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„Achterleine an Land!“, bellt der Lautsprecher. Ein erfahrener Matrose wirft die Wurfleine, die er vorher sorgfältig klar zum Laufen aufgeschossen hat, mit einem lauten „Kiek ut!“ zum Kai. Einer der Festmacherleute da unten schnappt sich diese und zu zweit ziehen sie die erste Festmacherleine an Land. Eine weitere Wurfleine. Der Knoten verfehlt den Kopf des Festmachers um wenig. Der ist sauer. Er denkt, der Matrose hat das extra gemacht. Das kann schon sein... Dann geht die erste Manila an Land. „Hoffentlich verklemmt sich kein Kinken am Poller“, flüstert mir Schmidchen zu. Dann stecken wir seitlich die Spring (Leine, die von hinten Richtung mittschiffs geht) aus. Die Festmacher an Land können sie so ergreifen. „Zwei Achterleinen fest, Spring fest!“, meldet der Offizier. „Spring durchhieven“, sagt die Wechselsprech. „Hievt Spring!“, ruft der Bootsmann, der über die Reling gebeugt den Abstand zwischen Kai und Schiff beobachtet. Mit der erhobenen Hand macht er eine kreisende Bewegung zum Matrosen an der Windenbedienung. „Spring festhieven!“ Er macht eine Faust. Der Windenmann hält an. „Beleg Spring!“ Einer klemmt die Spring mit einem Kettenstopper ab. Der Matrose am Spill wirft die Buchten ab. Wir Junggrade holen die Lose herbei, während einer die Trosse auf dem Poller in 8er-Schlingen belegt.

Reger Betrieb auf dem Kai
„Schlepper los!“, ertönt es von oben. Der Haken des Schleppers klickt auf und gibt die Manila frei. Da die 2 Spillköpfe in Betrieb sind, holen wir sie per Hand ein: „Hol weg! Hol weg!“, gibt ein Matrose den Takt an. Dann stecken wir diese Manila auf der Backbordseite, der Landseite aus. Aufs Spill damit und hieven. Seilstopper und belegen. Wir rennen ganz schön hin und her. Das heißt, vor allem die anderen. Ich versuche das Durcheinander zu verstehen und nicht den Fuß in einen Kinken zu setzen. Jetzt verstehe ich, was es heißt, wenn jemand sagt: „Geh aus die Kinken!“ Auf bayrisch: „Schaug dass 'd wegkimmscht!“ Die Schlepper entfernen sich mit einem kurzen Gruß mit dem Nebelhorn. Wir haben alle Leinen fest. Vier Achterleinen und eine Spring. Die Festmacher haben die Schmeißleinen nicht zurück an Bord geworfen. Weil sie sich rächen wollen für den knappen Wurf. Zum Glück haben sie sie nicht geklaut. Also muss einer von uns runter, und sie holen. Hoffentlich machen sie keinen Stunk! Da kommt die Order durch, dass das Manöver beendet ist. Wir denken, es ist Feierabend. Nein! „Achterschiff aufklaren, aber picobello!“ Nur ich darf weggehen. Zum Aufdecken fürs Abendessen...
