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Die ersten drei Wochen hatten wir keinen Ausgang. Wir durften nicht aus dem Schulgelände raus. Heimfahrt war auch für Schüler aus der nächsten Umgebung untersagt. Wer trotzdem heimlich abzuhauen versuchte, wurde geschmissen. „Auf dem Schiff kann man auch nicht einfach aussteigen, wenn man mal Lust hat!“, war die logische Begründung. „Was brauchen wir an Land zu geh'n, wir könn' das Land von Bord aus seh'n! Wiederhole!“ Das sei der Wahlspruch der Tankerfahrer im Persischen Golf, brachte uns Schönfeld bei.
Doch es gab Ausgang: für Kirchgang. Sonntags früh beim Rapport hieß es „Kirchgänger vortreten!“ Diese waren sehr zahlreich in den ersten Wochen. „Katholen rechts, Evangelen links!“ „Brummer, du bist verantwortlich für die Kirchgänger. Alle heil in die Kirche bringen und vor allem wieder heil zurück! Und pünktlich! Wegtreten!“ So eine lange Order hatte ich noch nie bekommen. Ich hatte es schwer, sie zu wiederholen. Wir zogen nach dem Frühstück gemeinsam los. Wie teilten uns in zwei Gruppen. Nein. Da war plötzlich eine dritte! „Ihr bringt uns nicht in den Dom! Wir warten auf euch in der Kneipe!“ „Scheiße“, dachte ich und sagte „lasst euch ja nicht sehen! Und seid pünktlich wieder da!“ Als Treffpunkt machten wir die erste Kneipe aus, an der wir beim Herkommen vorbeigelaufen waren. Unsere zwei Gruppen gingen in ihre Kirche, die dritte ging dahin, wo die Gebetsbücher Henkel haben, wie man in Bayern sagt. Vielleicht wussten die Pfarrer von unserem Timing-Problem, denn die Messen hörten früh genug auf, so dass auch wir echten Kirchgänger noch Zeit zu einem Bier hatten. Ich zählte durch. Meist waren alle da oder stießen irgendwo auf dem Rückweg zu uns. Manche steckten noch eine Flasche ein, für schlechte Zeiten... So kamen wir ungefähr pünktlich zurück. Keine Strafdienste! Ich meldete „Alle Kirchgänger zurück!“ „Wegtreten!“ Zum Glück wurde nie der Zustand der Kirchgänger überprüft. So vergingen die ersten drei Sonntage. Anschließend war frei. Außer Posten, Küchendienst usw., wir konnten lesen, Hausaufgaben machen, aber nicht raus.
Nach vier Wochen erster Landgang! Nachmittags. Die Hauptattraktion war der ‚D-Zug‘, eine Kneipe mit Musik. Eine der ersten Diskotheken. Klar, dass alle anfangs dahin gingen. Mir war das etwas zu laut und vor allem zu teuer. Es gab aber in Bremervörde viele gemütliche Kneipen mit gemütlichen Leuten und gutem Bier. Mir schien, als hätten die Leute in den Kneipen uns Seemannsschüler gern. Oft gaben sie uns einen aus und noch einen... Es schien, die hätten einen Mordsspaß daran, uns abzufüllen... Unsere Kirchgänger-Gruppe hatte sich stark reduziert, seit es Landgang gab. Wie üblich trafen wir uns nach der Messe in unserer „ökumenischen Kneipe“ zu einem kleinen Bier vor dem Rückweg.
