- -
- 100%
- +
Er zeigte mir ein ausgefülltes Formular, mit dem er Sozialhilfe beantragen wollte. „Ich muss allein aufstehen.“
Ich sagte ihm, dass er bis zur Scheidung keinen Anspruch darauf hätte. Ich verteidigte mich: „Ich habe mich doch um alles gekümmert!“
„Was hast du denn gemacht? Du bist hundertprozentig schuld. Ich habe alles für dich gemacht. Alles. Du hast Geld, ich habe nichts.“
„Ich habe immer nur für uns gedacht und gearbeitet. Wir haben immer alles geteilt, was ich verdiente. Ich habe keinen Cent mehr gehabt als du. Du wirst dich wundern, wenn du allein wohnst.“
22. Oktober
Ich musste es nun im Freundeskreis bekannt machen. Ich hatte an alle Freunde, die es noch nicht wussten, per Brief die Nachricht über unsere Trennung geschickt. Nach und nach die Freunde mündlich zu informieren, war mir nicht möglich, weil es mir so wehtat. Es war besser, es alle auf einmal wissen zu lassen. Ich hatte eine Zeichnung von zwei Pinguinen aufgeklebt, die auf zwei Eisschollen in verschiedene Richtungen treiben, und einen Fünfzeiler geschrieben, in dem wir unsere Trennung bekannt gaben, uns gegenseitig für alles bedankten und uns vorgenommen hatten, niemals schlecht über den anderen zu sprechen.
26. Oktober
Als ich abends nach Hause kam und Metin sah, fing ich wieder an zu weinen. Ich musste mich aber beherrschen, da ich mit meinem Ex-Kollegen Richard, der in der Stadt war, zum Essen verabredet war. Leider hatte er im selben Restaurant, in dem ich das letzte Mal mit Metin gegessen hatte, eine Reservierung vorgenommen. Ich erzählte Richard stockend, aber beherrscht von unserer Trennung, ich hatte mich im Griff, und er hörte gut zu, war sehr betroffen und wünschte mir Glück. Als Langzeitverheirateter konnte er meine Situation zwar nicht so richtig nachvollziehen, versuchte aber trotzdem, mir beizustehen und gab mir einige Ratschläge. Als ich zu Hause ankam, war Metin immer noch da, was mich sehr verblüffte. Ich hatte nicht vermutet, ihn zu sehen. Er hatte etwas getrunken. Es war ihm ein großes Bedürfnis, mit mir zu reden. Wir hatten ein liebes Gespräch.
„Danke für alles. Ich MUSS allein aufstehen. Wir können weiterhin befreundet sein, aber das willst du nicht. Ich kenne dich. Ruf mich in einem Jahr an und frag: Was hast du gemacht, wie geht es dir? Du hast zu früh allen Bescheid gesagt. Was ist, wenn wir wieder zusammen sind?“
An diese Worte klammerte ich mich immer, wenn er sie sagte. Gleichzeitig war ich Realist genug, um zu wissen, wie lange ein Jahr dauert und was in diesem Jahr alles passieren kann.
„Aber du willst dich von mir scheiden lassen. Du willst mit deiner geschiedenen Frau wieder zusammen sein?“
„Es ist nur ein Papier. Ich möchte nicht, dass du weinst. Bitte mach es mir nicht so schwer. Deshalb gehe ich abends immer weg.“
Nach dem Gespräch ging es mir wesentlich besser. Zum Schluss umarmten wir uns. Er wollte mit mir Sex haben. Ich sagte, dass ich dann wahrscheinlich weinen müsste. Wir taten es nicht.
28. Oktober
Morgens sagte ich ihm, dass es mir seit unserem letzten Gespräch besser ginge. Er freute sich. Wir umarmten uns nochmals. Es ging mir so gut, dass ich mit ihm durch die Wohnung ging und ihm die Möbel zeigte, die er mitnehmen sollte, da er keine hätte. Er sagte, er bräuchte nur die Dolby-Surround-Anlage, alle anderen Möbel würde er sich vom Erlös des Grundstücksanteils kaufen.
