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Die erste Zeit war sehr hart. Wir wohnten beengt in meiner 40-qm-Wohnung, die eineinhalb Zimmer hatte, von denen das eine Zimmer ein Durchgangszimmer war. Er musste die deutsche Sprache lernen und sich zurechtfinden, ohne seine Familie, ohne Freunde und ohne die türkische Sonne, die auch im Winter scheint. Ich musste plötzlich für zwei arbeiten, nach der Arbeit Essen kochen, mit ihm Deutsch lernen, ihm die deutsche Lebensweise zeigen und viele Dinge erklären, und abends saß ich oft am PC bis in die Nacht, um zusätzlich zu meinem neuen Job als Sekretärin in einem Architekturbüro noch verschiedene Schreibarbeiten für Studenten und Firmen zu erledigen. Wir hatten genug Geld zum Leben, eine Wohnung in der City, ein Auto, wir konnten ins Restaurant oder ins Kino gehen und alles tun, was andere Paare auch tun, nur nicht so häufig. Ich hielt das Geld zusammen, was er nicht so gut konnte. Was nach Abzug unserer Kosten und etwas Erspartem übrig bleib, teilten wir immer. Ich behielt niemals mehr für mich. Ich hatte nette Freundinnen und eine nette Familie, die ihn mit offenen Armen und voller Neugierde empfingen, und dennoch lag ich in den ersten Monaten unseres gemeinsamen Lebens oft nachts wach und spürte eine unerträgliche Verantwortung und Existenzangst, sodass ich unsere erste gemeinsame Zeit, die eigentlich neben unserer wunderschönen Zeit in der Türkei die Schönste hätte sein müssen, nicht richtig genießen konnte.
Nach sechs Monaten fand ich über die Zeitung eine Arbeit für ihn in einer Autoreparaturwerkstatt, die er leider nur einige Monate behielt, da es der Firma finanziell schlecht ging. Es folgten bis zu unserer Trennung im August 2006 noch drei weitere Arbeitsverhältnisse. Das Längste behielt er eineinhalb Jahre, das Kürzeste sechs Wochen. Es waren 400-Euro-Jobs oder Jobs, in denen er drei Tage in der Woche zu tun hatte. In den acht Jahren unseres gemeinsamen Lebens in Deutschland hatte er insgesamt nur drei Jahre gearbeitet. Ich hatte fast die ganzen Jahre über unermüdlich Bewerbungen geschrieben, die Zeitungen und das Internet nach Jobs durchgeforstet, mit ihm bei Zeitarbeitsämtern gesessen, damit er in deren Kartei aufgenommen wurde, ihm Vorschläge gemacht und im ganzen Freundeskreis gefragt. Leider war er bei der Arbeitssuche nicht so unermüdlich wie ich, und so brach ich regelmäßig einen Streit vom Zaun, beschimpfte ihn als faul und stumpfte nach einigen Jahren innerlich immer mehr und mehr ab. In der Türkei hatte er einen guten Job gehabt und relativ gut verdient, und anfangs wollte ich dasselbe für ihn in Deutschland. Er bekam Jobs angeboten, die ich für unter seiner Würde hielt. Ich verdiente gut und konnte uns beide unterhalten, wir flogen ein- bis zweimal im Jahr in den Urlaub, und ein- bis zweimal im Jahr flog er zusätzlich zu seiner Familie in die Türkei. Nach einigen Jahren wäre ich allerdings froh gewesen, wenn er nur irgendeinen Job angenommen hätte.
Zwei Jahre nach seiner Ankunft bezogen wir in der Nähe des Tegeler Sees eine größere Wohnung. Es war eine schöne Gegend und nicht mehr mitten in der Stadt.
