- -
- 100%
- +
Direkt ins Haus, damit war sein Auftrag erfüllt. Fünf Minuten gab er sich noch, sie erschien nicht wieder, alles in Ordnung, deshalb schlenderte er zur Bushaltestelle zurück. Fünfzehn Minuten musste er warten, er rauchte ungeduldig, bis der Bus endlich kam.
Als Gellmann einstieg, hätte er sich fast verraten: Auf ihrem alten Platz saß die Gelbe und warf ihm einen gleichgültigen Blick zu. Das gab’s doch nicht! Wer kutschierte denn spätabends zum Vergnügen mit einem Bus bis zur Endhaltestelle und wieder zurück?
Bis zum Lannerplatz grübelte er über ihr seltsames Verhalten nach. Ihre Beschreibung hatte er längst in seinem Kopf gespeichert und normalerweise würde er sie jetzt laufen lassen oder an der nächsten Telefonzelle oder - wenn es nicht auffiel - per Handy Hilfe holen. Aber heute war kein normaler Abend, die Krawatte drückte und würgte, in den ungewohnten Schuhen wuchsen Hühneraugen, Haydn und Mozart plus Brahms hatten ihn auf neunundneunzig getrieben.
Auf dem Lannerplatz ließ Gellmann ihr einen gehörigen Vorsprung. Die Gelbe marschierte zielstrebig auf eine Bar zu, der Namenszug Zur lustigen Witwe blinkte in diskretem Grün und Gellmann sinnierte einen Moment, wo er diesen Begriff schon einmal gehört hatte. Nein, sie wollte doch nicht in die Bar, im letzten Moment bog sie ab und tauchte in der dunklen Meitzergasse unter. Jetzt beschleunigte er, war aber vorsichtig genug, nicht direkt in den schwarzen Gang zu stürmen, sondern erst einmal den Kopf um die Ecke zu stecken. Ja, da lief sie, hatte fast das Ende erreicht, vor dem Licht vom Neumarkt gut zu erkennen.
Angst schien sie nicht zu haben, dachte Gellmann anerkennend, dieser finstere Schlauch zwischen den hohen Häusern konnte das Fürchten lehren ...
Für den Bruchteil einer Sekunde ahnte er noch die Gestalt, die auf ihn zuschnellte, dann explodierte sein Kopf.
Unter Gellmanns Schädeldach dröhnten schwere Schmiedehämmer, vor seiner Nasenspitze flirrten Sterne und er krümmte sich, um der Übelkeit zu entgehen. Als er mit einer Hand umhertastete, fühlte er raue, bucklige Steine - er lag auf dem Boden. In einer Einfahrt. Zwischen zwei fensterlosen Mauern. Jemand hatte ihn niedergeschlagen - die Gelbe, er war ihr in eine dunkle Gasse gefolgt ... Über Gellmanns linkem Ohr brannte es wie Feuer, mit den Fingerspitzen berührte er die Schwellung und jaulte vor Schmerzen auf.
Zwei Minuten später schaffte er es, aufzustehen und einen Fuß vor den anderen zu setzen, taumelnd wie ein Betrunkener. Nach Atem ringend lehnte Gellmann sich an eine Wand und verschnaufte, bis diese üble Schaukelbewegung aufgehört hatte. Erst danach kam er auf die Idee, in seinen Taschen nachzusehen. Es fehlte nichts, soweit er feststellen konnte. Als er sich umzog, hatte er Ausweise und Papiere in seinem Anorak zurückgelassen.
Gellmann war kein Held und auch kein Dummkopf. Während er Richtung Pension schlich, ordnete er seine wirren Gedanken zu einer unerfreulichen Alternative. Entweder war er in eine Falle gelaufen, die Gelbe hatte ihn erkannt und in die Gasse gelockt, wo ein Komplize ihn abfing. Wenn er das dem Chef beichtete, riskierte er einen wüsten Rüffel wegen seiner Unvorsichtigkeit und Eigenmächtigkeit. Falls der Überfall nichts mit der Gelben zu tun hatte, musste er Weinert erklären, was ihn um diese Zeit in die Meitzergasse geführt hatte.
In beiden Fällen bekam er Ärger und deshalb beschloss Gellmann, überhaupt nichts zu melden.