Man hatte uns gerade das Bier serviert, da geht die Tür auf und herein kommt Peters, der Ausbildungsoffizier der Backbordwache. Man sieht ihm an, er hat eine harte Nacht hinter sich! Er steht nicht ganz sicher und hat seinen doppelten Blick. Er begrüßt seine Kumpels, er scheint hier jedermann zu kennen. Wir standen am Tresen und wären zu gern unsichtbar geworden. Wir hofften, dass er so dicht wäre, dass er uns nicht erkenne, oder sich sage, heut' ist Sonntag, drücken wir mal ein Auge zu, oder besser beide. Außerdem war er ja gar nicht im Dienst. Er suchte wohl noch andere Kumpane, um ihnen von seiner durchgesoffenen Nacht zu erzählen, da fällt sein Blick auf uns. Er nimmt etwas Haltung an, zeigt mit dem Finger auf uns, „Jo wat mokt ihr denn do? Seid gar nich in die Kirche? Morgen früh Rapport!“ Wir tranken unser Bier schneller aus, als es gezapft worden war und verschwanden. Was machen? Der glaubte uns ja sowieso nichts. Am Montagmorgen, beim Rapport kamen wir uns vor wie die ersten Christen, als sie für ihren Glauben in die Arena geschickt wurden. Wir mussten Kapitän Neugebauer und seiner Bestie gegenübertreten: Eine Woche Kartoffeln schälen!
Eine willkommene Unterbrechung der Unterrichtsstunden war Seemannschaft. Wir standen im Kreis im Takelkeller und übten Knoten mit Papendieck. In diesem Raum schwebte ein Aroma von Tauwerk und Holzteer. Jeder von uns hatte einen Tampen in der Hand und versuchte, die Gebilde, die der Bootsmann uns zeigte, nachzuvollziehen. Seine und auch unsere Geduld wurden auf harte Proben gestellt. Vom halben Schlag bis zum doppelten Palstek wurde uns alles eingebläut. Vorwärts, rückwärts, hinterm Rücken, fast noch bei Kopfstand... Manchmal knipste er das Licht aus: „Doppelter Trossenstek“. Als es wieder hell war, machte er die Runde, spöttelte über unsere Gebilde, regte sich auf, wenn nichts geklappt hat. Gelobt wurde nie, nach seiner Devise: „Kein Tadel ist schon höchstes Lob!“
Wir lernten rechtsgeschlagenes von linksgeschlagenem Tauwerk zu unterscheiden, wussten bald, was ein Kardeel ist, ein Kabelgarn, eine Seele. Lernten den Unterschied im Schlag von Lotleine und Logleine, lernten wie herum Tauwerk aufzuschließen ist. Schlugen die englische Bucht, um Kinken zu verhindern und dass einem Drahttauwerk ins Gesicht springt. Wir wussten bald, wie man zwei Tampen miteinander verflicht (spleißen), „üüüber ein Kardeel, uuunter ein Kardeel, kann sehn? Wiederhole!“, lispelte Papendieck.
Wir arbeiteten mit Pricker und Marlspieker, spleißten Augen und Stroppen. Bald konnten wir Wurfleinen aufschießen, klar zum Laufen oder zum Verstauen. Wir flochten Wurfleinenknoten, Affenfäuste und schlugen Henkersknoten. Hüsing stecken („kann sehn Hüüsing?“) und Bootsmannsnaht waren uns bald geläufig und mit dem Segelhandschuh hantierten wir so gut wie unsere Mütter mit dem Fingerhut. Reff-Bändsel annähen, Taklinge setzen, nähen, flechten. Man lehrte uns, dass der Langspleiß auf den Schiffen nicht gern gesehen ist, gerade bei kurzem Gut (Bruchgefahr).

Die ‚Schiffsleitung‘
Wir lernten Taljen (Flaschenzüge) scheren und diese wieder zu enttüddeln, wenn sie durchgefallen waren. Wir lernten den Unterschied von laufendem und stehendem Gut („nur in eurer Hose ist es ein und dasselbe“). Papendieck zeigte uns, wie man eine Stelling (Planke für Arbeiten außenbords) ansteckt oder einen Bootsmannstuhl (kleinere Ausführung für Arbeiten im Mast). Lotsenleiter, Jakobsleiter, alles wurde uns gründlichst erklärt. Langeweile war ein Fremdwort hier im Takelkeller. Wenn irgendein Fachausdruck im Normalgebrauch eine obszöne Bedeutung hatte, dann wurde das so oft wiederholt, bis wir's intus hatten. „So behaltet ihr das wenigstens im Gedächtnis.“ Eines dieser Worte war „runterholen“.