Er war ein herzensguter, freundlicher und gütiger Mann mit einem guten, geradlinigen Charakter, der auf fast alle meine Wünsche einging und mich über alles liebte, was er mir bis sechs Monate vor unserer Trennung mehrmals wöchentlich sagte. Er war bei allen Menschen beliebt, und wenn er Arbeit hatte, arbeitete er wie ein Pferd. Er lernte schnell Deutsch, zunächst an der Volkshochschule, später mit einer türkischen Studentin, die mit ihm die Grammatik übte, und er fügte sich gut ein in unser Leben in Deutschland, wofür ich ihn oft bewunderte, ebenso für seine Toleranz. Er war eifersüchtiger als ich, obwohl ich ihm in all den Jahren nie einen Grund dafür gab, wie ich meinte. Wenn ich mit meinen Freundinnen ausging, wünschte er mir immer nur viel Spaß. Umgekehrt war es genauso. Erst im Laufe der Ehe, als unser Sexualleben nicht mehr so aufregend war wie am Anfang, kam in ihm der Gedanke auf, dass ich ihn betrügen könnte, wenn ich auf einer Dienstreise war. Da dies nie der Fall war, tat es mir immer leid, wenn er nach meiner Rückkehr diese Befürchtungen äußerte, und er blieb misstrauisch.
Im Jahr 2003 verlor er seinen Vater und ich meinen Bruder. Dadurch änderte sich meine Einstellung zu vielen Dingen. Der Alltag mit meiner oft harten Arbeit im Vertrieb einer großen Firma, mein Part der täglichen Organisation unseres Lebens, die wir uns nach einiger Zeit teilten, der Haushalt und die Suche nach Arbeit bekamen einen neuen Stellenwert. Es hatte für mich fortan Vorrang, dass wir gesund waren und uns liebten, und ich hörte auf, ihm Vorwürfe zu machen wegen seiner Nachlässigkeit, sich eine Arbeit zu suchen. Ich versuchte zufriedener zu sein, während er immer unzufriedener wurde.
Dennoch verfiel ich durch unsere Lebensumstände mehr in die männliche und er in die weibliche Rolle, was unserer Beziehung nicht gut tat. Hinzu kam es zwischendurch immer wieder dazu, dass ich abends überarbeitet und mit schlechter Laune nach Hause kam, mich über Kleinigkeiten aufregte und die tägliche Arbeit, die ich daheim zu erledigen hatte wie Einkaufen, Putzen, Kochen, Papierkram, Telefonate etc. mich oft überforderte. Ich hatte das Gefühl, mich niemals ausruhen zu können, außer am Sonntag, wenn Metin nach dem Frühstück verschwand (was mir nichts ausmachte, denn er traf sich nur mit seinen Freunden, und ich freute mich, dass er Freunde hatte, die sogar zum Teil aus seinem Heimatort kamen) und ich mich daran gewöhnte, den Tag allein oder auch mit Freundinnen zu verbringen.
Dennoch: Wir hatten viele Freunde, mit denen wir oft zusammen waren, wir feierten, wir liebten uns trotz vieler Streits, und mir war in den ganzen Jahren in jeder Minute bewusst, dass ich menschlich gesehen den besten aller Männer hatte, der anderen Frauen nicht nachstellte, mich von Herzen liebte und mit meinen Macken leben konnte. Ich dachte niemals daran, dass wir uns einmal trennen würden, denn für mich geht eine Ehe bis zum Tod. Ich bin der Ansicht: Wenn man sich für einen Menschen entschieden hat und ihn heiratet, geht man mit ihm durch alle Höhen und Tiefen und sollte sich nie wieder trennen, es sei denn, aus ganz schwerwiegenden Gründen. Für mich hätte es nur zwei Gründe gegeben: Gewalt und Drogen.
Unsere Ehe war kinderlos, was er unter allen Umständen ändern wollte, ich aber nur unter der Voraussetzung, dass er eine dauerhafte Arbeit hätte, ansonsten hätte ich nach wenigen Monaten Pause wieder ganztags für drei Personen arbeiten gehen müssen, was mich komplett überfordert hätte. Ich lag oft schweißgebadet und angstvoll nachts wach, wenn die Babyfrage wieder auf dem Tableau war, und mein Verstand sagte mir, es wäre nicht gut, in unserer Situation ein Kind zu bekommen. Nach und nach bekamen alle seine Freunde Kinder, die zum Teil von Sozialhilfe lebten. Nur wir hatten keine Kinder. Oft beneidete ich meine Freundinnen und Kolleginnen, die Kinder hatten und entspannt sein konnten, da ihre Männer eine regelmäßige Arbeit hatten und so viel Geld nach Hause brachten, dass die Frauen ein bis zwei Jahre zu Hause bleiben konnten, bevor sie wieder halbtags arbeiten gingen. Irgendwann bemerkte ich, dass er immer die Wohnung verließ, wenn die kleinen Kinder meiner Schwester bei uns waren. Nach und nach sah er keine Zukunft mehr für uns beide, irgendwann kam auch sein Satz „Sozialhilfeempfänger bekommen auch Kinder“ und forderte mich ab dem Frühjahr 2006 mehrmals während eines Streits auf, einen Anwalt aufzusuchen, um mich über die Formalitäten einer Scheidung aufklären zu lassen.