29. Oktober
Metin schlief nicht zu Hause. Mein Bruder kam mit seiner Familie für ein paar Tage nach Berlin. Sie wohnten in einem Hotel. Abends gingen wir alle mit meiner Schwester und ihrer Familie, meiner Mutter, ihrem Bruder und seinen Kindern zum Essen. Ich informierte meine Familie darüber, dass Metin und ich uns einvernehmlich getrennt hatten und dass, sollten sie ihn treffen oder sollte er ab und zu wieder dabei sein, es schön wäre, wieder unbeschwert zusammenzusitzen. Ich wollte nicht schlecht über ihn sprechen. Es fiel mir unendlich schwer, das zu sagen, ich musste mich sehr darum bemühen, nicht die Fassung zu verlieren, und ich hoffte, dass das, was ich sagte, sich realisieren ließe.
Unsere Wohnung hatte ich gekündigt. Mir war klar, dass ich nach einem Auszug Metins nicht allein dort wohnen wollte. Meine Schwester Patrizia bot mir an, in ihr Haus zu ziehen, was sicher für einige Wochen gehen würde, bevor ich mir ein Zimmer in einer WG nehmen wollte. Sie wohnte zwar im Umland Berlins – aber bloß nicht allein wohnen!
1. November
Ich erhielt eine Postkarte meiner lieben Freundin Verena. Auf dem Bild war eine weiße Taube zu sehen, die aus einem offenen Käfig flog. Der Text: „Manchmal denkt man, es ist stark, festzuhalten. Doch es ist das Loslassen, das wahre Stärke zeigt.“ Sie hatte nur ein Herz gemalt und „deine Verena“ unterschrieben. Ich las den Text wieder und wieder, weinte und weinte und war unendlich dankbar, sie zur Freundin zu haben.
3. November
Ich war für zwei Tage mit einer Kollegin in Köln auf einer Messe. Es ging mir unglaublich schlecht, am liebsten hätte ich wie jeden Tag ununterbrochen geweint, aber ich musste mich beherrschen und mich auf die Gespräche konzentrieren und ließ mir nichts anmerken. Abends ging ich mit ihr essen und beim Verdauungsspaziergang am Kölner Dom vorbei. Wir gingen hinein. Es fand gerade eine Messe statt. Die Atmosphäre beruhigte mich etwas. Als ich endlich in meinem Hotelzimmer war, bekam ich plötzlich fürchterliche Bauchschmerzen und musste mich übergeben. Mir war total übel, ich bekam Schüttelfrost und schlief erst mitten in der Nacht ein. Am nächsten Morgen waren die Symptome Gott sei Dank verschwunden. Anscheinend hatte mein Körper total verrückt gespielt.
Wieder zu Hause angekommen, fühlte ich mich unendlich einsam, mein ganzer Körper schmerzte, und ich schrie und weinte vor Schmerz und Kummer. Ich schmiss mich auf mein Bett und trommelte mit den Fäusten gegen das Kissen. Mein Weinkrampf wollte nicht enden. Ich wusste nicht, wie ich die nächsten Monate überstehen sollte.