Eines Morgens, beim Waschen, wurde überall getuschelt, dass Mayer nachts beim Wixen erwischt worden war. Ein Zimmerkollege hatte ihm mitten in der Nacht die Bettdecke weggezogen und ein anderer hatte schnell das Licht angemacht. So zum Spaß. Jetzt war der arme Mayer in aller Munde und wurde um halb 8 Uhr beim Rapport aufgerufen. Auf die Frage, was vorgefallen war, gestand er fast flüsternd, dass er sich einen runtergeholt habe. 1 Woche Kartoffeln schälen. Und nie wieder, sonst Rausschmiss! Der arme Mayer! Ich glaube, viele litten mit ihm. „Wer macht das nicht?“, hatte ich herausschreien wollen. Hätte ich sollen! Es war eine große Ungerechtigkeit! Die Jüngsten von uns waren 14 und irgendwie muss man den Druck doch rauslassen. Soll es einem denn den Sack zerreißen? Eher sollten die, welche die Decke weggezogen haben, bestraft werden! Aber wir schwiegen! Aus Angst vor Repressalien, und um nicht selber das nächste Opfer zu sein. Als Mayer zum Frühstück in den Speisesaal ging, rief die Grewer durch die Essensausgabe: „Da kommt er ja, Mayer, der alte Wixer.“ Als er Küchendienst hatte, fasste sie ihm an die Eier. „Lass mal sehen, ob du wieder einen Steifen hast, du Wixer!“ Diesen Namen behielt er bis zum Kursende.
Es ging das Gerücht um, dass auf dem Dachboden aus den Koffern Geld geklaut worden sei. Wir bekamen alle die Leviten gelesen, dass das von Anfang an verboten gewesen sei, und auch in seinem Schrank dürfe man keines aufbewahren. Die 2 Ex-Bundeswehrler und ein paar kräftige Burschen bildeten eine „Befragungskommission“, Gerd, der Heizer, war auch dabei. In seinem Kokskeller tagte dieses Gremium. Die Verdächtigen wurden (ich bin sicher, mit Zustimmung der Schulleitung) beiseite genommen und unter etwas kräftiger Weise dazu gebracht, die Wahrheit, nichts als die Wahrheit, zu sagen. Einmal landete ich durch Zufall in einer dieser Befragungen. Ich wollte eigentlich Gerd besuchen und öffnete die Kellertür. Da sah ich sie alle und dachte, was ist denn da los? Es war da auch einer der Verdächtigen. Sie hatten ihn im Schwitzkasten, einen Arm auf den Rücken gedreht. An diesem Abend hatten sie wohl vergessen, die Tür abzuschließen. Jetzt konnte ich mir auch so manches blaue Auge erklären, hatte es doch keine Schlägereien gegeben. Drei flogen von der Schule. Die „Befragungskommission“ war mehr eine geheime Sache. Niemand sprach darüber, weder die Schulleitung, noch wir. Jeder wollte Ärger vermeiden.
Eines Morgens, beim Antreten, hisste der Posten feierlich wie immer die Flagge. Während die deutsche Flagge langsam emporstieg, wurden die zwei anderen, die von der Seemannschule und von Hamburg ‚aufgetucht vorgeheißt‘, und in dem Augenblick, wenn die deutsche an der Spitze der Gaffel angekommen war, durch einen kurzen Ruck an der Leine geöffnet. Doch plötzlich wurden die einen starr vor Schreck, andere lachten, denn an der Stelle der Flagge der Seemannsschule flatterte ein Putzlumpen aus der Küche! Es dauerte etwas länger, bis die Schulleitung das entdeckte. Ein schriller Pfiff vom Kapitän, seine Worte überschlugen sich. „Runterholen!“ Wir dachten an Meyer und mussten innerlich lachen. Betraf das uns oder den Lumpen? Anweisungen wurden in alle Richtungen gebellt und übertrieben langsam, so schien uns, kam das Tuch wieder zurück zur Erde. Wutentbrannt, den Kopf knallrot, entfernte sich der Kapitän mit seinem Hund am Schlepptau. Die Lösung des Problems überließ er seinen Offizieren: Rausschmiss der beiden ‚Übeltäter‘! Mit anderen Worten: Ende der seemännischen Laufbahn, bevor sie richtig angefangen hatte.