Dies tat ich am 15. Juni. Ich dachte nicht an eine Scheidung, ich ordnete das Gespräch beim Anwalt für mich als eine Art Informationsgespräch ein. Da Metin keine Arbeit hatte und wir kurz nach seiner Einreise nach Deutschland einen Ehevertrag aufgesetzt hatten, auf den ich sehr zu seinem Unmut bestanden hatte, war es für mich auch wichtig zu wissen, was im Fall einer eventuellen Scheidung finanziell auf mich zukommen würde. Da ich das Gespräch erst einmal für mich selber verarbeiten wollte, erzählte ich Metin erst drei Tage später ganz rational davon. Wir waren uns beide des Schrittes dieses Gespräches beim Anwalt bewusst, wir rissen uns wohl unbewusst wieder zusammen, und dadurch normalisierte sich unser Leben wieder. Wir stritten nicht mehr so oft, und einige Wochen lang war es ein schöner Sommer wie jeder andere auch, mit Biergarten, Strandbars, Freunde treffen, schwimmen gehen und vielen anderen Aktivitäten. Die Fußballweltmeisterschaft fand in Deutschland statt, und wenn Deutschland spielte, trafen wir uns mit Freunden zum gemeinsamen Fernsehen, oder wir lagen zu zweit auf unserem Bett, tranken ein Bier, wedelten mit dem Deutschland-Fähnchen und freuten uns. Mitte Juli verbrachten wir ein harmonisches Wochenende an der Ostsee, schwammen, radelten und spazierten durch die Gegend. Alles war wie immer – jedenfalls für mich.
Als Metin mir am Abend des 30. August 2006 nach einem Streit mitteilte, dass er mich definitiv verlassen wollte, um ein neues Leben anzufangen, ging es uns beiden schlecht. Ich erinnere mich noch, dass ich trotzdem erleichtert war, dass er es ausgesprochen hatte und nicht ich. Am nächsten Morgen teilte er mir mit – wir hatten wohl beide in der Nacht kein Auge zugemacht –, dass ich ihn vier Wochen in Ruhe lassen solle. In dieser Zeit sollte ein Grundstück, das seine Familie besaß, verkauft werden, und das wollte er abwarten. Dieser Verkauf war für ihn äußerst schlimm, es war sozusagen ein Symbol für den Verkauf seines Lebens, seiner Heimat, und auch deshalb war er völlig bodenlos geworden und fiel in ein tiefes Loch. Mein Schockzustand begann. Wir wohnten unter einem Dach, schliefen in getrennten Zimmern, und ich plante in diesem Zustand mein weiteres Leben ganz rational ohne ihn. In diesen Wochen hatte ich meinen Sommerurlaub genommen, den ich nun ohne ihn verbrachte, und ich sah ihn nur selten, da er am Tag kaum zu Hause war. Ich ging sehr vorsichtig mit ihm um. Ich fragte ihn nicht, was er machte und wie er seine Tage verbrachte. Anfangs frühstückten wir noch zusammen, dann hörte auch das auf. Den 16. September 2006 – es war ein Samstag – verbrachten wir ruhig gemeinsam in unserer Wohnung, und als ich abends fragte, ob er mit mir zusammen essen wolle, wurde er ärgerlich. Er fühlte sich von dieser Frage eingeengt, kam einige Minuten später zu mir und meinte, er wolle schon am morgigen Tag mit mir final sprechen.
17. September
Ich war den ganzen Tag mit meiner Freundin Katja zusammen, die ich schon über dreißig Jahre kenne. Wir machten eine Radtour bei herrlichem Wetter. Als sie mich empfing, fing ich an zu weinen und erzählte, dass Metin und ich uns trennen werden. Sie war schockiert und nahm mich in den Arm, während ich weinte und erzählte. Allerdings erschien mir in diesem Moment eine Trennung rational auch besser, als unsere Ehe so fortzuführen, wie sie war.