4. November
Metin und ich hatten uns eine Woche nicht gesehen und gesprochen. Er hatte nur eine Nacht zu Hause geschlafen. In der Post war ein Nachsendeantrag für ihn. Ich bekam einen erneuten Adrenalinstoß. Ich konnte durch das Brieffenster seine neue Adresse lesen. Sie war in einem Bezirk, in dem die meisten Türken in Berlin wohnen. Ich zitterte und weinte, als ich den Brief öffnete und mich vergewisserte. Ich beschloss, dort hinzufahren, wenn es dunkel war. Er war wirklich ausgezogen! Ich konnte nicht mehr klar denken und kaum noch atmen. Um 16.30 Uhr stand ich vor seinem Haus. Zwei Türken kamen aus einem Laden, der sich im Erdgeschoss befand. Ich fragte sie nach ihm, sie sagten mir, er wohne im Hinterhaus im Erdgeschoss. Als ich durch den Hof ging, konnte ich in ein Zimmer schauen, in dem das Licht brannte, und sah ihn. Vor dem Fenster gab es keine Gardinen. Ich ging zur Wohnungstür, wollte klingeln und spähte vorher durch den großen Spion. Ich sah den Flur, der in ein Zimmer mündete. Ich sah ihn umhergehen, dann sah ich eine schwarze Katze. Metin hasste Katzen. In diesem Moment kam eine junge Frau mit schulterfreiem T-Shirt und hochgesteckten Haaren aus einer Tür, die rechts vom Flur abging. Es war wahrscheinlich das Bad. Ich konnte nicht mehr atmen und war wie gelähmt. Sie ging zu ihm. In diesem Moment erhielt er einen Anruf und sagte danach auf Türkisch zu ihr, dass seine Frau vor fünf Minuten hier gewesen wäre. Anscheinend hatte ihn einer der Männer informiert. Er verzog das Gesicht. Sie sahen sich einen Moment schweigend an. Ich klingelte. Es dauerte einen Moment, bis er die Tür öffnete. Ich war wie panisch und stürmte an ihm vorbei durch den Flur in das Wohnzimmer, von dem aus die offene Küche und das Schlafzimmer abgingen. Ich sah sie nicht. Ich sah nur ein leeres Wohnzimmer mit einem Fernseher und einigen Flaschen auf dem Boden, eine leere Küche und im Schlafzimmer eine Matratze und einige Tüten. Er schrie: „Was machst du hier?“ Ich riss die Badezimmertür auf, und da saß sie auf dem Wannenrand. Sie war Türkin und sah aus wie Anfang zwanzig, das heißt zirka fünfzehn Jahre jünger als er, und ich fand sie ausgesprochen unattraktiv. Ich fragte sie, ob sie Deutsch versteht. Sie nickte. Ich fragte Metin, wie lange das schon ginge mit ihr. Er sagte: „Zwei Wochen.“ Ich schrie ihn an, dass er letzte Woche noch Sex mit mir haben wollte. Er schrie zurück, dass wir seit zwei Monaten getrennt wären.
Er wollte mit mir auf die Straße gehen, wo wir weitersprachen. „Ich habe gesagt, dass ich allein leben wollte. Ich habe gesagt: Ruf mich in einem Jahr an.“ Ich fragte: „Liebst du sie?“ Er antwortete: „Nein, aber ich probiere. Ich bin schon alt, und wir hatten kein Kind.“
„Ich bin schockiert. Erst sagst du, du willst allein leben, dann hast du schnell eine andere Frau.“
„Das ist mein Leben! Wir leben nicht zusammen. Die Wohnung gehört mir allein.“
„Sie hat eine Katze. Wenn die Katze auch da ist, wohnt sie bei dir.“
Ich redete ohne Zusammenhang: „Ich bin erstaunt, wie schnell das bei einer türkischen Frau geht. Oder du kennst sie schon länger und hast mich angelogen. Ich dachte, du hättest mehr Geschmack, sie ist sehr hässlich. Eine Frau mit Stil und Verstand macht das nicht.“
Als ich wieder in meinem Auto saß, rief ich Patrizia an und erzählte unter Tränen das soeben Erlebte. Sie war tief bestürzt und konnte es nicht glauben. Sie und Metin hatten sich auch immer gut verstanden. Danach rief ich Metin nochmals an, und wir hatten im Prinzip denselben Dialog wie wenige Minuten zuvor auf der Straße.
Ich konnte nicht wegfahren, ich musste noch einmal zurück- gehen, spähte noch mehrmals durch den Spion und die Fenster und drehte zwischendurch immer eine Runde um den Block, um meine Gedanken um das Gesehene, das so unfassbar war für mich, irgendwie zu ordnen. Einmal liefen beide herum und räumten etwas auf, das andere Mal sah ich beide, sich umarmend, auf der Matratze liegen. Dann stand er auf und hängte Handtücher vor die Fenster.
Irgendwann fuhr ich nach Hause. Mein Martyrium fing jetzt erst an. Solange wir noch zusammen wohnten, hatte ich auf einen Neuanfang gehofft, aber nun war er weg, noch dazu mit einer anderen Frau, und die Realität war schockierend.
Ich trank eine ganze Flasche Rotwein, fing an zu rauchen und weinte stundenlang. Mein Schmerz kannte keine Grenzen.