Die Frau in Gelb hatte sich schon ausgezogen, als der elegant gekleidete Mann die Zimmertür aufschloss. Sein Blick war wie immer starr, als besäße er Glasaugen, und wenn sie ehrlich war - sie fürchtete sich vor ihm, obwohl sie mit ihm schlief.
»Nichts«, sagte der Mann und warf seine Jacke auf den Boden.
»Keine Papiere? Ausweise?«
Unter seinem Blick überlief sie eine Gänsehaut.
War die dumme Kuh taub? Er hatte doch gesagt: Nichts. Und nichts war nichts. Seine Hose glitt zu Boden und sie sah, dass er wie jeden Abend eine gewaltige Erektion hatte.
Als sie in der Nacht aufwachte, wagte sie nicht, sich zu rühren. Neben ihr atmete er ganz flach, als lauerte er im Halbschlaf auf das geringste Geräusch, um sofort wie eine ausgehungerte Schlange zuzustoßen. Keine Papiere, aber sie zweifelte schon lange nicht mehr, dass die anderen sie entdeckt hatten. Warum griffen sie nicht zu? Was planten sie? Auf was hatte sie sich da eingelassen? Wenn es dunkel, kalt und still wurde, fraß die Angst sie von innen auf. Sie hatte mehr als einmal andere Opfer gejagt, aber war noch nie gejagt worden. Nun erst begriff sie, was Angst im Nacken bedeutete.
Donnerstag, 14. September
Trotz der zehn Stunden Schlaf zwickten die Waden und die steifen Gelenke knackten. Nach dem Frühstück spazierte Rogge deshalb gen Osten, bog in die Brückenstraße ab und stieß auf den Weg, der am Stockbach entlangführte. Die Wanderwege waren gut markiert, ein rühriger Fremdenverkehrsverein hatte für Bänke und Hinweistafeln gesorgt und der ursprünglich vollständig eingefasste, kanalisierte Bach war an vielen Stellen schon wieder von seinem Betonkorsett befreit, bildete Kurven und kleine Seitenarme, an denen Weiden wuchsen.
Bis Herlingen brauchte der Hauptkommissar zwei Stunden, die Steifheit war gewichen, dafür spannte seine Gesichtshaut. Urlaub hatte er in diesem Jahr noch nicht gehabt, das Reha-Sanatorium zählte nicht, etwas Sonne schadete nicht. In Herlingen war heute kein Markt, Rogge schlenderte über den leeren Platz, der an zwei Seiten mit Arkaden umgeben war, bewunderte Fassaden, studierte Schaufenster und prallte mit einer jungen Frau zusammen, die aus einem Geschäft raste.
»Entschuldigung ...« - »Keine Ursache.« - »Herr Rogge!« Gertruds Miene wechselte von Zerknirschung zu echter Freude. »Wie geht es Ihnen?«
»Danke, gut, Frau ...?«
»Leiwen. Aber sagen Sie ruhig Gertrud, das tun alle.«
»Wenn Sie erlauben ...«
»Tue ich!« Sie schien sich ehrlich über das Treffen zu freuen. »Wollen Sie einkaufen?«
»Brauchen tu ich nichts«, erwiderte er seufzend.
»Kenn ich, auf dem Rückflug platzt der Koffer und zu Hause schmeiße ich die Hälfte der teuren Souvenirs weg.«
»Aber wann komme ich schon mal dazu, einen Ladenbummel zu machen.«
»Was machen Sie denn, beruflich, meine ich?«
»Ich bin Kriminalbeamter«, antwortete er sehr beiläufig, gespannt, wie sie reagieren würde.
Der Schuss traf ins Schwarze: »Waaas?«, staunte sie. »So wie im Fernsehen?«
»Wir müssen mehr am Schreibtisch arbeiten«, wehrte er ab.
»Das ist ja 'nen Ding!« Sie hatte sich noch nicht erholt. »Die Männer hier aus dem Revier kenn ich ja, aber mit einem richtigen Kriminaler hab ich noch nie gesprochen.«
»Normalerweise beißen wir nicht.«
»So sehen Sie auch gar nicht aus«, lachte sie aus vollem Hals.
