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Kommentare sollten der Traum eines jeden Dekonstruktivisten sein. […] Eine dekonstruktive Lektüre wird immer an einem Primärtext ‚entlang‘ lesen, und das ist zugleich eine Form der Lektüre, deren textuelle Äußerung notwendig von diesem Verhältnis zu dem betreffenden Primärtext geprägt sein wird. Es ist eine Lektüre, die sich der eigenen ‚Supplementarität‘ ebenso ständig bewußt ist wie der des Primärtexts, d.h. der in jedem Augenblick gegebenen Möglichkeit, dem Primärtext oder der dekonstruktiven Lesart weitere Worte hinzuzufügen.3
So ist sich meine Vorgehensweise des Eingreifens in den Text bewusst und betrachtet – mit Derrida und Roland Barthes gedacht – den Text als Textur, deren Auftrennung und Ausbreitung viel Zeit in Anspruch nimmt. Bei diesem Prozess wird indessen nicht einfach etwas bereits Vorhandenes freigelegt, sondern überhaupt der Text erst erschaffen, neue Fäden in den Text eingezogen und das Gewebe mit anderen verknüpft.
Der Begriff des Kommentars wird gezielt dem der Analyse vorgezogen, weil er schon in seinem Selbstverständnis weniger gewaltsam vorgeht, indem er den Text nicht mutwillig zerstückelt und Sequenzen aus seinen narrativen Zusammenhängen reißt, welche gerade bei Blanchot äußerst wichtig sind. Im Sinne des dekonstruktiven Kommentars ist dabei ein wesentlicher Anspruch, nicht von außen Theoreme über den Text zu stülpen, sondern aus dem Geschriebenen heraus Bewegungen des Textes nachzuzeichnen und diese in einem zweiten Schritt mit literarischen, philosophischen oder anderen Subtexten zu verknüpfen. Dabei verschiebt sich automatisch jedes Mal der Zugang entsprechend und muss neu gesucht werden. Dies bedeutet konkret ein Schreiben an den Kapiteln von Thomas l’Obscur entlang: Zum einen sind die Kapitel eine von der Textstruktur selbst vorgegebene Ordnung, die so im Sinne des Respekts vor dem Text beibehalten wird. Ein nicht zu vernachlässigender anderer Grund ist zudem, dass Thomas l’Obscur ein Text ist, der mit allen Mitteln und auf allen Wegen versucht, von innen heraus das Gesagte stetig zu relativieren, umzukehren oder zwischen Bezugsebenen gleiten zu lassen. Die Kapitelstruktur bildet daher auf diesem unsicheren Textboden eine der wenigen klaren Markierungen, die Blanchot dem Leser als Orientierungshilfe zugesteht.4
Darüber hinaus gibt es in der mittlerweile üppigen Blanchot-Forschung bislang keine derartige Lektüre. Viele Forschungsansätze sind eher dadurch gekennzeichnet, dass sie aus dem Kontext gerissene Sätze aus Blanchots Thomas l’Obscur relativ isoliert interpretieren, ohne dabei den Nebenspuren und dem jeweiligen Kontext in seinem Verlauf zu folgen, was jedoch meines Erachtens für die omnipräsente Doppelbödigkeit der Sprache Blanchots äußerst wichtig wäre und was sich meine Untersuchung folglich zum Ziel gesetzt hat. So entspricht jede Kapitelziffer meines Buches chronologisch einem Kapitel von Thomas l’Obscur. Die Anzahl der insgesamt 12 Kapitel ist infolgedessen das Resultat der 12 Kapitel des von Thomas l’Obscur in seiner Fassung von 1950.5
Thomas l’Obscur dient dabei als Plateau, von dem ausgehend Fluchtlinien und Querverbindungen gezogen werden. Dies impliziert auch, dass Thomas l’Obscur eine Art Basisstation formt, von der aus und zu der hin stetig gedacht wird. In Anlehnung an den Begriff des Plateaus von Gilles Deleuze und Félix Guattari soll auch die Kapitelstruktur der Studie funktionieren: als Plateaus, die tendenziell unendlich weitergeschrieben werden können, die nicht hierarchisch geordnet, sondern in ihrer Abfolge Konsequenz des untersuchten Textes, und deren Relationen zueinander beweglich und verschiebbar sind. Das wesentliche Ordnungsprinzip der Arbeit geht dabei vom Untersuchungsgegenstand selbst aus: Es sind dies die mehrmaligen Durchgänge durch die Nacht, die ein wichtiges Strukturelement des Textes formen. Sie verlaufen auf der Ebene der Kapitel durchaus in einer gewissen Chronologie, als zyklische Sukzession von mittags, nachmittags, abends und nachts. Dieser Bewegung folgt meine Lektüre. Sie nimmt das Segmentierungsangebot des Textes ernst, indem sozusagen an den Kapiteln von Thomas l’Obscur ‚entlang geschrieben‘ wird, sie verfolgt sodann aber auch die Brüche dieser Makrostruktur, von denen es unzählige gibt. Diese Brüche verlaufen teilweise quer durch die Kapitel und kreieren eine Art Ungrund des Textes.