Als wir die Schule begonnen hatten, waren wir alle gemessen und gewogen worden. Diese Prozedur wiederholte sich jeden Monat. Es gab da eine Regelung, die besagte, dass Jan Maat (der Seemann) mindestens 1,50 Meter groß sein muss und 50 Kilo schwer. Sonst bestünde Gefahr, dass der Wind ihn fortpuste. Einer von unserer Wache wog nur 46 Kilo. Zum Glück war er aber 1,50 Meter groß, sonst hätten wir ihn in die Länge ziehen müssen. So kümmerte sich nur die Grewerin, unsere Köchin um ihn. Nicht, dass sie ihn mit ins Bett nahm oder die Brust gab, nein, sie verpasste ihm täglich eine doppelte Portion Muschelsuppe. Seine Muscheln nahmen zwar nicht zu, dafür aber sein Bauch. Das sahen wir beim Duschen. Sein Bauch wölbte sich zusehends über seinem kleinen Pimmel und begann Ringe zu bilden.“ Morfi Pipifax“ wurde er von offizieller Seite ab dem ersten Tag benannt und von uns auch. Dieser Name hat ihn bestimmt noch lange begleitet.
Manchmal zog Peters, der AO (Ausbildungsoffizier) der Backbordwache, sein Schifferklavier heraus. Das und die Kneipen waren sein Element. Das geschah oft abends. Bei diesen kameradschaftlichen Ausbrüchen lernten wir 'ne Menge Shantys. Tagelang gingen sie mir nachher durch den Kopf, wie Ohrwürmer. Oft summte oder sang ich sie vor mich hin, wenn ich Posten Tor oder Hafen ging. Ich kannte alle Texte auswendig. In mir erstanden Bilder von Klippern und Seegang, überkommenden Wellen und Maloche.
Es gab in Bremervörde den Gesangsverein „Harmonie“. Der lud unseren schnell von Peters gegründeten Schulchor zur Feier seines 100-jährigen Bestehens ein, ins Hotel „Schützenhof“. Peters gab sich größte Mühe, unsere Stimmbänder salonfähig zu machen. Den Rest machte unsere Begeisterung. Wir lernten „Rolling Home“, „Wo die Nordseewellen“, „Drunken Sailor“, „Die Hoffnung“ und so viele andere Songs. Mir war, als vermittelte er mir mehr Wissen über die Segelschifffahrt, als aller Unterricht zusammen. Klar, dass wir an diesem Abend nicht um 10 Uhr in der Schule waren. Fast alle Schüler haben an diesem Gesangsabend teilgenommen, auch wenn viele, wie ich, kaum singen konnten. Nach Mitternacht ging es zurück an Bord. Nur Peters hielt die Stellung und zeigte diesen Landratten, was ein Seemann aushält!

Shanty-Abend mit Peters
Manchmal saßen wir abends im Takelkeller, ein paar Kumpels, um etwas weg vom Lärm zu sein. Ich hatte meine Mundharmonika dabei und versuchte, die bei Peters gelernten Shantys zu spielen, um uns die Zeit zu verschönern. Janke spielte auf seiner Gitarre. Es ging auf Weihnachten zu, es begann zu schneien. Auf Posten Tor durfte man Ölzeug überziehen, aber nicht die Hände in die Taschen! Diese zog ich in die Ärmel zurück, wie eine Schildkröte ihre Flossen in ihren Panzer. Zu dieser Gelegenheit durften wir den Reißverschluss unseres Rollkragens ganz zuziehen. Wie kam ich mir manchmal einsam vor! Ich sang vor mich hin „Aft on the quarterdeck, walking about, there is the starbordwatch so sturdy and stout. Thinking of his mother, and he hopes she is well... and I wish that you will hurry up and strike the bell, strike the bell, second Mate let us go below.....“ Ich glaube, Traurigkeit ist fast dasselbe wie Glück. Fernweh dasselbe wie Heimweh. Zumindest bei mir... Meine Hände waren kalt, und ich wischte mir einen Tropfen von der Nase. Ich war glücklich.