5. November
In der Nacht machte ich kein Auge zu. Ich dachte nur an ihn und sie und machte mir ohne Ende Vorwürfe, dass ich auf allen Ebenen versagt hätte und dass er jetzt heiße Nächte mit ihr verbringen würde. Der Gedanke, dass er eine andere Frau umarmte und mit ihr schlief, war unerträglich. Mein Magen schmerzte, und ich lief wie ein Tiger in der Wohnung hin und her, unfähig zu einem klaren Gedanken. Mittags rief ich ihn an. Ich rechtfertigte mein gestriges Kommen: Ich hatte durch die Post von seiner Wohnung erfahren und wollte ihn sprechen. Woher sollte ich wissen, dass er nicht allein war?
„Ich wollte nicht, dass du weißt, wo ich wohne. Es ist schon vorbei mit ihr.“
„Bist du traurig?“
„Nein. Ich habe heute überlegt, ich gehe schnell in die Türkei zurück.“
„Du schläfst mit einer anderen, und ich wasche noch deine Wäsche.“
„So war das nicht.“
„Du kannst mir glauben: Das ist das Schlimmste, was man einem Menschen antun kann.“
„Ja, das glaube ich.“ Dann sagte er noch: „Du respektierst meine Mentalität nicht.“
Der Tag war ein Albtraum. Ich machte einen Plan bis zu meinem Auszug: Ich musste einige Möbel verkaufen und weiter ausmisten. Am Schlimmsten war es, die Couch zu sehen, auf der er oft gelegen hatte, und seine leere Kleiderschrankhälfte.
Verena hatte mir einen Brief geschickt mit einem selbst verfassten Gedicht über den trüben November, Kummer und Schmerz. Es endete: „Denn wenn die dunklen Nebelschleier sich demnächst auch wieder heben, ist jeder Tag wie eine Feier, und weiter geht das schöne Leben.“ Das Gedicht war zwei A4-Seiten lang. Wie viel Mühe hatte sie sich gegeben …
6. November
Es ging mir so schlecht, dass ich mittags das Büro verlassen musste. Ich hatte starke Magenschmerzen, nicht mehr an mich halten können und meiner Kollegin Anita von der Trennung erzählt. Meine schlechte Verfassung war ihr schon seit Wochen aufgefallen. Sie umarmte mich und lud mich zu sich nach Hause ein, um einen entspannten Nachmittag mit ihrer Familie zu verbringen. Ich dankte und sagte ab – ein intaktes Familienleben war das Letzte, was ich gerade gebrauchen konnte. Sie lud mich ein, immer zu kommen, wenn ich mich schlecht fühlte, und sie bot sich an, mit ihrem Mann vorbeizukommen, wann immer ich Hilfe bei den anstehenden Wohnungsarbeiten bräuchte. Sie war so lieb, und das tat gut.
Als ich vor meinem Wohnhaus ankam, kam Metin die Treppe herunter. Er lud seine Sachen in das Auto seines Freundes. Als er mich sah, sagte er: „Entschuldigung, ich wollte nicht, dass du das siehst mit der Frau.“ Ich ging nach oben, er kam hinterher. Es ging um die Dolby-Surround-Anlage und den Fernseher.
„Ich habe gestern einen Fernseher gekauft. Ich wollte noch mal sagen: Sie wohnt nicht bei mir. Ich habe sie zweimal getroffen.“
„Aber ihre Katze ist bei dir.“
„Ich soll eine Woche auf ihre Katze aufpassen. Ich sage ihr, in drei Tagen soll die Katze weg. Ich will auch nicht mehr. Nochmal Entschuldigung. Ich komme noch einmal und hole den Rest. Ich schaffe nicht alles.“
„Wenn du nochmal kommst, kannst du das Auto nehmen. Es ist vollgetankt.“
„Ich nehme deine Sachen nicht. Ich komme morgen und hole den Rest.“
Ich glaubte nicht, was er gerade über sie gesagt hatte.
Dann ging er. Es war wohl einer der schlimmsten Momente bei einer Trennung: wenn die Haustür zufällt, und der andere ist definitiv weg. Ich stand noch lange regungslos da, aber mein Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Aus seiner Sicht war es richtig, dass er ging. Er war konsequent und brauchte Freiheit.