Danach fuhr ich kurz zu meinen Eltern. Ich wollte eigentlich noch nicht über die Trennung berichten, aber als mein Vater fragte, wo Metin wäre, bekam ich glasige Augen, was beide bemerkten. Ich erzählte aber nichts, und sie fragten nichts. In meinem Elternhaus wurde niemals viel über Gefühle oder private Dinge gesprochen, und es wurden nicht viele Fragen gestellt. Darüber war ich jetzt sogar dankbar.
Wieder zu Hause, saß Metin schon auf der Couch und wartete auf unsere Aussprache. Ich setzte mich zu ihm, mein Herz klopfte so laut, dass ich kaum atmen konnte. Wir bemühten uns beide um Ruhe und Höflichkeit, was auch gelang. Im Einzelnen warf er mir an diesem Abend vor, dass ich niemals freiwillig auf einen Urlaub in die Türkei mitgekommen wäre. Ich hätte seine Mutter niemals von mir aus angerufen, wir wären niemals mit dem Auto in die Türkei gefahren, so wie andere Türken auch. Wir wären nach Florida und Ägypten und in viele Länder Europas gereist, aber niemals per Auto in die Türkei. Meine Familie und ich hätten ihm kein Geld gegeben, damit er das ganze Grundstück hätte kaufen können, was nun verkauft werden sollte. Er hätte sich wie ein Hund zu Hause gefühlt und Angst vor mir gehabt, da ich ihn oft herumkommandiert hätte und zu ordentlich sei. Er würde sich einsam fühlen, da seine Freunde alle in einem anderen Bezirk wohnten und der Weg zu ihnen weit wäre. Und last, but not least hatten wir keine Kinder, die er sich wünschte. Er plante auszuziehen, sich eine Arbeit zu suchen, noch ein bis zwei Jahre in Deutschland zu verbringen, Geld beiseite zu legen und in die Türkei zurückzugehen. Er wollte dort seinen deutschen Pass zurückgeben und eine Familie gründen. Zum Schluss sagte er: „Ich werde vielleicht keine Frau finden, die so intelligent ist wie du. Wir können weiter befreundet sein. Du kannst mich auch in der Türkei besuchen.“ Ich versuchte alle seine Vorwürfe rational zu widerlegen und zu entkräften und erklärte, warum ich dies oder jenes so oder so gemacht hatte. Auf meine Frage, warum er sich in den letzten drei Jahren nicht selbst um eine Arbeit gekümmert hatte, sagte er leise: „Ich habe gesucht. Ich weiß nicht, ich wollte dieses Leben nicht, ich hatte keine Lust.“
Es war ein endgültiges Trennungsgespräch, ich konnte nichts mehr retten. Er hatte sich alles gründlich überlegt und sich lange vorbereitet, während ich auch noch Monate später das Gefühl hatte, dass die Trennung plötzlich für mich kam. Danach ging ich ins Bad, setzte mich auf den Badewannenrand und weinte bitterlich, weil ich das alles nicht wollte. Ich wäre gern zu ihm gegangen und hätte mich in den Arm nehmen lassen, aber das war jetzt nicht mehr möglich.
20. September
Es ging mir sehr schlecht. Ich hatte Magenschmerzen, eine innere Unruhe, war konzentrations- und appetitlos, und die Tränen kamen andauernd. Wenn ich tagsüber im Büro weinen musste, ging ich zur Toilette. Es sollte mir niemand anmerken, was in mir vorging, auch nicht meine mir gegenübersitzende Kollegin Anita. Ich konnte kaum arbeiten, starrte viel auf meinen Bildschirm oder aus dem Fenster. Wenn Metin und ich uns abends sahen, suchte ich unter Tränen das Gespräch, um ihm zu sagen, dass ich die Trennung und eine Scheidung nicht wollte, was ihn jedes Mal wütend machte. Er sagte, er hätte sich noch nicht um eine Wohnung und um eine Arbeit gekümmert. Ich solle aber unsere Wohnung kündigen.