Hamburg im Winter. Die kalte Dunkelheit wandelt sich erst spät in ein kaltes Grau. Eiskristalle sind über Nacht an den Drähten gewachsen, das Deck glänzt vor Glätte. Wir streuen etwas Sand an den strategischen Stellen. An Land rollen die Kräne in Position, Waggons werden rangiert. Die Arbeiter wärmen sich mit einer Zigarette. Wir reißen ein paar Luken auf. Zum Glück habe ich meine Arbeitshandschuhe, sonst würden die Hände an den Leitersprossen kleben bleiben. Der Ladebetrieb beginnt. Der dafür verantwortliche Offizier spricht von 800 Tonnen. Also fast nichts für unser Schiff, das 7000 tragen kann. Langsam tauchen die restlichen Crewmitglieder wieder auf. Die, welche Familie haben, waren zu Hause gewesen. Von den Ledigen haben manche, laut ihren Berichten, währen der freien Tage und Nächte eine größtmögliche Zahl an Kneipen und Frauen durchgemacht. Dementsprechend sehen sie auch aus! Wenn das alles wahr ist, was sie erzählen, bin ich noch seemeilenweit davon entfernt, ein echter Seemann zu sein... Mein ehemaliger Seemannsschulkumpel Hans-Dieter trifft ein. „Noch eine Ratte!“, grummeln die Matrosen, „Wieviel mokt dat insjesamt? söß? Do heff wir ja noch mehr Arbit. Den halben Tog aufm Ors sittn! School, heff we ok nich brukt...“

Hans-Dieter und Fronzl, der Leichtmatrose aus Österreich am Anker- und Verholspill
Abends sitzen wir Decksjungen oft bei irgendeinem in der Bude, mit einer Flasche Bier, oder machen uns, was seltener ist, über eine Flasche Whisky her. Manchmal schaut ein Matrose herein, fragt nach Feuer oder sonst was. Selten setzt sich einer zu uns. Jetzt, wo sie den Schlaf nachgeholt haben und den Kopf entnebelt, merke ich, dass sie eigentlich gar nicht soo schlimm sind. Der Einzige, der öfters mit uns ist, ist Seubert, der Leichtmatrose. Ansonsten trinken oder unterhalten sich die verschiedenen Dienstgrade in ihren entsprechenden Ecken in der Mannschaftsmesse. In unseren Zimmern ist wenig Platz. Man sitzt auf dem harten Kojenrand, dem einzigen Hocker, auf dem Minitisch, auf dem Rand einer halb herausgezogenen Schublade, auf dem Boden. Die Tür lässt sich, zum Glück, auf einen Haken blockieren. Dadurch ist sie etwa ein Fußbreit offen, und wir ersticken nicht in unserem Zigarettenqualm. In den Tropen sei das die Dauerposition, dazu das Bullauge offen, wenn möglich mit einem „Eselsohr“ darin, einem halbrunden Blech, das den Fahrtwind herein leiten soll. Klimaanlage besitzt das Schiff keine.
Wie ist es schön, von den Tropen zu reden, während es draußen arschkalt ist und hier drinnen eine Elektroheizung die Luft verstinkt. Von den Anderen erfahre ich die bordeigenen Preise für Zigaretten und Spirituosen. Etwa 1/3 der Preise an Land! Da soll einer nicht Alkoholiker oder Lungenkrebsler werden! Mickymaus sagt mir, dass in Afrika meist mit Zigaretten bezahlt wird. Möglichst mit amerikanischen. 1 Paket für drei Ananas, 3 Pakete für eine Staude Bananen. Wir sitzen dichtgedrängt in seiner Kammer und rupfen gerade die letzten Bananen von seiner Staude. Wie schmecken die gut! Viel besser, als die aus dem Geschäft, weil sie reif geerntet worden sind. Bei all diesen Erzählungen kann ich es kaum erwarten, dass wir die Leinen loswerfen und die norddeutsche Wintersuppe weit hinter uns lassen. Doch vorerst heißt es noch volle Pulle aufklaren. Massenweise Bretter, das Stauholz, aufstapeln. Auf Stroppen, Seilschlingen. Das alles verschwindet in den Luken, um später als Unterlage, Spalier genannt, für Sackgut zu dienen, damit dieses nicht direkt den Lukenboden berührt. Die Persenninge, riesige Planen aus Segeltuch, wasserdicht imprägniert, müssen zusammengelegt werden. Die anderen Ratten zeigen mir wie. Wichtig ist, dass man sie jederzeit, auch im Dunkeln, ausbreiten kann, selbst alleine. Man faltet von außen her je eine Hälfte bis zur Mitte; das, was bleibt, wiederum bis zur Mitte, dann nochmal dasselbe, je nach Größe der Plane. Den breiten Streifen, der so entsteht, klappt man ebenfalls nur bis zur Mitte, beidseitig, und nochmal und nochmal, bis ein „handliches“ Paket übrig bleibt, das dann mit einem Bändsel zugeschnürt wird, bereit zum Gebrauch. Das wird dann in einem der Deckshäuser gelagert. Alles Tauwerk wird „fachmännisch“ von uns Lehrlingen aufgeschossen (aufgewickelt, aufgerollt) und seefest verstaut oder aufgehängt. Vieles an der Seemannsschule Gelernte wird jetzt plötzlich verständlich und kommt zur Anwendung. Immer wieder taucht ein Matrose oder der Scheich auf und motzt. „Alles Pfusch! Da merkt man, dass der Unterricht zu nichts taugt!“ und immer dieselbe Schlussfloskel beim Weggehen: „...Hammelbeine langziehen...“. Die Lehre, die ich daraus ziehe ist, 1. immer alles bestens zu machen, 2. alles kann immer noch besser gemacht werden, 3. so gut man auch arbeitet, ein Matrose findet immer was zum Aussetzen!