Nein, Gertrud war weder beunruhigt noch hatte sie Angst, und wie er sie einschätzte, würde sie die Neuigkeit sofort verbreiten. Deshalb riskierte er es: »Aber Sie können einem neugierigen Bullen eine Frage beantworten.«
»Wenn ich kann ...«
»Diese dunkelhaarige Schönheit mit den schwarzen Augen, die morgens bedient ...«
»Das ist die Chefin.« Unwillkürlich hatte Gertrud die Stimme gesenkt, und weil er ungläubig die Stirn runzelte, rückte sie ein Stück näher und flüsterte: »Man soll’s gar nicht glauben, dass die den Olli geheiratet hat.«
»Olli ist der Wirt?«
»Der Chef, ja. Und ob das so gut geht mit den beiden ... Na ja, wie man sich bettet, so liegt man, nicht wahr? Und jetzt muss ich weiter. Tschüss.«
Amüsiert sah ihr Rogge nach, Gertrud hatte irgendwann verlernt, langsam zu gehen, sie stürmte davon, als würde sie sonst vor Energie platzen. Doch sie kam nicht weit, ein Mann mit weiten, flatternden Hosen und einem unförmigen knielangen Umhang überquerte den Marktplatz und kreuzte ihren Kurs. Gertrud blieb stehen, der Mann redete sie an und Gertrud antwortete. Leider war sie schon zu weit weg, dass Rogge ihr Gesicht erkennen konnte, er kaute auf seinen Lippen, Gertruds Haltung verriet mehr Unbehagen als Höflichkeit. Als der Mann eine Hand nach ihr ausstreckte, wich sie zurück, rief noch etwas und raste davon. Der Mann kehrte Rogge den Rücken zu, blieb noch einen Moment stehen und schaute Gertrud nach, schlurfte dann sehr viel langsamer weiter und verschwand in einem Durchgang. Nein, kein Mann, das war eine Frau, nach den Bewegungen zu urteilen. Mit der Sympathie war das so eine Sache, dachte Rogge, wenn der eine zu viel und der andere gar keine aufbrachte.
Auf dem Rückweg machte Rogge einen kleinen Abstecher in den Stockauer Supermarkt. An einer Kasse saß die junge Frau, die von dem Quartett mit so anzüglich-beifälligem Gelächter begrüßt worden war, als sie den Bären betrat.
Bis neunzehn Uhr war keiner aus dem Quartett im Bären erschienen. Rogge überlegte, dass er eigentlich noch keine Lust hatte, sich schon auf sein Zimmer zu verziehen. Ein weiterer kleiner Spaziergang schien angesagt und deshalb holte er sich aus seinem Zimmer den Feldstecher und bummelte über die Feltenwiese den Hang Richtung Autobahnparkplatz hoch. Für Mitte September war es einfach zu warm und im Tal staute sich die Hitze regelrecht. Außer ihm schien kein Mensch unterwegs. Als er den Buschsaum erreichte, hörte er wieder deutlich die Autobahn und empfand sie nach der Stille unten als störend lärmig.
Rogge wusste selbst nicht, was er hier wollte oder erwartete. Natürlich war es ein idealer Ort, um eine Frau loszuwerden, aus welchen Gründen auch immer, aber warum hatte Inge Weber sich das ohne Gegenwehr gefallen lassen? Wann hatte sich das graue Loch aufgetan? Nachdem sie aus dem Auto geschoben, geschubst, gezerrt, gestoßen worden war? Oder war ihr Gedächtnisverlust der Grund dafür gewesen, dass sich der Fahrer dieser Frau entledigt hatte?
Rogge saß auf einer der unbequemen Bänke des Parkplatzes, rauchte und sinnierte. Nach einer halben Stunde kehrte er um.
Vor der Einmündung des Wirtschaftsweges in die asphaltierte Straße beobachtete er ein Pärchen, das die Straße entlangging und miteinander zu streiten schien. Den jungen Mann erkannte er sofort an seinem Nackenzopf wieder, auch die junge Frau kam ihm bekannt vor, aber erst als sie zufällig den Kopf in seine Richtung drehte, schaltete er: Das war die junge Frau, die am Dienstag nach ihrer Begleiterin den Bären betreten und von dem Kraftmeier-Quartett so hämisch begrüßt worden war. Die beiden bemerkten den Kommissar nicht, ganz in ihre Auseinandersetzung vertieft, und Rogge blieb stehen, bis sie außer Sicht waren.