22. September
Nach der Arbeit, die ich wieder irgendwie schaffte, aber nur langsam und mit halber Kraft, fuhr ich zu meiner langjährigen Freundin Anna. Wir redeten und redeten über unsere Beziehungen, und es tat gut, gute Freundinnen zu haben. Wenn ich nicht geredet hätte, wäre ich erstickt. Anna hatte zurzeit auch Stress mit ihrem Freund. Sie kann sehr gut analysieren, ist sehr diplomatisch und beleuchtet die Dinge von allen Seiten.
23. September
Mit Anna besuchte ich unsere gemeinsame Freundin Katja. Wir kochten und sprachen über die Trennung von Metin und mir. Auch Katja ging es zurzeit nicht gut, sie erwog ebenfalls eine Trennung von ihrem Freund. Wir sprachen ganz sachlich und rational über uns und unsere Beziehungen, was sehr gut tat. Nach diesen Gesprächen hatte ich das Gefühl, ich könne den Abend, die Nacht und den morgigen Tag besser überstehen.
26. September
Ich suchte wieder das Gespräch mit Metin. Er wurde wütend und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Ich sprach nicht von Schuld, aber er sagte unter anderem: „Du denkst, ich bin schuld? Ich komme aus einem kleinen Dorf. Als ich neu war in Deutschland, kam ich in eine andere Welt. Wenn ich gewusst hätte, wie das wird, wäre ich nicht gekommen. In der Türkei macht man, was der Mann sagt. Ich habe kein Kind. Du wolltest nicht, dass es muslimisch wird. Du wolltest nicht im weißen Kleid in der Türkei heiraten. Du wolltest nicht, dass ich einen türkischen Imbiss eröffne, du wolltest nicht, dass ich weiterhin nachts Dönerfleisch ausfahre. Vielleicht gehe ich in eine andere Stadt. Ich denke, ich komme allein klar. Du wirst sehen, das ist gut für uns. Vielleicht kommst du mich in der Türkei besuchen. Du hast nur mich gewollt. Du wolltest sonst nichts von der Türkei. Du hast gedacht, du nimmst dir etwas heraus und machst es so, wie du willst.“ Er nannte dann zwei Beispiele von türkisch-deutschen Ehen mit Kindern, in denen der Mann auch nicht arbeitet. „Du wolltest ein Haus kaufen? Erst einmal muss man eine Familie gründen. Genau wie dein Bruder und deine Schwester.“
Ich versuchte wieder, alle seine Vorwürfe zu widerlegen und erklärte, dass ich es damals, als ich hörte, dass einige türkische Imbissbesitzer von einer Bande erschossen wurden, für keine gute Idee hielt, einen Imbiss zu eröffnen und dass die Arbeit als Fahrer für einen Dönerlieferanten, der ausschließlich abends und nachts ausliefert, einer Ehe nicht dienlich ist, wenn man sich nur am Samstag und Sonntagvormittag sieht. Aber es half nichts, er wurde wütender und wütender. Ich weinte und weinte.
27. September
Nachdem mich Metin jedes Mal, wenn wir uns sahen, fragte, ob ich den Scheidungsanwalt schon wegen eines Termins angerufen hätte, tat ich es heute. Es standen zwei Termine zur Auswahl, wobei ich den zweiten bevorzugt hätte, Metin bestand aber auf dem schnellstmöglichen. Die Bestimmtheit seines Entschlusses tat mir unglaublich weh.
2. Oktober
Ich verbrachte die letzten vier Tage im Haus meines Bruders bei München, um auf seine beiden Kinder aufzupassen. Er selbst machte mit meiner Schwägerin einen Kurzurlaub. Der Ortswechsel tat mir gut, ich machte ausgedehnte Radtouren oder ging bummeln und kümmerte mich nachmittags und abends um die Kinder, und in den Nächten konnte ich sogar gut schlafen. Ich hatte am Abend meines Eintreffens nur mit meiner Schwägerin gesprochen. Sie war total schockiert und nahm mich gleich in den Arm. Am nächsten Morgen schickte sie mir eine liebe SMS. Abends rief ich Metin an und bat ihn um einen Neuanfang, der sich aber weiterhin unversöhnlich zeigte. Ich hatte Angst vor dem, was auf mich zukommen würde und wollte gar nicht mehr heimfahren.