HEJ GEIT
Unser Ausbildungsoffizier, Herr Herk, ist eingetroffen und mustert uns skeptisch. Er ist noch ziemlich jung, trägt Bürstenschnitt. Er war vorher bei der Hamburg-Süd. Warum ist er da nicht geblieben? Die bordeigene Gerüchteküche (er)findet für alles eine Antwort. Die Besatzung ist jetzt vollständig. Die Mindestbesatzung für ein Schiff auf großer Fahrt, wie das unsere, ist 37 Personen. Damit sind alle Posten ausreichend besetzt. Dazu der Ausbildungsoffizier und 6 Kadetten, das macht 44. Dann endlich: „10 Uhr Auslaufen, bei ablaufend Wasser!“ Da Hamburg Tidehafen (Gezeitenhafen) ist, nutzen die Schiffe die Strömung, um schneller vorwärts zu kommen oder um die größere Wassertiefe auszunutzen. Schon am Vortag war es auf einer Tafel neben der Gangway angeschrieben gewesen, für die Landgänger. Die Deckswache hatte in der Früh in der Backbordrah die Flagge P gesetzt, den blauen Peter, wie man ihn nennt (blaue Flagge mit weißem Quadrat in der Mitte). Das ist nicht der Mann von der grünen Minna und hat auch nicht viel mit dem Zustand der noch fehlenden Matrosen zu tun, sondern bedeutet, dass das Schiff noch heute auslaufen wird. Ein Pfiff aus der Trillerpfeife schallt übers Deck. „Klar vörn un achtern!“, ruft ein Offizier. Wir alle begeben uns auf unsere Stationen, für die wir eingeteilt waren. Ich bin froh, für achtern eingeteilt zu sein, da fühle ich mich schon vertraut. Wir wohnen ja dort...
Der Hafenlotse kommt an Bord in frisch polierter Uniform. Lotsen haben es immer wichtig! Fast wie unser Chef in der Kombüse... Man schaute sich an. Fragt: „Hast du den und den gesehen? Bist du sicher, dass er an Bord ist?“ Es wäre blöd, jetzt „achteraus zu segeln“, hier schon das Schiff zu verpassen, ist das doch ein Grund für einen Rausschmiss. Passiert das im Ausland, muss der Betreffende den Flug für den Ersatzmann bezahlen. Ist die Mannschaft nicht vollständig, kann das Schiff am Auslaufen gehindert werden. Dann fallen zusätzliche Liegegebühren an. Das kann ein teures letztes Glas werden... Die Gangway wird eingeklappt. Die 2 Schlepper sind da. Fast unbemerkt sind sie herangeglitten und lauern auf der Wasserseite, wie sprungbereit. „Schlepperleinen raus!“, bellt die Wechselsprechanlage. „Schlepperleine raus!“, wiederholt der Zweite. „Schlepperleine an Heckklüse ausstecken!“, gibt er an uns weiter. Lederbehandschuhte Hände lassen die schon vorbereitete Trosse hinab, ein paar Buchten laufend (gleitend) um einen Poller gelegt. Die Schlepperbesatzung nimmt mit einem Bootshaken das Auge in Empfang und schleppt es zum gut gefetteten Haken, wo sie es einhängt. Der Matrose an Deck fiert aus. Mit gekreuzten erhobenen Armen gibt einer der Schlepperleute das Zeichen, dass die Länge stimmt. Der Matrose belegt mit mehreren Schlägen. „Achtern Schlepper fest“ meldet der Scheich in den Lautsprecher zur Brücke. Wahrscheinlich lief es auf der Back, dem Vorschiff, genauso. „Spring los!“, ist die nächste Order. „Heckleinen leicht fieren“, „Heckleinen los.“ Wir rennen dorthin, wo wir denken, gebraucht zu werden. Oft heißt es nur: „Aus den Kinken!“, oder man schubst uns weg: „Siehst du nicht, wo du stehst?“, „Warum fasst du nicht an? Du siehst doch, was anliegt!“ Die triefenden Festmacher kommen an Bord. Anfangs versuchen wir, sie gleich wegzuschießen. Doch alles geht zu schnell. Als die letzte losgeworfene Leine ins Wasser klatscht, steigt es in mir heiß auf. „Leinen eingeholt, Schraube frei!“, meldet der Offizier. Das war's! Jetzt geht’s los.
