, das war’s dann, einen schönen Abend noch.« Wie immer hatte Kirchbauer genau zum richtigen Zeitpunkt eingegriffen, aber Rogge überlegte auf dem Weg in sein Zimmer, warum ihm diese Fähigkeit seines Stellvertreters so unsympathisch war.
Simon saß noch an seinem Schreibtisch: »Klar, kommen Sie hoch.«
Das Gespräch verlief nicht so, wie Rogge sich das vorgestellt hatte, Simon weigerte sich, seine Entscheidung anders oder ausführlicher zu begründen als heute Vormittag.