Abends besuche ich Tatjana, die Freundin meines Onkels, in ihrer Wohnung. Bloß nicht allein zu Hause bleiben! Hauptsache, ich konnte darüber reden.
7. November
Ich musste geschäftlich nach Leipzig zu einer Veranstaltung. Es war ein stundenlanges Martyrium. Ich war den ganzen Tag unkonzentriert. Die Gespräche mit anderen Menschen nervten mich, weil ich nicht zuhören konnte. Als ich wieder zu Hause war, ließ ich den ganzen Kummer wieder heraus und schrie vor Schmerz. Ich hatte die letzten vier Tage in jeder Sekunde an Metin gedacht. Ich vermisste ihn unendlich. Ich konnte nichts mehr essen und hatte schon abgenommen. Ich trank wieder Rotwein und rauchte. Wir hatten Post von meinem Cousin und seiner Frau aus Mannheim, die sehr bestürzt waren über unsere Trennung. Die beiden schickten ein paar tröstende Zeilen. „Eure Nachricht hat uns aus heiterem Himmel erreicht und sehr traurig gemacht. Da dies nun ohne Zweifel eine schwere Zeit für euch ist, würden wir uns über ein Zeichen von euch freuen, sobald die Zeit etwas Abstand gebracht hat. Natürlich haben wir hier in unserer Wohnung ein Gästebett und freuen und jederzeit auf einen Besuch, um ordentlich gedrückt zu werden.“
Wir vier hatten uns sehr gut verstanden und einiges miteinander unternommen und viel gelacht. Das alles war nun vorbei. Mein Schmerz kannte keine Grenzen.
8. November
Ich las viel im Internet über Erste Hilfe für Liebeskummer-Kranke. Ich las, dass ich mir täglich etwas Gutes gönnen, mich täglich weiterhin schön machen und pflegen sollte, keinen Kontakt zum Ex haben und jede Einladung annehmen sollte, jeden Tag einzeln angehen und nur von heute auf morgen denken sollte, nicht unkontrolliert traurig sein sollte, sondern zu vorgegebenen Zeiten, viel reden sollte, die Wohnung umgestalten sollte, mir etwas Schönes zum Anziehen kaufen sollte und erkennen sollte, dass ich die wichtigste Person in meinem Leben bin. Die Tipps, die ich zum Teil schon beherzigte, taten mir gut. Ich ging jeden Tag gepflegt und gestylt ins Büro, auch wenn mir der Kummer ins Gesicht geschrieben stand. Denken konnte ich sowieso fast nur von heute auf morgen, alles andere überforderte mich völlig – aber reden tat mir gut.
Patrizia besuchte mich abends, um Flüge zu buchen. Im April wollte meine Familie anlässlich des Geburtstags meiner Mutter auf eine Mittelmeerinsel fliegen. Ich heulte ohne Ende. Sie war genauso bestürzt. Es tat sehr gut, mich bei meiner Schwester, die mich verstand, auszuweinen. Es tat auch gut, sich auf einen Urlaub zu freuen. Ein kleiner Lichtblick am Horizont!