Kurz darauf pufft der Schornstein, das Schiff zittert, die Schraube peitscht kurz das Wasser. Dieses strömt in Strudeln gegen die Kaimauer, vermischt die dort schwimmende Ölschicht mit dem Treibgut und anderen über Bord geworfenen Abfällen. Die Schleppleine spannt sich, der Abstand zwischen Kaimauer und Schiff vergrößert sich. An der Pier öffnet sich eine große Lücke zwischen den anderen Schiffen, da wo wir gerade noch gelegen sind. Die Schraube fängt wieder an zu drehen, diesmal etwas schneller, der Schlepper bleibt an der Trosse und folgt uns im Rückwärtsgang. Ab und zu spannt sich die Leine und er korrigiert unsern Kurs.
Jetzt können wir alle etwas verschnaufen. Selbst die erfahrenen Matrosen, der Scheich, selbst der Zweite Offizier stehen da, die Hände auf der Reling, den Blick auf die im Hafenbecken zurückbleibenden Schiffe gerichtet. Wie sehen Hamburgs Wahrzeichen, den Michel, mit seiner grünen Mütze vorbeiziehen, die blaue Überseebrücke (das Kriegsschiff ist nicht mehr da). Und keiner motzt uns an. Ich erlebe einen heiligen Augenblick.
Als wir die Sankt Pauli Landungsbrücken passiert haben und Blankenese an Steuerbord erscheint, schreckt uns der Lautsprecher auf: „Schlepper los!“ „Schlepper los!“ „Was steht ihr da so rum! Habt wohl Langeweile? Habt ihr nicht gehört?“ „Schlepper ist los“, meldet der Zweite zur Brücke. „Los! Dalli dalli! Schleppleine einholen!“, faucht der Bootsmann. 3 Mal dröhnt das Nebelhorn. Wir fahren zusammen, hoffend, dass es die anderen nicht gemerkt haben. Aber ich glaube, es ist allen so gegangen. Auf dem Anleger in Blankenese stehen Menschen, sie winken uns zu. Vielleicht sind Mütter dabei, deren Söhne auf See sind... Die Schraube dreht schneller. Die Schlepper begleiten uns noch ein Stück, fallen langsam zurück. „Achterschiff aufklaren!“ Schmidchen, Hans-Dieter, der ganz Neue, und ich nehmen wieder den Kampf mit der Manila auf. Wir sind ja fast schon professionelle Schlangenbeschwörer. Danach schießen wir die Stahlfestmacher in großen Buchten (Ringen) auf, wickeln die Spring auf ihre Trommel, legen den Kokosvorläufer zickzack darüber, damit er trocknen kann. Trillerpfeifenpfiff von der Brücke. Sachsenberg hat Flötentörn (Bereitschaft), soll wohl Kaffee auf die Brücke bringen.