Im Bären hockte sich Rogge auf seinen alten Platz und Gertrud brauste sofort heran: »Na, noch Durst, Herr Rogge?«
»Aber immer.«
Olli, der Wirt, gähnte. Er hatte seine Lieblingshaltung eingenommen, eine Hand auf den Tresen gestützt, mit der anderen ewig beschäftigt, sich über den Kopf zu streichen, und dabei studierte er eine Zeitung. Rogge hatte er nur einen flüchtigen Blick gegönnt, sein Vorrat an Freundlichkeit schien limitiert.
»So, Ihr Bier.«
»Danke, Gertrud.«
Sie hatte Lust auf ein Schwätzchen und blieb stehen. »Wie war der Abendspaziergang?«
»Angenehm. Ich bin über die Wiese zum Parkplatz hochgelaufen.«
Sie nickte.
»Von der Wiese aus kommt man ja direkt zur Autobahn«, heuchelte er und wieder nickte sie rasch: »Ja, der Parkplatz heißt Feltenwiese, wie die Wiese.«
»Wenn ich heimfahre, spare ich mir den Umweg über Dreschbach.«
»Das tun einige«, stimmte sie nervös zu und sah sich nach dem Wirt um, den es vor Gähnen zu zerreißen schien. »Dann mal zum Wohl.«
Mit ausdrucksloser Miene sah Rogge Gertrud nach. Man absolvierte nicht fünfundzwanzig Jahre Dienst bei der Kripo, ohne zu merken, wann ein Zeuge mit sich rang, ob er lieber schweigen oder reden sollte. Drängeln nutzte dann gar nichts, da half nur Geduld und davon besaß er mehr als genug, auch für Gertrud.
Zwei Männer brachen auf, als Rogge sein erstes Glas geleert hatte. Selbst der Wirt quälte sich ein unverständliches Brummen ab und Gertrud rief fröhlich: »Gute Nacht, Herr Doktor. Gute Nacht, Herr Wilhelms.«
Kurz danach zahlten auch zwei andere Gäste, offenbar ein Ehepaar, das so aussah, als gehöre es nicht zu den Dorfbewohnern. Rogge zögerte, und als Gertrud in seine Nähe kam, fragte er halblaut: »Wollen Sie schließen?«
»Nein, nein, bleiben Sie ruhig. Noch ein Bier?«
»Ich möchte nicht, dass Sie nur meinetwegen ...«
»Aber nein.« Zum Tresen rief sie: »Noch ein Bier.«
Olli rülpste, schüttelte den Kopf und faltete die Zeitung zusammen; kaum war Olli verschwunden, erschien die schwarzhaarige Schönheit und nahm seine Stelle ein, sie brachte immer noch das Kunststück fertig, keinen Menschen direkt anzusehen. Gertrud störte es nicht, Rogge gewann sogar den Eindruck, dass sich die beiden Frauen gut verstanden, und die Gäste riefen nur halblaut: »Hei, Angi« oder »’n Abend«.
Erst jetzt bemerkte Rogge den Großen, der rechts an der Wand saß, offenbar auf den Stammplätzen der jungen Dorfwilden. Zwar drehte der sofort den Kopf zur Seite, aber Rogge hatte den gehässigen Ausdruck mitbekommen, und danach beobachtete er unauffällig, wie der Hinkende Gertrud mit den Blicken verschlang und jedes Mal, wenn sie zu ihm an den Tisch kam, vergeblich versuchte, sie in ein Gespräch zu verwickeln. So nett sie war, es steckte doch ein kleines Biest in ihr, denn sobald sie ihn kurz und schnippisch abgefertigt hatte, tänzelte sie hüftschwenkend davon. Du meine Güte, da zappelte einer aber gewaltig an einem Haken. Die Wut, die der Große nicht verbergen konnte, wenn er ihr nachblickte, alarmierte Rogge.