Im Zentrum meiner Überlegungen steht der Text Thomas l’Obscur in seiner zweiten Fassung von 1950. Im Sinne der Einheit von Gegenstand und Methode wird von ihm ausgegangen und anderes Textmaterial mit einbezogen, um ihn zu lesen und ein bestimmtes Nachtdenken herauszuarbeiten, das ich in ihm dominant verhandelt sehe. Das zusätzliche Material setzt sich aus anderen Texten Blanchots zusammen – sowohl literaturkritisch-philosophischen (darunter Texte aus den Sammlungen L’espace littéraire, Faux Pas, De Kafka à Kafka, L’entretien infini) wie auch literarischen Schriften (darunter La folie du jour, Aminadab oder L’instant de ma mort), Texten von Autoren, die er rezipiert hat (Pascal, Hegel, Heidegger, Husserl, Rilke, Novalis, die Gebrüder Schlegel, Nietzsche, Thomas Mann, Kafka), Texten von Zeitgenossen, mit denen er im Austausch stand (Levinas, Sartre, Derrida, Bataille, Merleau-Ponty), Autoren, die über ihn geschrieben haben (Foucault, Deleuze) und schließlich der Bibel, die einen wesentlichen Referenztext bildet.
Thomas l’Obscur mit diesen anderen Texten zu lesen, bedeutet, die Lektüre mit den aus dieser Annäherung entstehenden Resonanz- oder Dissonanzeffekten anzureichern und im Nachvollzug eines Nachtdenkens zentrale Theoreme Blanchots in einem größeren Denkraum zu verorten. An einigen wenigen Stellen wird weiteres Gedankengut hinzugefügt, bei dem ich, von Thomas l’Obscur ausgehend, historischen oder systematischen Klärungsbedarf hinsichtlich bestimmter Motive oder Denkfiguren gesehen habe. Die Theorien werden nicht um ihrer selbst willen, sondern funktional in die Lektüre einbezogen, was mitunter eine methodische Konsequenz des Anreißens einiger großer Denkgebäude, die für sich genommen jede schon einer eigenen umfassenden Untersuchung würdig wären, bewirkt. Jedoch: Um mit einem Text sorgfältig und behutsam umzugehen, muss notwendigerweise anderen Texten Raum vorenthalten werden. Elemente werden ihnen entnommen und – bezogen auf Thomas l’Obscur – in einen neuen Kontext gebracht. Der Grund einer Vielfalt unterschiedlichster Theorien entspringt zum einen der unglaublichen Belesenheit Blanchots, die sich in einem gewaltigen Œuvre ausdrückt und insbesondere in Thomas l’Obscur vielerorts zum Vorschein kommt, ja hier geradezu eine Keimzelle der späteren literaturtheoretischen Texte bildet. Zum anderen sind die Fluchtlinien zu anderen Philosophen und Theoretikern darin begründet, dass bei Blanchot literarisches und philosophisches Schreiben stetig ineinander übergehen bzw. in ihrer Verschmelzung einen ganz eigenen Duktus entwickeln.