Und unser Kaffee? Der Scheich taucht auf. „Mickymaus, du machst mit dem Neuen (er zeigt auf mich Namenlosen) das Lotsengeschirr an Steuerbord fertig!“ Die Lotsenleiter liegt aufgerollt neben dem 2. Deckshaus. Wir schleifen sie zur Verschanzung (geschlossene Reling). „Schau her“, sagt Mickymaus, „hier sind 2 Augen auf Deck angeschweißt, extra für die Lotsenleiter.“ Das ist eine Strickleiter mit 2 Paar Hanfseilen, die durch in Holzsprossen gebohrte Löcher geführt sind. Diese Seile sind über und unter den Sprossen mit Bändseln miteinander verbunden, damit die Sprossen nicht rutschen können. Jede 5. Sprosse ist dreimal so lang wie die anderen, damit die Leiter sich nicht verdrehen kann, wenn sie außenbords hängt und das Schiff krängt. „Wir befinden uns am hinteren Ende von Luke 2. Somit hat man von der Brücke einen guten Einblick auf den Lotsenwechsel. Das ist vor allem auf See wichtig, wo das Wasser nicht so ruhig ist, wie hier auf der Elbe. Das Schiff ragt weit genug aus dem Wasser, wir können also fast die ganze Länge ausstecken. Schau her: Zuerst die beiden Tampen am Anfang der Leiter mit einem Rundtörn und zwei halben Schlägen an den Augen auf dem Deck befestigen. Nicht vergessen, erst festbinden, sonst kann es sein, dass die ganze Leiter weg ist.“ Nun rollen wir die Leiter ab bis zum Lukensüll und wieder zurück zur Verschanzung. Den Rest, ein paar Meter, werfen wir über Bord. Dieser entrollt sich schnell, das Ende der Leiter knallt etwas heftig gegen die Bordwand. „War wohl ein bisschen viel“, sagt Mickymaus und schaut hinauf zur Brücke. „Die da oben haben aber nichts davon mitgekriegt. Sind am Kaffeetrinken!“ Dann lassen wir den Rest der Leiter Sprosse um Sprosse hinab, bis alles ausgesteckt ist und prüfen die Knoten. Ein Blick über Bord zeigt uns, dass das Ende so 1 Meter über dem Wasser hängt. „Fast etwas zu hoch. Aber zu tief ist auch nichts, weil sonst die Leiter das Wasser berührt und sich bewegt. Jetzt hängen wir noch die Lotsentreppe über den Schanddeckel und vertäuen sie zur Reling hin, damit sie nicht kippen kann. Noch einen Rettungsring mit Leine in Bereitschaft und eine Wurfleine, falls der Lotse eine Tasche dabei hat, um diese daran hinabzulassen. Den Lotsenwechsel zu überwachen ist Aufgabe der Wachgänger. „Lotsengeschirr bereit an Steuerbord“, melden wir dem Bootsmann. „Zurück an die Arbeit!“, bellt er, „und wenn ihr wieder Dreck außenbords werft, dann macht das so, dass man es von oben (er zeigt mit dem Daumen zur Brücke) nicht sehen kann! Verdammt noch mal, könnt ihr nicht selber denken?“
Anscheinend hat er einen Anschiss gekriegt. Also nicht immer nur wir! Anstatt dass uns mal einer der Alten eine Arbeit richtig erklärt, muss man sich alles von den anderen abschauen. Nur die anderen Kadetten erbarmen sich uns Neuer und erklären, was wie zu tun sei. Das verstärkt die Solidarität in unserem Rattenclub. „Genug getrödelt!“, der Bootsmann war uns auf den Fersen. „Ihr Scheißhacken! Los! Ladegeschirr seefest machen!“ Zum Glück waren die Luken schon vorm Ablegen zugezogen worden. Jetzt heißt es, die Ladebäume niederlegen, in die vorgesehenen Halterungen. An die Winden dürfen natürlich nur die Matrosen. Aber die oft mit Fleischhaken (zerbrochene Drähte, die aus einem Seil herausstehen) gespickten Windenläufer (Seile zum Heben der Ladung) von den Trommeln der Winde abzurollen, mit den Kinken zu kämpfen, dann die Faulenzer (dünnes Drahtseil, das auf der Hangertrommel im umgekehrter Richtung aufgerollt ist wie der Hanger, dient zum Heben oder Senken der Ladebäume) auf dem Spillkopf einzuhaken und dann sauber auflaufen lassen, das ist Rattenarbeit! Ist der Faulenzer voll aufgespult, wird leicht weiter gehievt, bis das Pall (die beiden Randscheiben der Hangertrommel besitzen grobe Zähne; in diesen liegt beweglich eine solide Eisenstange (Pall) welche die Trommel blockiert) freikommt. Schnell muss man nun das Pall hochheben, während der Matrose langsam den Ladebaum durch Fieren des Faulenzers mit der Winsch senkt.