4. Oktober
Wir saßen nachmittags gemeinsam beim Anwalt und reichten die Scheidung ein. Das Gespräch dauerte zirka eine Stunde. Ich sprach langsam und wählte die Worte bedächtig. Zuvor erklärte ich ihm, dass nur mein Mann die Scheidung wollte und ich zustimmte, weil ich ihn gehen lassen musste. Mein Name wurde an erster Stelle genannt, womit ich nicht einverstanden war. Der Anwalt erklärte, dass es sich nur um eine Formalie handelte. Ich musste mich die ganze Zeit beherrschen, um nicht zu weinen. Es sollte auf dem Papier eine einvernehmliche Scheidung sein, und dank unseres langjährigen Ehevertrages und Kinderlosigkeit sollte alles schnell über die Bühne gehen. Der Anwalt fragte: „Welches Trennungsdatum soll ich eintragen?“ Wir bestimmten ein Datum, das dreizehn Monate zurück lag. Wieder auf der Straße, weinte ich hemmungslos. Metin und ich sprachen nicht mehr viel, als wir noch einen Häuserblock zusammen gingen. Dann fuhr er mit der U-Bahn zu seinem Freund, ich fuhr nach Hause. Ich war wie paralysiert und konnte nicht fassen, was wir gerade gemacht hatten. Es war absurd, vor einem Scheidungsanwalt zu sitzen, wenn man es selbst gar nicht wollte.
9. Oktober
Metin war in den letzten vier Tagen in der Türkei bei seiner Familie gewesen, um an dem Grundstücksverkauf teilzunehmen. Ich hatte ihn zum Flughafen gebracht, und beim Abschied hatten wir uns nur die Hand gegeben, ich hatte ihm viel Glück gewünscht und bestellte seiner Familie viele liebe Grüße. Wir waren schon auf dem Weg, Fremde zu werden. Er wollte seiner Mutter noch nichts von unserer Trennung erzählen, genauso wie ich es gegenüber meiner Familie und den meisten unserer Freunde noch nicht tat. Es war wie nach dem Motto „Was man nicht sagt, ist auch nicht passiert“. Wir gingen in den letzten Tagen höflich miteinander um. Ich schlich durch die Wohnung und wollte ihn nicht verärgern. Ich war durch den Aufenthalt bei meinem Bruder etwas zur Ruhe gekommen und konnte wieder durchatmen. Dennoch hämmerte der Gedanke unserer Trennung in jeder Sekunde in meinem Kopf.
10. Oktober
Ich fragte Metin, ob er mit mir im Restaurant essen wolle. Er war einverstanden. Ich hoffte, an einem neutralen Ort, an dem wir nicht streiten konnten, noch einmal freundlich über alles reden zu können. Dies gelang uns auch. Er sagte, ich wäre hundertprozentig schuld an der Trennung. Er hätte sich ein Kind gewünscht. Er würde jetzt unter der Trennung mehr leiden als ich. Ich bezweifelte das. Ich erklärte ihm, wie schlimm diese Trennung, die ich nicht wollte, für mich sei, geschweige denn eine Scheidung. Wir sprachen auch wieder über unser Sexualleben, das in den letzten Jahren nicht gut war, und wir gaben uns gegenseitig die Schuld daran. Wir hatten es in allen Bereichen vernachlässigt, und es verlief immer gleich. Wir hatten des Öfteren unsere Wünsche verbal geäußert, jedoch hatten wir uns gegenseitig keine Mühe mehr gegeben, sie zu befriedigen. Er warf mir vor, seit langer Zeit nicht mehr von mir aus zu ihm gekommen zu sein und dass ich sonntags lieber allein oder mit einer Freundin eine Radtour gemacht hätte, als mich um ihn zu kümmern. Besonders diesen Vorwurf fand ich ungerecht, denn er verließ mich am Wochenende oft schon nach dem Frühstück, um sich mit seinen Freunden zu treffen.