Gut eine Stunde später erschien Olli und löste seine Frau wieder ab. Sie wollte noch etwas sagen oder fragen, aber er winkte so herrisch ab, dass sie furchtsam von ihm abließ und verschwand. Olli goss sich einen fünffachen Schnaps ein, den er in einem Zug kippte. Den anschließenden Durst löschte er mit so viel Bier, dass Rogge der Nachruf auf viele Wirte einfiel: Er war sein bester Kunde. Auch Gertrud zeigte sich besorgt, aber noch zapfte Olli wie ein Automat. Wenn er so weitersoff, musste er in zwei Stunden umkippen wie ein nasser Sack.
Der letzte Rogge bekannte Gast kam kurz nach zehn, die junge, stark angemalte Frau aus dem Supermarkt. Der Hinkende verzog das Gesicht zu einer verächtlichen Grimasse, was ihr nicht entging, sie blieb stehen, stützte beide Hände auf den Tisch und beugte sich vor, um ihm etwas zuzuflüstern. Eine Liebeserklärung war es sicherlich nicht. Denn als sie sich aufrichtete und zum Tresen ging, glühte ihr Gesicht vor Zorn hochrot. Olli beachtete sie nicht und der Hinkende schnitt eine Fratze, als plagten ihn Zahnschmerzen.
Mit einem flüchtigen Winken verschwand der Wirt durch die Tür, die zur Küche und den Privaträumen führte, Gertrud füllte das Glas auf, schaltete im hinteren Teil das Licht aus und kam dann so langsam auf Rogge zu, dass er ein leises Lächeln nicht unterdrücken konnte. Gertrud die Eilige hatte etwas auf dem Herzen und deshalb fragte er sie freundlich: »Wollen Sie sich einen Moment zu mir setzen?«
»Darf ich? - Ja, gerne.«
Ihre Verlegenheit war jetzt mit Händen zu greifen. »Sie möchten mir etwas sagen, nicht wahr?«
»Woher wissen Sie das?«
»Es ist mein Beruf, Gertrud.«
»Ja, sicher ... weil Sie mir in Herlingen ...« Sie verhaspelte sich, schluckte und nahm allen Mut zusammen: »Sind Sie — sind Sie - wegen Monika hier?«
»Wegen Monika? - Nein, ich kenne keine Monika.«
Er sah, wie sie sich entspannte und anzulehnen wagte. Offensichtlich war ihr ein Stein vom Herzen gefallen.
»Wer ist denn diese Monika?«
»Eine Freundin«, erwiderte sie schnell.
»Wohnt sie hier in Stockau?«
»Ja. Sie ist Arzthelferin.«
»Ach, und dann war dieser Doktor, der eben gegangen ist, der Arzt?«
»Fuhrmann heißt er, ja.«
»Wollen Sie mir erzählen, was mit Monika los ist?«
Obwohl Rogge ganz neutral gefragt hat, schaute sie ihn unruhig an. Noch hatte sie sich nicht entschieden. Er bot ihr eine Zigarette an, die sie ungeschickt nahm, gab ihr Feuer und wappnete sich mit Geduld.
»Es hat - es hat - mit der Feltenwiese zu tun.«
Wenn Kili sich über Rogge geärgert hatte, was häufig geschah, giftete er herum, der Chef müsse Weltmeister im Angeln werden; niemand könne so lange so regungslos sitzen wie Rogge, bis der misstrauischste Fisch auf den Köder beiße. Während Kili solche Sottisen verbreitete, zappelte er vor Ungeduld und Rogge konterte gelegentlich gemütlich, auch Kilis Technik sei nicht zu verachten; er mache jeden Verdächtigen so nervös, dass der nur gestehe, um von Kilis Gegenwart befreit zu werden.
Auch Gertrud konnte Rogges Schweigen nicht länger ertragen, sie holte schließlich tief Luft: »Monika ist - man hat - sie ist belästigt - man hat sie vergewaltigt.«
»Ja«, sagte er neutral. »Weiß man, wer’s getan hat?«
»Nein«, antwortete sie hastig und Rogge ließ sich nicht anmerken, dass er ihre Lüge durchschaut hatte.
»Und wo ist das passiert?«
»Auf der Feltenwiese.«
Rogge lächelte insgeheim. Ein Kriminalbeamter, der sich in Stockau einquartierte, wo abends die Straßen hochgeklappt wurden, und dann zur Feltenwiese spazierte. Kein Wunder, dass sie kombiniert hatte.
»Da oben passiert viel«, fuhr sie plötzlich fort, als wollte sie von dem Namen Monika ablenken.