9. November
Ich schlief seit Wochen in den Nächten maximal drei Stunden, und das noch nicht einmal am Stück. Ich sah aus wie der Tod auf Latschen und aß kaum. Damit ich wenigstens ein paar Kalorien zu mir nahm, trank ich jeden Abend einen halben Liter Kakao mit Vollmilch, bevor ich zum Rotwein griff. Mein erster Gedanke beim Aufwachen war: Metin ist weg! Mein zweiter Gedanke: Er hat eine andere! Es fühlte sich an wie Messerstiche, der ganze Körper schmerzte, in meinem Kopf hämmerten Millionen von Gedanken, und ich fühlte mich unendlich schuldig. Ich hatte das Gefühl, nichts wert zu sein. So ging ich durch den Tag. Ich konnte niemandem mehr zuhören, ich schaute nicht mehr fern, las nichts mehr, nichts interessierte mich. Im Büro war ich oft aggressiv. Ich konnte es nicht ertragen, wenn mir jemand etwas erzählte, da ich mich auf gar nichts mehr konzentrieren konnte und oft unhöflich das Gespräch abwürgte oder verkürzte. Ich dachte immer nur: Mein Mann, den ich von Herzen liebte, hatte mich verlassen und lag nun mit einer anderen Frau im Bett! Ich nahm alle seine Vorwürfe an und verurteilte mich deshalb. Ich saß oft vor dem Internet und googelte Worte wie „Liebeskummer“, „Lückenfüllerin“ oder „Verarbeitung Liebeskummer“ und las stundenlang in der Hoffnung, dass es mir danach besser gehen würde. Ich las, auf welch unterschiedliche Weisen Frauen und Männer Liebeskummer verarbeiteten. Ich fand weitere Erste-Hilfe-Anleitungen für Liebeskummer-Kranke. Ich druckte mir vieles aus, was ich diesbezüglich an Literatur aus dem Internet bekam, und verschlang diese. Die beste Rache sollte übrigens sein, ein glückliches Leben zu beginnen. Davon war ich noch weit entfernt, wollte es aber gern. In der Mittagspause kaufte ich drei Bücher über Liebeskummer. In einem Buch war ein Kapitel den Lückenfüllern gewidmet. Besonders Männer nahmen sich schnell eine, um sich abzulenken und die innere Einsamkeit zu überdecken. Zweisamkeiten mit Lückenfüllern halten aber nicht lange. In den meisten Fällen nur so lange, bis es dem Getrennten emotional wieder gut geht. Es war meine Hoffnung, dass es bei Metin und seiner Neuen auch so war.
Nachmittags ging ich zu meiner Hausärztin, da ich die unentwegten Magenschmerzen nicht mehr ertragen konnte. Ich konnte mich bei ihr nur mühsam beherrschen, nicht in Tränen auszubrechen. Sie schaute immer wieder auf meinen Ehering, den ich auf jeden Fall im Büro bis zum Tag der Scheidung tragen würde. Dann gab sie mir etwas gegen die Bauchschmerzen, ein Antidepressivum und eine Broschüre mit Namen von Psychotherapeuten in meinem Bezirk.
Meine Mutter hatte mir eine Broschüre von Selbsthilfegruppen in den Briefkasten gesteckt. Darauf hatte sie geschrieben: „Du bist wer!“
Ich brauchte so schnell wie möglich Hilfe. Ich saß niemals depressiv herum, außer wenn ich Rotwein trank und Zigaretten rauchte (ich wunderte mich, wie schnell aus einem Nichtraucher ein Raucher werden konnte), ich lief immer wie eine Gehetzte herum, immer unruhig und immer überlegend, was ich als Nächstes tun könnte.
Abends fuhr ich zu Katja zum Essen. Ihre Schwester Vanessa war auch da, sie hatte sich gerade von ihrem Ehemann getrennt. Katja hatte nach wie vor Kummer mit ihrem Freund. Es tat uns allen drei so gut, sich gegenseitig auszusprechen. Ich musste immer reden, etwas anderes als mein Kummer und der meiner Freundinnen interessierte mich zurzeit nicht.
10. November
Im Büro fing ich mitten in der Arbeit an zu weinen. Anita fragte mich, ob ich eine Runde mit ihr drehen wollte. Die kalte Luft tat mir gut. Ich erzählte ihr ein paar Sätze, keine Details, aber gerade so viel, dass es mir gut tat. Ich war ihr so dankbar, weil sie mir eine Menge Arbeit abnahm, die ich zurzeit nicht bewältigen konnte. Die anderen Kollegen sollten es nicht erfahren. Ich wollte mir einen Ort bewahren, an dem ich mich normal geben und an dem ich normal behandelt werden wollte. Außerdem hätte es sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen.
Abends hielt ich es nicht zu Hause aus. Ich fuhr wieder zu ihm. Die Haustür war angelehnt, und ich konnte ohne Probleme durch den Hof in sein Fenster spähen. Sie waren zwar durch Tücher verhängt, aber links und rechts von ihnen waren Spalte. Sie saßen auf einem zusammengefalteten Karton, sahen fern, tranken Rotwein und rauchten. Auf dem Herd stand Essen. Dann beugte sie sich zu ihm herüber, und sie küssten sich. Ich fand, er sah dabei merkwürdig aus, steif und mit halb verrenktem Hals, so, als ob er keinen Spaß dabei hatte. Den hatte er sicher auch nicht. Es war sicher ein merkwürdiges Gefühl für ihn, plötzlich eine andere Frau zu küssen. Ich konnte sehen, dass er noch keine Möbel hatte – bis auf die Küchenmöbel, die schon halb aufgebaut waren. Auf jeden Fall hatte er mich angelogen. Es war nicht aus zwischen ihnen, sondern es ging weiter. Ich konnte sie mir genau ansehen. Sie war höchstens vierundzwanzig und dünn, und ich fand sie sehr unattraktiv. Die Augenbrauen hatte sie rasiert und mit einem Stift nachgezeichnet. Sie konnte ihm unmöglich gefallen.