Er wollte eventuell jetzt schon in seine Heimat zurückgehen, da er sich sowohl Sorgen um meine Schwiegermutter machte, die eine Operation vor sich hatte, als auch um seinen Bruder. Die beiden machten ihm ständig Sorgen. Metin telefonierte ein- bis dreimal in der Woche mit seiner Mutter, und nie hatte ich ihn hinterher gut gelaunt erlebt. Seine Mutter erzählte immer, wie schwer ihr Leben wäre, und sein Bruder bemühte sich auch niemals um eine Arbeit und lebte in den Tag hinein. Metin war meistens wütend auf seinen Bruder, und wenn ich mich einschaltete und ihm zustimmte, nahm er ihn stets in Schutz. Ich hatte immer ein gutes Verhältnis zu ihnen gehabt, und ich mochte seine ganze Familie sehr gern.
Metin erzählte, dass er fast jeden Abend mit einem seiner türkischen Freunde im Krankenhaus wäre, da die Frau des Freundes kürzlich einen Unfall gehabt hätte, dort einige Monate würde verbringen müssen und er ihm aufgrund fehlender Sprachkenntnisse beim Dolmetschen half. So auch an diesem Abend, an dem wir nach dem Essen wieder in verschiedene Richtungen gingen.
14. Oktober
Den Vormittag verbrachte ich mit Ausmisten und packte eine Flohmarktkiste. Als ich mit Tränen in den Augen zwei Stofftiere, die als Brautpaar verkleidet waren und die wir zu unserer Hochzeit geschenkt bekommen hatten, in die Kiste packte und sie Metin vorher zeigte mit den Worten „Das alles ist jetzt vorbei“, war er sogar sehr lieb: „Du musst das verstehen. Sei nicht so traurig. Das ist das Beste für uns.“ Dann diskutierten wir wieder. Unsere Themen waren unter anderem: schlechter Sex, meine Saunabesuche, die er so hasste, Situationen, in denen mich andere Männer eventuell „oben ohne“ gesehen hatten (zum Beispiel beim Umziehen nach dem Schwimmen, obwohl ich immer aufgepasst hatte), und meine Ex-Freunde, die ihm immer ein Dorn im Auge waren (obwohl ich zu keinem Kontakt hatte). Schließlich war ich vierunddreißig Jahre alt, als wir uns kennenlernten. Ihm war bewusst, dass er dieses Problem bei fast jeder Frau haben würde.
Er sagte: „Sag mir, was ich falsch gemacht habe, außer dass ich nicht arbeite. Du hast viele Bewerbungen für mich geschrieben und auch keine Arbeit gefunden.“
Ich konnte die Tränen nur mühsam zurückhalten: „Alles was wir zusammen gemacht haben, ist vorbei: Essen, Freunde treffen, Urlaub …“
Er antwortete: „Das können wir doch weiter machen. Du kannst immer zu mir kommen.“ Anscheinend war er hin- und hergerissen Dann sagte er noch: „Es gibt zwei Beatrice’ – eine herzliche und eine egoistische.“
21. Oktober
Wir hatten uns eine Woche nicht gesehen. Einige Nächte hatte Metin nicht zu Hause geschlafen. Einige Male lag in der Schmutzwäsche fremde Unterwäsche, die er sich anscheinend von einem Freund geliehen hatte, als er bei ihm nächtigte. Ich hatte alle körperlichen Symptome: Herzklopfen, Atemnot, Weinkrämpfe, Blasenstörungen, Ruhelosigkeit und Appetitlosigkeit. Dennoch hatte ich meiner Familie und den meisten Freunden noch nichts gesagt. Ich war in einer Art Warteposition und ungläubigem Schockzustand.
Wir frühstückten zusammen. Er war sehr wütend und beschimpfte mich fortwährend. Es ging wieder um ein Kind, das ich unter den gegebenen Voraussetzungen nicht haben wollte, obwohl er immer wieder für einige Zeit gearbeitet hatte und geholfen hätte, die Familie zu ernähren. Es ging um sein Traumauto BMW, das ich aus Kostengründen nicht kaufen wollte. Es ging um ein Haus, das ich stattdessen kaufen wollte. Er hätte sich an seinen religiösen Festen immer allein gefühlt, da ich das Gefühl für muslimische Feste nicht gehabt hätte. Er hätte meinetwegen kirchlich geheiratet. Ich hätte immer an Urlaub gedacht. So ging es weiter und weiter. Ich weinte und weinte. Er sagte: „Deshalb bin ich nie hier: Weil du immer weinst. Ich möchte das nicht mehr sehen.“