»Wie meinen Sie das?«
»Da prügeln sich Männer. Und manchmal parken da ganz komische Kerle. Aus dem Dorf geht abends keiner gern da rauf.«
»Ja, ich verstehe.«
»Aber Sie dürfen Monika nicht sagen, dass ich Ihnen das verraten habe, das mit - mit ...«
»Nein, keine Sorge, Gertrud.«
»Sie will nämlich nicht .,.« Die Röte schoss ihr ins Gesicht, als sie abbrach.
»Versprochen ist versprochen.«
»Danke!«, flüsterte sie erleichtert. Wahrscheinlich hatte Gertrud Erfahrung mit Männern, doch ihr Äußeres und ihr lebhaftes Auftreten täuschten über ihre Naivität hinweg, erwachsen war sie noch nicht.
Unwillkürlich fragte Rogge: »Wie alt sind Sie, Gertrud?«
»Zweiundzwanzig.«
»Ein Jahr jünger als meine Tochter«, zwinkerte er ihr zu und damit verblüffte er sie so sehr, dass sie die Feltenwiese vergaß.
VII.
Von der Weser her wehte es scheußlich kalt herauf, obwohl keine Wolke am hellblauen Himmel zu sehen war. Die vier Männer auf dem Kai drängten sich enger zusammen, um den Wind abzuwehren, der durch ihre zu dünnen Mäntel blies. Die beiden großen waren unzweifelhaft Brüder, bei flüchtigem Hinschauen konnte man sie glatt verwechseln. Der einzige Uniformierte hob das Sprechfunkgerät an den Mund: »Alles auf Position?«
»Alles klar!«, schnarrte es zurück.
Der kleine Frachter glitt im Zeitlupentempo auf die Mauer zu. Breite Rostbahnen an der Seite und ein notdürftig festgelaschter Baum zeugten davon, dass die Kolotai ihre beste Zeit hinter sich hatte und die Reederei an Reparatur und Unterhalt sparte. An der Reling lehnten mehrere Männer, andere liefen nach achtern und zum Bug, um die Leinen klarzumachen. Hinter dem Schlepper quirlte es jetzt gewaltig auf, die Trosse spannte sich und die Kolotai wurde noch langsamer.
Gönter saß auf dem anderen Ufer in einem Auto und beobachtete das Anlegemanöver im Fernglas. Ein Seelenverkäufer, dachte er traurig. Es war schon arg, was da unter der russischen Flagge herumschipperte, manchmal nur durch Farbe und Hoffnung zusammengehalten. Jede Wette, dass so ziemlich jede Sicherheitseinrichtung marode war, aber er hatte durchgesetzt, dass niemand an Bord ging, um zu kontrollieren.
Die vier Männer warteten immer noch, traten manchmal von einem Fuß auf den anderen, um sich aufzuwärmen. Kreutzer hatte jetzt auch, ein Glas an den Augen und grunzte zufrieden vor sich hin: »Deckladung. Hinter der ersten Luke, wie gemeldet.«
Die Leinen flogen, das Schiff kam zur Ruhe, die Gangway wurde ausgeschwenkt. Hinter dem Heck bewegte sich ein Gittergerüst, der Kran rollte schon heran. Zwei Männer bogen um die Ecke eines Schuppens und marschierten zügig auf die Gangway zu, als wollten sie unbedingt die Ersten sein, die an Bord gingen. Die Brüder drehten sich ein wenig, einer hielt eine Videokamera in der Hand, die er auf der Schulter des anderen abstützte, der ihm zugleich Deckung bot. Die beiden Eiligen achteten nicht auf die Vierergruppe. An Deck erschien ein Trumm von Mann, zwei Meter groß und fast genauso breit, mit einem riesigen Vollbart, der dringend nach Kamm und Schere verlangte. Er winkte den an Bord Kommenden zu, schüttelte dem vorderen begeistert die Hand, als wolle er ihm den Arm ausreißen, und umarmte ihn dann. Den zweiten Mann begrüßte er weniger stürmisch. Danach verschwanden die drei Männer.