Ich wollte ihnen keinen schönen Abend gönnen, also rief ich ihn von zu Hause an und fragte ihn, wann er die restlichen Sachen holen wollte. Er sprach müde und langsam vom Alkohol: „Ich weiß noch nicht. Wann bist du denn nicht da? Vielleicht am Montag.“
Ich wollte ihn aus der Reserve locken: „Hat denn deine neue Freundin ein Auto? Ich würde es dir ja bringen, aber dann ist sie da, und das will ich nicht.“
„Nein, nein, hier ist keiner.“
„Doch, ihr wohnt doch zusammen. Du musst mich nicht anlügen.“
Ich fragte, ob seine neue Freundin einen Job hätte. Er sagte, er wolle jetzt nicht reden, und wir hängten ein.
Nach dem Telefonat ging es mir besser, und ich hatte keine Bauchschmerzen mehr. Er hatte mich angelogen! Er hatte mich nicht verdient! Meine Liebe war vorbei! Ich spürte plötzlich einen Energieschub.
Sie hatten sich einfach so geküsst, ohne dass er über sie herfiel. Wenn wir uns geküsst hatten, wollte er immer gleich Sex. Außerdem war er Raucher. Das waren die Gründe, warum wir uns nur noch selten geküsst hatten, außer beim Sex. Es tat sehr weh zu sehen, dass er eine andere küsste.
Ich rief Vanessa an und erzählte, was ich gesehen hatte. Sie fragte, warum ich dort hingefahren wäre. Ich antwortete, dass ich die Trennung schneller verarbeiten würde, wenn ich die Dinge mit eigenen Augen sehen würde. Auch wenn es mir unglaublich wehtat. Nur so konnte ich versuchen, das Gesehene mit meinem Verstand aufzunehmen und mich nicht selbst zu belügen.
Ich nahm eine halbe Tablette Antidepressiva. Ich schlief genauso wenig und wachte zwischendurch zweimal auf, aber wenn ich schlief, dann tief.
11. November
Es war ein Samstag. Ich hatte die schlimmste Woche aller Zeiten hinter mir, sämtliche Liebeskummer-Symptome und war nur am Weinen. Die halbe Tablette wirkte noch. Ich war bleischwer und saß bis um 14.00 Uhr untätig nach dem Frühstück an meinem Esstisch herum. Innerlich war ich jedoch total unruhig. Ich hatte die ganze Zeit die gestrigen Bilder vor Augen. Ich konnte heute nicht einmal weinen, so gelähmt war ich. Ich wollte schnell aus der Wohnung ausziehen, die zu Ende Januar gekündigt war.
Nachmittags rief ich ihn an. Es sprudelte aus mir heraus. Ich bemühte mich, freundlich zu sprechen, um einen Streit zu vermeiden. Ich sagte ihm, dass er irgendwann angefangen hatte, sich mit seinen Freunden zu vergleichen. „Aber sind sie wirklich besser? Sind sie glücklicher? Ich glaube nicht. Wenn die Liebe zur Routine wird und der Alltag die Liebe erdrückt, muss man Gemeinsamkeiten finden und mehr Zeit zusammen verbringen. Ich machte immer Vorschläge wie Sport, Kultur, Ausflüge. Das machte dir keinen Spaß. Irgendwann erwiderten wir auch unsere körperlichen Annäherungsversuche nicht mehr. Und mein Verantwortungsbewusstsein und mein Pflichtbewusstsein überdeckten die Liebe. Vielleicht hätte ich mich auch mehr für Autos und Elektronik interessieren müssen.