Willkommen-Höft in Schulau
Knirschend spult dieser zurück vom Spillkopf an seinen Platz auf der Hangertrommel, währen der dicke, gut gefettete Hanger langsam abrollt und der Baum niedergeht. Seitlich wird der Baum mittels zweier Geien (Taljen aus Tauwerk) geführt, bis er in der Halterung zum Liegen kommt. Verfehlt der Baum die Halterung, benennt man uns mit allen möglichen Namen von Tieren oder Körperteilen... Meist lassen wir die Faulenzer auf dem Spill, weil sie im nächsten Hafen als Erstes gebraucht werden. Es sei denn, man hat einen Seetörn (Seereise) vor sich. Dann werden die Ladebäume mittels der Windenläufer an Deck befestigt. Oft stellt man die Bäume auch nur fest, d. h. man lässt sie getoppt (oben) und sichert sie durch Festhieven, indem man die über Kreuz an Deck befestigten Ladeläufer mit der Winde spannt. Aber hier auf der Elbe ist es besser aus Gründen der Sicht oder Radarbeeinflussung zumindest das Vorschiff klar zu haben. Erklärt mir Mickymaus. Wie viele Ladebäume hat ein Schiff? Normalerweise vier pro Luke. Bei fünf Luken macht das also 20 Bäume, ein kleiner Wald. Da bräuchte man fast einen Förster...
Wedel kommt näher. Trillerpfiff von der Brücke: „Bereit zum Flaggedippen am Willkommen-Höft in Schulau!“ Auf der Café-Terrasse stehen ein paar fröstelnde Schaulustige. „Motorschiff Natal der Deutschen Afrikalinien, 6270 BRT auf der Ausreise nach Westafrika!“ Sie wünschen uns eine gute Reise und spielen das Deutschlandlied. Sachsenberg dippt die Flagge. Da drüben geht wohl alles auf Knopfdruck, denn man sieht niemanden am Mast. Die Nationalhymne dringt bruchstückweise und etwas blechern zu uns herüber. Wir sind etwas gerührt. „Kokolores! Nichtstuer! Maulaffen!“, ruft der Scheich. Wir wissen nicht, meint er uns oder die an Land. Wohl alle. Also arbeiten wir weiter und schauen heimlich nach Schulau hinüber. Es wird mir plötzlich bewusst: Ich bin auf einem Schiff und fahre nach Afrika! Das achteraus verhallende Deutschlandlied verwandelt sich in meiner Phantasie in das Tamtam von Trommeln...
HEJ LÜCHT
Vier Doppelschläge von der Schiffsglocke auf der Brücke zeigen acht Glasen an. Also 12 Uhr Mittag. Wachwechsel. Die neue Wache hat schon um halb zwölf gegessen, und löst gerade die alte ab. Wir lassen die Arbeit fallen und schauen uns das an beiden Seiten vorbeiziehende Land an. Niemand kann uns im Moment anmachen, es ist ja Mittagspause. Dann gehen wir nach achtern in die Messe essen. Inge, der wie die anderen seine zweite Reise macht, hat es vorgezogen, Backschaft zu machen. Er hat voll zu tun, das Essen von der Kombüse mittschiffs zur Messe achtern zu schaffen. Wie wird das erst auf See werden, wenn es noch schaukelt?

Die Back
Nach dem Essen klaren wir weiter das Deck auf. Geien und Preventer (in der Länge regelbare Stahlseile, die mit den Geien die seitliche Verankerung der Ladebäume darstellen) aufschießen. So vergeht der Nachmittag, während wir von der Strömung und der Maschine stetig elbabwärts bewegt werden. Cuxhaven und Brunsbüttel ziehen vorbei, weite, flache Wiesen unter einer glitzernden Reifschicht, hier und da eine Industrieanlage. Feuerschiff Elbe 1 kommt in Sicht. Rot liegt es im leicht bewegten Wasser. Der Himmel hat sich inzwischen aufgeklart.