Thomas l’Obscur wird in der Folge auch als ein Zeugnis diverser Auseinandersetzungen Blanchots mit seiner Zeit gelesen. Diese Zeit – von den Anfängen der Arbeiten an der ersten Version des Textes Anfang der 1930er Jahre bis hin zur Veröffentlichung der zweiten Fassung 1950 – umfasst historisch die Phase des 2. Weltkrieges und seine unmittelbaren Nachwirkungen. Die in Thomas l’Obscur verhandelte Erfahrung des Todes lässt sich meines Erachtens nicht ohne das Wissen um die Gräuel des Nationalsozialismus, das Faktum der Massengräber und das kollektive Trauma des Holokausts nachvollziehen. Ein Bewusstsein ob dieser unverarbeitbaren Ereignisse muss jeder Lektüre des Textes anhaften, zumal einer, in der es darum geht, die existentialphilosophischen, phänomenologischen, mystischen, religionskritischen, psychoanalytischen und verantwortungsethischen Einflüsse anderer Denker in die Auseinandersetzung mit Thomas l’Obscur einzubeziehen. Der Text entscheidet sich nicht für einen dieser Einflüsse, den man folglich als Haupteinwirkung lesen könnte. Er entwickelt sich vielmehr an den für den Tod bzw. die damit aufs Engste verbundene Struktur der anderen Nacht relevanten Punkten dieser Theorien entlang, deren gemeinsamer Nenner eine bestimmte Form der Leiblichkeit zu sein scheint, ein Wiederbeleben des Somatischen und eine Kritik am Subjektdenken der abendländischen Philosophie. Es ist angesichts der geschichtlichen Zäsur durch den 2. Weltkrieg kein Zufall, dass Maurice Blanchot, Maurice Merleau-Ponty, Martin Heidegger, Jacques Lacan, Ernst Cassirer, aber auch Elias Canetti sich in der Mitte des 20. Jahrhunderts vermehrt mit der Wahrnehmung als Wirklichkeitszugang auseinandersetzen. Mit dieser Wiederentdeckung der Sinne und des Körpers erfolgt eine Neuauflage der Nacht als Erfahrungsraum, in dem die visuelle Wahrnehmung zu Gunsten anderer Kanäle, vor allem aber zu Gunsten des Imaginären, eingeschränkt ist und neue Wege, die zerstörte und aus den Angeln gerissene Welt zu erfassen, gesucht werden.
A. 3 Wahrnehmung und Tod als Leitbegriffe der Nachtspur – Soma, Selbstimplikation und Affizierung
Der Tod ist ein widerspenstiges Thema.1
Thomas Macho
Wie kann man über den Tod sprechen ohne ihn diskursiv zu vereinfachen? Diese Frage lässt sich möglicherweise in Analogie zur Frage des Sprechens über Gott beantworten: gar nicht oder wenn, dann nur unzulänglich. Schon François de La Rochefoucauld schrieb in seinen Maximes: „Le soleil ni la mort ne se peuvent regarder fixement.“2
Maurice Blanchot hat dennoch das Unmögliche gewagt: Sein Werk kann man als unendlichen Versuch lesen, sich der Erfahrung des Todes über die Sprache zu nähern. Sein Denken widmet sich dabei weniger der Betrachtung des hellen Sonnenlichts, als vielmehr der dunklen Nacht, die sich jedoch ebenso unmöglich direkt anblicken lässt wie Sonne und Tod in der eben genannten Sentenz La Rochefoucaulds. Die beiden Fassungen von Thomas l’Obscur nehmen dabei eine Sonderrolle innerhalb des Werkes von Blanchot und der Behandlung des Todes ein, denn in ihnen wird nicht nur über den Tod reflektiert. Der literarische Text wird selbst zur Todeserfahrung. Die Todeserfahrung im Speziellen und mit ihr in etwas abgeschwächter Form diverse Grenz-, und Transgressionserlebnisse sind nicht nur inhaltlich zentral in Thomas l’Obscur, sondern sprachlich performativ angelegt, insofern als sich erzählte Erfahrungen auf die discours-Ebene auswirken und so eine Erzählweise generieren, deren Verortbarkeit sich äußerst schwierig gestaltet. Die Erfahrung der Figuren wird zur Form des discours und dieser zum affizierten Eintrittstor des Lesers, was wiederum von Letzterem verlangt, dass er sich auf diese Performanzästhetik auf verschiedenen Wahrnehmungsebenen einlässt und dabei Abschied nimmt von jeglicher Mimesisästhetik.3
Hinter vielen zunächst schwer verständlichen, von Jean-Paul Sartre als phantastisch bezeichneten, Satzkonstruktionen hochfiktiven Charakters in Thomas l’Obscur stecken selbstreferentielle Äußerungen der Sprache. Sofern der Inhalt unmittelbar auf die Vermittlungsebene übergreift, wird diese sichtbar, stellt sich als Sichtbares vor den dadurch verdeckten Inhalt und erfordert gerade in ihrer Ausstellung der Selbstbezüglichkeit die permanente Wachsamkeit des Lesers.