»Also dann!«
Die vier Männer setzten sich in Bewegung; auf dem anderen Ufer legte Gönter das Glas zur Seite und ließ den Motor an. Jetzt dauerte es noch knapp eine Stunde, bis die Formalitäten erledigt waren und die ersten Ladungsstücke an Land gehievt wurden. Frühestens am Nachmittag würden der Ladungskontrolleur und die Zöllner die Kisten öffnen können; sie wussten, wo sie suchen mussten, und hatten sich heute Morgen noch einmal die Dias angesehen, um sich alle Einzelteile einzuprägen. Achttausend Verzögerungszünder für Granaten aus alten sowjetischen Beständen, vielleicht zerlegt und als technisches Material deklariert; eigentlich unverständlich, warum Eschenbach sie hier in Bremerhaven Zwischenlagern wollte. Es sei denn, die Zünder wurden umgerüstet - dazu würden die Federn und Teleskopstifte passen, die er aus Tschechien bezogen hatte.
Ungeduldig wartete Gönter in seinem Hotelzimmer, bis Kreutzer anrief und im vereinbarten Code meldete: »Wir sind auf Öl gestoßen.«
»Dann bohrt mal schön vorsichtig weiter«, empfahl Gönter heiter. Es traf sich gut, jetzt erreichte er ohne Hast noch die letzte Maschine nach Köln. Eschenbach würde sich nicht herausreden können, damit hatten sie ein Glied aus der Kette herausgesprengt, und mit den Zündern konnten sie ihn legal wegen der in Rotterdam aufgespürten Chemikalien, mit denen sich Sprengsätze herstellen ließen, unter Druck setzen. Hoffentlich! Denn seit ihre Quelle versiegt war, fehlten ihnen Tipps und der Gegner lernte dazu. Wer telefonierte oder faxte noch, seit es Internet und E-Mail gab? Weinert würde fluchen, wenn er erfuhr, dass Zoll und BND eng zusammenarbeiteten und den Verfassungsschutz von dieser Aktion ausschlossen. Selbst vom Mailen machten die Burschen immer weniger Gebrauch, sie verließen sich auf mündliche Absprachen, weil sich alle aus diesem oder über diesen Verein kannten. Vorgestern hatten sie in Frankfurt am Flughafen einen Kurier aus Athen gefasst, der in seinem Koffer 500.000 Dollar transportiert und ihnen allen Ernstes versichert hatte, er wüsste nicht, für wen das Geld bestimmt sei; sein Auftrag lautete, mit dem Koffer so langsam, dass man ihn verfolgen konnte, in ein x-beliebiges Hotel zu gehen, dort zwischen 18 und 22 Uhr sein Zimmer nicht zu betreten und mit einem anderen Koffer am nächsten Morgen abzureisen. Es klang abenteuerlich, aber leider sehr wahrscheinlich.
Die kleine Turbo-Prop-Maschine schaukelte und tanzte. Viele Jahre war Gönter selbst geflogen, seine CPL war noch gültig, aber im Amt sah man es nicht gerne, wenn er sich an den Knüppel setzte. Wenn er in der Kabine hockte, flog er mit dem Arsch mit, Turbulenzen störten ihn nicht, sein Magen hatte sich daran gewöhnt; Jets mit ihren Reisehöhen über dem Wetter lagen ihm zu ruhig in der Luft.
Also würden sie ihr Computersystem mit ein paar neuen Einzelheiten füttern können. Die Kolotai gehörte der Baltic Eastern Transports und an der russischen Reederei waren Harald Lanckenbroick und Klaus Ochtenhoff beteiligt, die sie von anderen krummen Geschäften schon kannten, aber leider noch nie vor Gericht hatten überführen können. Darauf - und nur darauf - kam es an.
Dass Ellwein gerne internationale Ringe, sozusagen Mafia im Frack, aufdecken würde, verstand Gönter zwar, aber in Wahrheit interessierte es ihn nicht. Darüber sollten sich seine Vorgesetzten den Kopf zerbrechen, er brauchte handfeste Tipps und Hinweise auf illegale Importe und Exporte. Handfeste, brauchbare und vor allem richtige Tipps. Was nutzte ihm Agentengeschwätz, der Irak habe sich mit Indonesien zusammengetan, um über Singapur elektronisches Material aus Japan zu beziehen? Sobald die Ware in Deutschland zwischenlandete, wurde sie lohnend. Nur dann!