Im Hof stand, wie schon berichtet, ein mehr als 20 Meter hoher Mast, an dessen Gaffel und Rah morgens die Flaggen gehisst wurden. Hinten dran war ein Ladebaum befestigt, mit einer Winde, wie auf einem Schiff. Diente dieser, um uns mit der Ladetechnik vertraut zu machen, so diente der Mast eher als Mutprobe. Wir durften ihn nur unter Aufsicht besteigen, angeblich, weil die Takelage nicht mehr sehr solide war. Als wir das erste Mal die Wanten hoch kletterten, wurde so manchem mulmig in den Knien. Morfi Pipifax schaffte es nur eskortiert von zwei Großen. Seine Beine waren zu kurz zum Steigen. Das Schwierigste war, auf die Saling zu steigen, um den Mast auf die andere Seite zu gehen und dann rückwärts wieder runter zur Mutter Erde. Wenn wir uns das Ganze dann mehr als doppelt so hoch vorstellten und noch schief dazu und in Bewegung, dann konnten wir uns in etwa denken, wie es auf den Seglern zuging! Alle mussten darüber. Ohne Mast kein Schiff! Kein Schiff ohne Mast.
Der Ausgang am Wochenende wurde etwas verlängert, wegen guter Führung. Bis zum Abendessen. Doch das dauerte nicht lange. Denn die Gelegenheit macht den Dieb, oder hier bei uns, den Säufer. Das wäre alles unbemerkt verlaufen, wie schon so oft. Doch die unfehlbare Schulleitung hatte beschlossen, die Zugangstüren für die Toiletten und Waschräume von 20 Uhr bis Mitternacht zuzuschließen. Auch für die Nichtausgeher. Wohl, damit wir unsere Blasen trainieren konnten. Was blieb uns anderes übrig, als durch die offenen Fenster in die Dachrinnen zu pinkeln. Ein paar Wochen blieb das unbemerkt, wenngleich es anfing, im Obergeschoss nach Latrine zu stinken. Je mehr man lüftete, umso mehr roch es...

„…mit sechzehn hat man noch Träume!“
Kritisch wurde die Situation erst, als ein paar von uns durch nächtliche Magenrevolten veranlasst (egal warum), sich in die Dachrinne übergaben. Nicht schlimm für das Dach. Das ließe sich mit ein paar Eimern Wasser klären. Es fiel leider etwas von unserem mit Bier verdünntem Mittagsessen in den Hof. Genau auf die Stufen des Haupteinganges, über die morgens die ganze Mannschaft, einschließlich Schulleitung, zum Rapport in den Hof ging. Skandal. Selbst der Schäferhund des Kapitäns geriet in Erregung, waren da doch noch ein paar schöne Brocken Sonntagsbraten drin! Da die Urheber sich nicht meldeten, sei es wegen Hirnausfalls, oder weil sie befürchteten, geschmissen zu werden, und weil die Verpetzer ausnahmsweise die Klappe hielten (vielleicht waren sie es, die keinen Alkohol vertrugen?), wurde die ganze Steuerbordwache, deren Schlafräume sich da oben befanden, bestraft. Da es gar nicht so viele Klos gab, die wir hätten putzen können, verdonnerte man uns alle zu einer Woche Geländeputzdienst. Somit wurde das Gelände um den Bootshafen und danach das um die Schule einer gründlichsten Reinigung unterzogen.
Im Speisesaal und im Hauptflur standen ein paar Schiffsmodelle unter Glasvitrinen. Wir drückten uns daran die Nasen platt, um alles genauestens zu betrachten, hatten doch viele, auch ich, noch nie ein richtiges Schiff gesehen. Wir stellten uns vor, wir seien darauf und schon auf See. Die drei Monate Schule waren wirklich eine lange Wartezeit! Es wurde das Gerücht verstreut, dass, wenn wir alle gute Noten hätten und uns gut benähmen, wir noch vor Weihnachten die Prüfungen hätten und frühzeitig nach Hause fahren könnten. Nicht erst am 5. Januar, wie vorgesehen. Mich berührte das nicht, wollte ich doch gleich hinterher aufs Schiff gehen.
Unsere Meute war eine Zusammenfassung aller möglichen Berufe und Schulabschlüsse. Eine knappe Hälfte der Schüler war vorher schon berufstätig gewesen: Bankkaufmann, Reedereikaufmann, Installateur, Angestellte, 2 Soldaten.... Die andere Hälfte kam, wie ich, direkt von der Schule, manche mit, manche ohne Abschluss. Einige waren helle, aufgeweckt, andere etwas langsam, einfältig. Sie forderten geradezu heraus, verarscht zu werden. So wie Klaus. Franz, unser Oberwitzbold, hatte einen Regenwurm gefunden. Er war aus Ostdeutschland. Und da es dort an manchem mangele, hätte man den Regenwurm zu einer Spezialität entwickelt. Frikadellen würden daraus hergestellt. Sehr bekömmlich und nahrhaft, sollte man ihn mal der Köchin vorschlagen, vielleicht um die Muschelsuppe zu verbessern! Klaus staunte. Franz tat, als verschluckte er einen. Mmmh, war der gut! „Lass mich auch mal“, sagte Klaus und probierte einen. Er fand, dass sie nicht so übel sind, und aß gleich noch welche. Danach erzählte er die Geschichte überall herum. Sie kam auch an die Ohren der Schulleitung. 1 Woche Kartoffeln schälen für beide. Das war der Spaß aber wert gewesen! Klaus hieß seitdem „Würmi“.
Da war Kalli, ein etwas komischer Kerl. Nicht nur, dass er sich hauptsächlich von seinen Fingernägeln ernährte (bei unserer Diät vielleicht eine nützliche Beigabe), sondern er war auch sehr sparsam mit Wasser. Eigentlich eine gute Eigenschaft auf See. Doch mit der Zeit nahm er einen etwas herben Geruch an. Man roch ihn schon, bevor er überhaupt da war. Das brachte unsere „Spezialeinsatztruppe“ dazu, ihn nicht unter die Lupe, sondern unter die Dusche zu nehmen. Mitsamt Klamotten! Von jetzt an musste er regelmäßig unter Aufsicht duschen. Wir hofften, so würde er seine Gewohnheiten ändern.
Weihnachten rückte näher. Außer den Prüfungen musste Großreinschiff gemacht werden. Der Speisesaal wurde vollständig ausgeräumt. Mit Glasscherben zogen wir den Parkettboden ab, bis er nur noch blankes Holz war. Das Essen musste improvisiert werden. Dann Bohnern und Plockern. Diese Arbeit nahm einen ganzen Tag in Anspruch. Die Fenster im ganzen Haus wurden gewaschen und anschließend mit Zeitungspapier blank gewienert. Das Kompasshaus im Flur wurde mit Sidol auf Hochglanz gebracht. Die Flure wurden gescheuert, der Keller umgekrempelt. Fast hätten wir noch im Kokskeller Staub gewischt! Zu Glück verlangte das niemand.
Nichts entkam unserem Sauberkeitsrausch. Jeder gab sein Äußerstes, sowohl beim Putzen, als auch in den Prüfungen. Auch die Offiziere machten mit. Gegen Ende der Schulzeit kam ein Brief von der Reederei ‚Hamburg-Süd‘ und ein anderer von den ‚Deutschen Afrika- Linien‘. Der Erste las sie vor. Jeder sagte das Gleiche: Beide Reedereien hatten ein Schiff umgerüstet zum Ausbildungsschiff. Sie suchten Decksjungen, die mit Ausbildungsvertrag anheuern wollten... Für erstere war das Fahrtgebiet Südamerika, für die andere besagte es ja schon der Name: Afrika. Nach kurzem Überlegen entschied ich mich für die Afrika-Linien, weil deren Schiff, die „Natal“ schon am 6. Januar auslaufen sollte. Hans-Dieter, ein Wache-Kamerad, war mit von der Partie. Es war die Aussicht auf 6 Monate Fahrtzeitverkürzung bis zum Matrosen, die mich lockte und die Tatsache, dass es ein Ausbildungsschiff war. Ich wollte möglichst viel lernen, hatte ich doch etwas gefunden, für das ich mich wie geboren fühlte: die Seefahrt.