Selbstimplikation
Die Sprache Blanchots ist jedoch nicht nur performativ und selbstreferentiell, sondern selbstimplikativ, wie Michel Foucault 1966 in seinem bekannten Artikel „La pensée du dehors“ andeutet und in seinem Buch über Roussel weiterverfolgt.1 Selbstimplikatives Sprechen baut nicht auf einem Zeichenzusammenhang auf, sondern entwirft Bedeutungen als reine Möglichkeiten, ohne sie ganz zuzulassen. Die Äußerung sagt primär nicht etwas aus, sondern nur dass sie eine Äußerung ist. Sie dreht sich auf sich selbst zurück und lässt sich dadurch nicht einfach entziffern oder deuten. Die Selbstimplikation ist ein Verfahren der Sprache, was unterhalb der Zeichen im Bereich des Nicht-Signifikativen stattfindet. Im Denken des frühen Foucaults geht das Nicht-Signifikative sprachontologisch dem Signifikativen voraus. Wenn selbstreferentielles Sprechen das Zeigen der Zeichen zeigt, dann wiederholt es sich selbst als Gleiches. Wenn das selbstimplikative Sprechen das Nicht-Zeigen zeigt, dann wiederholt es sich selbst als Ähnliches und nicht mehr als Gleiches, um auf eine unaufhebbare Differenz allen Sprechens hinzuweisen.
Dieses Zeigen des Nicht-Zeigens nimmt zahlreiche Formen in Thomas l’Obscur an. In allen Fällen kollabiert dabei die Ebene des Zeichens. Dieses Kollabieren und Zerschreiben der Sprache durch die Sprache lese ich in meiner Arbeit als Nachtdenken, d.h. als Denken der anderen Nacht, wie ich sie zu Beginn erklärt habe. Der Vorteil der Denkfigur der anderen Nacht im Gegensatz zum Begriff der Selbstimplikation ist, dass sie in der Anordnung dieser beiden Worte, ‚autre‘ und nuit, schon zeigt, was selbstimplikatives Sprechen ist.
Soma und Affizierung
Mit zunehmender Vertiefung in Blanchots Werk kristallisierte sich ein Zugang zu Thomas l’Obscur heraus, der das Somatische, das Materielle, aber auch das Mediale und die Affizierung immer wieder als Ausgangs-, oder Zielpunkte der Lektüren der einzelnen Kapitel in den Blick nahm. Mein Ansatz ist insofern als phänomenologisch-konstruktivistisch zu bezeichnen, als er die Erfahrung und Variabilität von Welt als Resultat der Wahrnehmung in den Vordergrund setzt. Indessen gehen damit keinerlei ontologische Setzungen einher. Die Wahrnehmungstheorie Maurice Merleau-Pontys bildet in meiner Lesart von Thomas l’Obscur eine wichtige Grundlage, insbesondere bezüglich der verhandelten Blickkonzeption, wenngleich dies nur einer von diversen Textzugängen ist. Denn Blanchot geht, mit Edmund Husserl gesprochen, in Thomas l’Obscur seinen ganz eigenen Weg „zu den Sachen selbst“. In Thomas l’Obscur haben wir es mit einem Text über Leiblichkeit im Angesicht des Todes als Abstoßung vom geistfixierten Subjektdenken der abendländischen Philosophie zu tun.