Erneuter Lotsenwechsel. Ein kleines, mit einem klappbaren Spritzverdeck, ähnlich dem eines Kinderwagens versehenes gelbes Boot löst sich vom Lotsenschiff und hüpft zu uns heran. Als es nahe genug ist, wendet es, um parallel zu uns mit gleicher Geschwindigkeit zu fahren. Der Abstand verringert sich. Als es neben der ausgebrachten Leiter angekommen ist, tritt der Lotse hinter dem Klappverdeck heraus. Ein schneller, prüfender Blick, und schon steht er auf den Sprossen und hangelt sich hoch. Sogleich dreht das Boot ab, um in geringer Entfernung neben uns herzufahren. Ein Offizier und Schmidchen, der gerade Wache hat, stehen neben der Treppe an Deck, dort, wo die Leiter befestigt ist. Schmidchen hält das Geländer der Treppe fest, um sie zu sichern (und nach unserer Devise, immer etwas in der Hand zu haben, damit man uns nicht des Nichtstuns bezichtigen kann). Der Offizier reicht dem Lotsen, als dieser auf Schanddeckelhöhe angekommen ist, die Hand, und hilft ihm an Deck zu steigen. Haben die Offiziere die gleiche Devise wie wir? Beide eilen nach Mittschiffs zur Brücke hoch. Kurz darauf kommt der Flusslotse herunter, das Lotsenboot kommt wieder längsseits, er springt hinein, unterstützt von einem der zwei Besatzungsmitglieder des Bootes. Ein letzter Blick zum Schiff, die Hand grüßend an den Mützenrand gelegt. Der Mann am Ruder legt die Pinne um, und schnell entfernt sich das Boot. Der Maschinenrhythmus beschleunigt sich. Ich schaue auf meine Uhr und zähle mit. 95 Touren. Wir sind auf Höchstdrehzahl, also voller Fahrt!
Um mich nichts als Wasser. Das Land hat sich kleingemacht. Ich bin auf dem Meer! Ein paar Seehunde, exotische Lebewesen für einen Bayern, tummeln sich nicht weit entfernt auf einer kleinen Sandbank. Als sie mich bemerken, wedeln sie mit dem Schwanz. Einer kratzt sich mit der Flosse hinterm Ohr. Nein, er winkt mir, fast scheint es, er schwenkt den Zeigefinger. „Hei lücht“, sagt er, „das hier ist nur das Wattenmeer!“ Dann der Leuchtturm Roter Sand. Dort schwenken wir nach Süden, weseraufwärts in Richtung Bremen. Viele der Ortsnamen, an denen wir vorbeifahren, sind mir bekannt. Seit Jahren, seit ich mein erstes Radio hatte, einen uralten Röhrenempfänger, der nach Bakelit und heißem Staub roch, je länger er an war. Mein Vater wusste nichts davon, kannte ich doch seine Sprüche: „Hab ich früher nicht gehabt, also brauchst Du's auch nicht.“ Auf diesem Radio holte ich die große weite Welt in mein kleines Zimmer. Während mein Bruder „Junge, komm bald wieder“ und „Mit siebzehn hat man noch Träume“ oder „Heimweh“ anhörte, lauschte ich Radio Moskau, Peking und Sydney. Am interessantesten war die Kurzwelle, weil die am weitesten reichte. Zwischen dem Zwitschern von Störsendern suchte ich nach noch nicht gehörten Frequenzen, ob ich diese nun verstand oder nicht. Dabei stieß ich auf Pegelstandsmeldungen an der Nordseeküste. Namen wie Neuharlinger Siel, Mellum, Roter Sand erklangen da mit Ziffern hinten an, Tendenz fallend oder steigend. Das war für meine Kinderohren ebenso exotisch wie die endlosen Ave Maria, Gratia Plena, von Radio Vatikan oder die heulenden Gitarrenaloahes von Radio Honolulu. Natürlich versuchte ich auch, wie meine Freunde, den Polizeifunk zu empfangen. Aber was da gesprochen wurde, war mir zu nah. Da hörte ich lieber die Morsesignale russischer Spione oder sinkender Schiffe und schlief dabei ein.