Unser Ausbilder und die Zukunft der Seefahrt…
Eigentlich waren die gesteckten Ziele erreicht: Wir hatten alle die Prüfungen bestanden, hatten den Rettungsbootsschein in der Tasche, und Morfi Pipifax brachte 51 Kilo auf die Waage! Die Schule glänzte mehr als damals, als sie höhere Töchter beherbergte. Der Wachoffizier holte den Dachbodenschlüssel. Wir stürzten uns auf unsere Koffer und stopften sie voll mit den gestern noch säuberlichst gefalteten Wäschestücken. Die Grewer nahm ihre vorsegelgroßen Schlüpfer von der Leine, wir das letzte Mal die deutsche Flagge.
Wir waren frei!
Auf Papendiecks Wahlspruch vertrauend „Ein Seemann kann alles“ gingen wir endlich auf See.
MS NATAL

Baujahr 1953, Deutsche Werft, Hamburg.
6279 BRT, 8640 to Tragfähigkeit.
Länge: 131,7 m, Breite: 17,3 m, Tiefgang: 7,5 m.
6-Zylinder Dieselmotor MAN, 4000 PS. Geschwindigkeit: 14 Knoten
Besatzung: 37 Mann + 6 Kadetten
HOTEL „ZUR SCHRAUBE“
Schon beim Verlassen der U-Bahnstation Landungsbrücken bin ich wie gebannt. Mir zu Füssen liegt das ganze Hafenpanorama. Da recken sich stählerne Metallgebilde in den grauen Winterhimmel über der Elbe, die Seilkrananlagen der Deutschen Werft, der Howaldt, und die der Stülcken-Werft. Wohin man schaut, emsiges Treiben. Große Pötte, kleine, Barkassen, Fähren. Die Elbe wimmelt wie ein gigantischer Ameisenhaufen, den man zerlegt hat. Aber es ist ein geordnetes Durcheinander, wie ich schnell wahrnehme. All die beweglichen Teilchen haben ein Ziel. Irgendwie kommt es mir zu Bewusstsein, dass ich mitten im Weg stehe. Um mich herum ist ebenfalls ein hektisches Kommen und Gehen. Ganz Hamburg ist ein riesiger Ameisenhaufen. Vielleicht ist es mein bayerischer Geruch oder der Anblick meines Seesacks, der eine der vorbeieilenden Ameisen dazu bringt, anzuhalten. „Wo soll's denn hingehen?“, fragt diese. „Aufs Schiff“, antworte ich, „nach Waltershof“. „Dat is einfach: über die Brücke runter auf den Anleger. Von Brücke 4 geht die HADAG-Fähre alle 20 Minuten weg. So grön-witt gestrichene Boote sind dat!“
Da steh ich nun auf dem Ponton. Auf der gegenüberliegenden Seite erkenne ich große, mit Rostschutzfarbe gestrichene Kästen. Das müssen Schwimmdocks sein. Über diese hinaus ragen die Aufbauten und Masten der darin in Reparatur liegenden Schiffe. Daneben das muss ein Trockendock sein. Von dem wie versenkt darin liegenden Tanker sieht man nur die Heckaufbauten. Ich hatte gelernt, dass ein Trockendock geflutet wird, damit das Schiff hineinfahren kann. Dann wird es geschlossen, das Schiff gut vertäut und das Wasser herausgepumpt. Schon liegt der Kahn im Trockenen und die Dreckarbeit kann beginnen: Algenbewuchs entfernen, Rost weg, dann alles mit giftiger Spezialfarbe streichen, dem Unterbodenschutz. Da, wo das Schiff im Leerzustand aus dem Wasser ragt, bis hin zur Ladelinie, wenn es voll ist, wieder eine Spezialfarbe, das Bootop. 1 Mal jährlich muss das gemacht werden. Durch den Bewuchs am Boden verliert sonst das Schiff an Geschwindigkeit. Weiter rechts von der Werft soll Waltershof liegen, und dort, bei Müller und Progress, mein Schiff, hatte mir der Fahrkartenverkäufer in der Bude erklärt. Vorerst sehe ich nichts als Dunst.