Der Tod ist das Ereignis des Unfassbaren schlechthin. Das Schreiben über den Tod, d.h. Blanchots Art, den Tod zu schreiben, ist ein Denken der anderen Nacht, die als als Medium und Unvordenkliches, d.h. als etwas, was Ermöglichungsgrund und Ermöglichungsraum ist, zwischen Leib und Bewusstsein gesetzt wird. Die andere Nacht Blanchots generiert sich aus dem ewigen Aufschub des Denkens und auch des Schreibens, den der Tod provoziert. Konzepte wie das Offene, das Außen, il y a, die psychoanalytische Krypta, mystische sowie neomystische Denkfiguren, lassen sich alle über die andere Nacht in ihrer radikalen Exteriorität verbinden. Mit ihr verweisen sie im Falle Blanchots, den qua Unsichtbares insbesondere die Nacht hinter der Nacht interessiert, die ‚autre‘ nuit, auf eine ganz spezielle Art, das Verhältnis von Körper und Geist, von Buchstaben und Bedeutungen zu lesen. Entscheidend ist dabei, dass dies eine Absage an jedwede Geschlossenheit und fixierbare Ordnung bedeutet, sofern jedes Gefühl und jeder Gedanke als Wahrnehmung vermittelt Veränderungen evozieren, die sich nur partiell an der sprachlichen Oberfläche zeigen. Ein nicht geringer Teil geschieht unter der sichtbaren Textstruktur und zeitigt Effekte der Selbstaffizierung an unvorhergesehenen Orten und Stellen.
Dies ermöglicht es, eine oder mehrere Verbindungslinien zwischen Blanchots Nachtdenken in Thomas l’Obscur und Affizierungstheorien zu ziehen. Letztere hat Michaela Ott in bemerkenswerter Weise in ihrem Buch Affizierung – Zu einer ästhetisch-epistemischen Figur gebündelt. Sie profiliert darin mit starker Gewichtung des Affizierungsdenkens von Gilles Deleuze und Félix Guattari Affizierungsprozesse als Basis jedweden Denkens oder Handelns. Unterschieden wird das Affektive in Affekte, Affektion „als körperlich-seelische Vermittlung“ und Affizierung „als subjektkonstituierender Vorgang“.1 Eine grundlegende Eigenschaft des Affektiven ist es nach Ott, auf zweierlei Ebenen zu wirken, nämlich auf der Ebene der „Repräsentation“ sowie der Ebene der „Performanz“. Dieses doppelte Operationsfeld des Affektiven, das von „nicht-sichtbaren, aber zu erschließenden dynamischen Vorgängen Zeugnis ablegt“,2 wird auch in meinem Kommentar zu Thomas l’Obscur herangezogen, um unterschiedliche Wirkweisen und Erscheinungsformen der Sprache zu benennen und sie als Effekte der anderen Nacht auszuweisen.
Diese Effekte resultieren aus dem permanenten Versuch Blanchots, sich via Sprache dem Tod zu nähern bzw. die Sprache dem Tod zu nähern. Er spielt in Thomas l’Obscur unzählige Varianten durch, um mit der Sprache die Sprache in ihrem Bedeuten zu zerschreiben, z.B. indem er metaleptisch Vorder-, und Hintergrund vertauscht, Perspektiven so überschneidet, dass sie ihre Zuordnung verlieren, indem er das Ursache-Wirkungs-Prinzip verunklart, Subjekt-Objekt-Besetzungen in ihrer Konstruiertheit und Kontextabhängigkeit zusammenbrechen sowie in Abundanz Motive in den Text einfließen lässt, nur um sie wieder zerstückelt fallen zu lassen und mit anderen zu überschreiben. Das Zusammenspiel dieser Strukturen bewirkt eine Bewegung infiniten Regresses, die in die ewige Differenz der anderen Nacht führt oder ihr entspringt, je nachdem wie man sich dieser zyklischen Struktur ohne Anfang und Ende unzureichend zu nähern gedenkt. Mit Sätzen, die ein ständiges Anhalten, Überlegen und Wieder-Lesen erzwingen, erweist sich Thomas l’Obscur in seinen beiden Fassungen als ein Text, der nicht aufhört von sich zu sagen, dass man ihn in all seiner Buchstäblichkeit und Körperhaftigkeit lesen und ihn beim Wort nehmen muss, um von dort aus der sprachlichen Affektlogik zu folgen, die ihresgleichen sucht. Inspiriert hat sie viele, nicht zuletzt Michel Foucault, Gilles Deleuze und Jacques Derrida. Möge nun der Leser des vorliegenden Textes sich auch dazu inspirieren lassen, einer gemeinsamen Lektüre von Thomas l’Obscur mit Genuss zu folgen:
„Meinem Leser.
Ein gut Gebiss und einen guten Magen –
Diess wünsch’ ich dir!
Und hast du erst mein Buch vertragen,
Verträgst du dich gewiss mit mir!“
Friedrich Nietzsche
0. Die zwei Versionen von Thomas l’Obscur. Abzweigungen
0.1 Der Kern als beigefügtes Zentrum
Die vorliegende Studie wird sich dem mit Thomas l’Obscur betitelten Text von Maurice Blanchot widmen.1 Dem Text? Schon hier muss eine Präzisierung stattfinden, denn streng genommen wird es vor allem um Blanchots vierten Roman gehen, um die zweite Version von Thomas l’Obscur, die Blanchot 1950, neun Jahre nach der ersten, veröffentlicht hat. Zwischen der ersten Version des Romans aus dem Jahre 1941 und der zweiten, der „Nouvelle version“, erschienen die Romane Aminadab (1942) und Le Très-haut (1948). Was hat Blanchot dazu bewogen, seinen mit „Roman“ untertitelten Text von 1941 zu überarbeiten, massiv zu kürzen und unter fast demselben Titel neu herauszugeben? Eine mögliche Antwort darauf findet sich in einem Brief an seinen langjährigen Freund und Denkgefährten Georges Bataille aus dem Jahr 1948:
J’ai mis au point ces jours-ci une version autre de ‚Thomas l’obscur‘. Autre: en ce sens qu’elle réduit des deux tiers la première édition. C’est cependant un livre véritable et non des morceaux de livre; je puis même dire que ce projet n’est pas un projet de circonstance ou inspiré par des complaisances d’édition, mais j’y ai souvent pensé, ayant toujours eu le désir de voir à travers l’épaisseur des premiers livres, comme on voit dans une lorgnette l’image très petite et très lointaine du dehors, le livre très petit et très lointain qui m’en paraissait le noyau.2
Blanchot betont, dass der Grund für diese neue Version ein bereits länger bestehender Wunsch nach Distanzierung oder Verkürzung war, um aus der Tiefe oder auch Dichte seiner ersten Romane heraussehen oder durch sie hindurch sehen zu können. Das über lange Zeit nur angedachte kleine Buch ist der Kern seines Frühwerks, nur dass die Ursprungslogik von Kern und daraus entstehender Pflanze invertiert ist, da Blanchot den Kern im Umkehrprozess aus dem bereits Geschriebenen kreiert. Die ‚andere‘ Version von Thomas l’Obscur ist demnach sowohl im romanesken Frühwerk bereits enthalten als auch dessen Destillat. Sie stellt ein „wahrhaftes Buch“ dar und kein mangelhaftes Stückwerk des Originals. Das Faszinosum der beiden Versionen des Romans besteht in ihrer Gleich-Gültigkeit, die Blanchot in seinem Vorwort zur zweiten Version betont. Allerdings wurde lange Zeit vor allem letztere rezipiert, wenn von Thomas l’Obscur die Rede war. Erst 2005 wurde die Erstfassung von 1941, welche schnell nach dem Erscheinen der zweiten vergriffen war, neu verlegt.3 Die Vermutung liegt nahe, dass ihre Länge und Dunkelheit (diskursiv wie semantisch) gewichtige Gründe für die mäßige Rezeption waren.4 Mittlerweile steigt das Interesse für die ältere Version wieder. In der gegenwärtigen Rezeption zeigt sich ein zunehmendes Bewusstsein für den Sonderfall einer Koexistenz zweier Fassungen, sodass neuere Arbeiten zu Thomas l’Obscur in der Regel herausstellen, welche Version des Textes der Analyse zu Grunde liegt.
Durch die Präsenz der beiden Versionen – nicht zuletzt im Sinne eines Drehens oder Umstülpens – stellt sich die Frage nach dem Original neu. Handelt es sich doch bei der zweiten Fassung, die Blanchot „nouvelle version“ nennt, ausdrücklich um eine gleichberechtigte Fassung in Bezug auf die erste, nicht jedoch um eine Version, die leichtfertig die erste ersetzen solle. So schreibt Blanchot in der Gallimard-Ausgabe von 1950 vor dem Beginn des eigentlichen Romantextes:
Il y a, pour tout ouvrage, une infinité de variantes possibles. Aux pages intitulées Thomas l’Obscur, écrites à partir de 1932, remises à l’éditeur en mai 1940, publiées en 1941, la présente version n’ajoute rien, mais comme elle leur ôte beaucoup, on peut la dire autre et même toute nouvelle, mais aussi toute pareille, si, entre la figure et ce qui en est ou s’en croit le centre, l’on a raison de ne pas distinguer, chaque fois que la figure complète n’exprime elle-même que la recherche d’un centre imaginaire.5
Bemerkenswerterweise ist in der deutschen Übersetzung der neuen Version (die erste gibt es noch nicht in übersetzter Form) dieses Vorwort oder vielmehr dieser Vorsatz nicht abgedruckt, wodurch wichtige Aspekte der Beziehung von erster und zweiter Fassung nicht berücksichtigt werden können.6 Denn die Position der ersten Fassung wird von Blanchot, wie über die beiden Zitate ersichtlich, nicht unter die der zweiten, der neuen gesetzt.
Die Tatsache, dass der Text in zwei Fassungen existiert, ist für Blanchots Schaffen an sich nichts Ungewöhnliches, sondern stellt eher ein erprobtes Verfahren dar: Blanchot hat viele seiner Texte mehrfach überarbeitet und nach einer Erstveröffentlichung zahlreiche Artikel in neuen Kontexten oder Textsammlungen in anderer Form publiziert – nicht zuletzt zeigt sich darin eine tiefe Skepsis Blanchots gegenüber Ursprungslogiken und eindeutigen Zuordnungen. Dass jedoch wie im Falle von Thomas l’Obscur beide Fassungen7 als gleich-gültig gelten und folglich unter demselben Titel koexistieren sollen, ist schon bemerkenswerter und schreibt ihnen auf diese Art eine Sonderrolle im Gesamtwerk zu.8
Blanchot verweist darauf, dass die zweite Version nichts hinzufüge, sondern der ersten sogar viel (weg)nehme. Die beiden Versionen sind gleich-gültig oder ebenbürtig, ohne gleich zu sein. Denn je nach Betrachtung oder Bedingung ist die neue Version gänzlich neu, anders als die frühe Version oder ihr sehr ähnlich.9 Die Ähnlichkeitsbeziehung konstituiert sich durch die Suche nach einem imaginären Zentrum, welches nach Blanchots Biographen Christophe Bident der Tod der Protagonistin Anne ist.10 Liest man nun den Abschnitt aus dem Brief an Georges Bataille und den Paratext zusammen, so ergibt sich die Möglichkeit, das doppeldeutige Bild des nachträglichen Kerns als anderen Ausdruck für die Suche nach einem azentrischen Zentrum zu begreifen. Diese Struktur eines Fluchtpunktes – oftmals artikuliert über vorangestellte Paratexte – kehrt an vielen Stellen in Blanchots Werk wieder, unter anderem in einer kleinen Notiz zu Beginn von L’espace littéraire, in der das Kapitel zu Orpheus, „Le regard d’Orphée“, als das bewegliche Zentrum benannt wird, zu dem alle Seiten des Buches hinlaufen:








