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Son œil, inutile pour voir, prenait des proportions extraordinaires, se développait d’une manière démesurée et, s’étendant sur l’horizon, laissait la nuit pénétrer en son centre pour en recevoir le jour. Par ce vide, c’était donc le regard et l’objet du regard qui se mélaient. Non seulement cet œil qui ne voyait rien appréhendait quelque chose, mais il appréhendait la cause de sa vision. Il voyait comme objet ce qui faisait qu’il ne voyait pas.1
Ein zentrales Theorem der Phänomenologie, der blinde Fleck (= Pupille), eine Prämisse des Sehens, scheint mit in dieses Bild eingearbeitet. In diesem blinden Fleck wohnt die Möglichkeit des Empfangens des Tages. Der Tag bleibt aber an dieser Stelle reine Potentialität, d.h. er erscheint nicht. In einer paradoxal wirkenden Figur nimmt das Auge seinen eigenen Erkenntnisgrund wahr. Die Ursache des Sehens ist das Nicht-Sehen, mehr noch: „Il voyait comme objet ce qui faisait qu’il ne voyait pas.“2 Das Dunkle wird in einer Weise objektiviert, die es nicht mehr zu einem Objekt des Sehens macht, das heißt, Sehen und Gesehenes trennt. Das Nicht-Sehen als Objekt tritt in der nächsten Textpassage gleichsam physisch ins Auge, wodurch eine physische Präsenz des eigentlich nicht Repräsentierbaren entsteht.
Diese Art der Auflösung einer objektivierenden Distanz des Blickes verdeutlicht sich kurz darauf über das Einnisten des ‚eigentlichen‘ Objekts des Blickes im Auge selbst. In einer Passage, die dann zu Fragen der Gewaltsamkeit der Repräsentation sowie ihrer metonymischen oder metaphorischen Verschiebungen und Verdichtungen überleitet, ist es der nicht nur erinnerte Wald des Kapitelauftaktes, der Thomas gegen jede Evidenz als „corps étranger“,3 als Fremdkörper, schmerzhaft ins Auge tritt. Wie das Nicht-Sehen zur Bedingung des Sehens wird, entpuppt sich diese physische Realität im Auge zum Ausgangspunkt eines imaginären Sehens, dass das Eindringen hypothetisch in Gestalt eines Mannes personifiziert, der in Thomas gleitet.4 Zuvor ist es jedoch der Erzähler, der auf diskursiver Ebene unter anderem über die Verwendung des conditionnel du passé den Raum des Hypothetischen eröffnet: Durch diesen Irrealis der Vergangenheit werden Sätze konstruiert, die Alternativen formulieren, welche aber zugleich negiert werden.5
Während die Gefangenen Platons zumindest noch Schatten haben, die sie wahrnehmen, bleibt Thomas nur mehr das Sehen im Dunkeln, welches ein Sehen des Dunkeln ist. Seine (Selbst-)Erkenntnis erfolgt nicht über das Licht, sondern über Steigerungen der Dunkelheit (Wald, Nacht, Höhle, Krypta). Die am Ende des Höhlengleichnisses beim erneuten Abstieg des Erleuchteten erfolgende Anpassung an das Höhlendunkel6 geschieht im Falle von Thomas nicht. Fast scheint es so, als würde Blanchot Platons Bild der „Augen […] voll von Dunkelheit“7 wörtlich nehmen. Das Nicht(s)sehen als Grund des Sehens wird gesehen, woraus sich ein neuer Absolutismus des Wirklichen ergibt: Das Nicht(s)-Sehen wird zum Alles-Sehen (= unterschiedslosem Sehen). Der unerträgliche Grund dieser Wirklichkeit scheint zu sein, dass es alle Möglichkeiten gibt. Der literarische Diskurs lässt diese Bedingung seiner Repräsentation, den Grund seiner Worte, immer wieder in sich selbst eintreten und setzt dabei die Unterscheidung zwischen Eigentlichem und Uneigentlichem ebenso aus wie die nach dem Grund und dem Be-/Gegründeten. Der Grund ergibt sich radikal aus seiner Gründung im kryptischen Text. Doch dieser Grund ist Effekt seiner Möglichkeiten eröffnenden Grundlosigkeit.
Der Wald in den Händen
Über das Problem des Hypothetischen und des Imaginären hinaus wird anhand des Waldes in der Pupille bis zum Ende des Kapitels die Unerbittlichkeit von Repräsentation wortwörtlich mit Händen greifbar. Noch immer unter der Prämisse des Nacht-Sehens, also eines Sehens, bei dem zwischen Körperwahrnehmung und Blick nicht zu unterscheiden ist, greifen die Hände den Wald wieder auf: „Il n’avait d’attention que pour ses mains, occupées à reconnaître les êtres mêlés à lui dont elles discernaient partiellement le caractère, chien représenté par une oreille, oiseau remplaçant l’arbre sur lequel il chantait.“1 Indem der Wald einerseits nur noch durch ‚Hund‘, ‚Vogel‘ und ‚Baum‘ vertreten ist, andererseits diese Vertreter sich wiederum vertreten, nimmt der Prozess der Repräsentation abermals seinen Ausgang. Synekdochisch ‚repräsentiert‘ das Ohr einen (aufgrund des fehlenden Artikels) generischen Hund, metonymisch ersetzt ein wiederum generischer Vogel den „arbre sur lequel il chantait“.2 Neben der metonymischen Verschiebung kommt es zudem zu einer Verdichtung, die das Ohr des Hundes mit dem Gesang des Vogels überblendet – all dies innerhalb einer hochkomplexen chiastischen Struktur. Auf diesen Repräsentationen gründend, genauer noch auf der kreativen Prozessualität des Ersetzungsvorgangs selbst, setzt hier eine Imagination ein, deren abgründige Realität betont wird. So werden „villes entières“ konstruiert, die „villes réelles faites de vide“ sind. Der derart erschaffene Raum ersetzt Konzepte der (philosophiegeschichtlichen) Vergangenheit.
Die Violenz des Repräsentationsvorgangs zeigt sich zunächst im Repräsentierten der „créatures roulant dans le sang et parfois déchirant les artères“.3 Im darauf folgenden Übergang von der Angst zur Leiche wird sie jedoch im repräsentationslogischen Verhältnis von Angst, Leiche und Begehren auch als Ersetzungsvorgang an sich sichtbar. Angst und Begehren inkorporieren sich beide in der Leiche, die somit zur toten Personifikation wird. In einer schwerfälligen Aufstiegsbewegung bewegt sich die gestorbene Lust an die Grenze des Außen, um im Mund gleichsam als Laut oder Sprache zu erscheinen.4 Von dort aus frisst sie sich in den Körper und sorgt letztlich für die Auslöschung der ganzen Imaginationsszene. Die Inkorporierung der Angst und des Begehrens erscheint dabei als bedrückende Belagerung des Körpers, bevor diese Körperlichkeit zurückgeführt wird auf die Wunde des Nacht-Gedankens. Denn es ist nun „sa pensée, confondue avec la nuit“,5 die Thomas heimsucht und von außen versucht, sich in den Körper zu inkorporieren und eine „union monstrueuse“ herzustellen. Anzumerken sei, dass sich diese monströse Vereinigung auch sprachlich im Personalpronomen „elle“ zeigt, bei dem unentscheidbar ist, ob es „la nuit“, „la pensée“ oder eben beides bezeichnet. Diese Figur einer kryptischen Selbstfundierung bewirkt unter den Augenlidern einen „regard nécessaire“, welcher im Kuss zur furiosen Auslöschung des „visage“ führt.6 Visage kann zweierlei meinen in diesem Kontext: zum einen Thomas’ Gesicht, dessen Oberflächen grotesk geöffnet werden, zum anderen aber das Gesicht (das Gesehene) der Imagination. Die Szenerie wird abgeräumt und entleert. Von der Krypta bleiben am Ende des Kapitels nur mehr die Spur (des Textes), ein paar versetzte Bäume und Thomas’ sinnloser, gedankenvoller Körper.
3. Licht-Blick – Berührung des Anderen
Das 3. Kapitel meiner Untersuchung steht im Zeichen des Blicks und der Wahrnehmung. Es enthält ein separates Unterkapitel zur Wahrnehmungstheorie Maurice Merleau-Pontys, auf dessen Trennung von Auge und Blick auch andere Kapitel immer wieder Bezug nehmen werden. Zudem liegt mein Augenmerk auf der Frage der taktilen Wahrnehmung, die Blanchot mit Merleau-Ponty dem Sehen annähert, sofern dem Blick – wenngleich auf Entfernung – ein taktiles Abtasten des erblickten Objektes zugeschrieben wird.
Zum einen bedarf das Sehen eines physischen (übertragen auch eines denkerischen) Abstandes zwischen Betrachter und Betrachtetem, zum anderen überwindet das Sehen die Entfernung in einer Berührung auf Distanz.1 Während das analytisch begreifende Sehen auf der Unterscheidung von Subjekt (Betrachter) und Objekt (Betrachtetem) basiert, wird in Thomas l’Obscur das Begreifen zum Ergriffen-Werden durch das Objekt, wodurch sich die Subjekt-Objekt-Relation nicht nur verkehrt, sondern völlig in sich zusammenbricht. Basis des Sehens ist, wie die Kryptaerfahrung des 2. Kapitels gezeigt hat, das Nicht-Sehen – eine Schwärze oder Leere, in der es keine Möglichkeit zur Unterscheidung gibt bzw. jeder Versuch einer Differenzierung an der Unsichtbarkeit scheitert. Auch wenn das analytische Sehen Trennungen vollzieht, besteht über jeden Blick potentiell die Gefahr der Gegenreaktion des Erblickten, z.B. in Form des Zurückblickens, Blendens oder des Entzuges. Diese Umkehrbewegung betitelt Blanchot in seinen theoretischen Schriften in L’espace littéraire als Faszination.2 Sie bildet eine durchgängige Makrostruktur der Begegnung in Thomas l’Obscur. Auf einen in Bezug auf das Subjekt sehr bedrohlichen Aspekt der Faszination wird das 4. Kapitel näher eingehen.
Das vorliegende Kapitel wendet sich der Faszination als Grundlage einer wesentlich phänomenologisch geprägten Blicktheorie zu. Welche Rolle dieses Blicken für die Begegnung von Thomas mit der zweiten Figur – Anne – einnimmt, soll unter anderem anhand ihres Eigennamens untersucht werden, nicht zuletzt, weil über die Aussprache des Eigennamens eine unmittelbare Verbindung oder Berührung möglich ist, die dem Sehen das Hören beifügt. Im Falle von Thomas wird sein Name über die Frage der Berührung mit seinem biblischen Namensgenossen, Thomas dem Ungläubigen, sowie dem Thomas der apokryphen Thomas-Schriften verknüpft.
3.1 Annäherung
Das 3. Kapitel von TO2 ist gerahmt durch den Eintritt Thomas’ in ein Hotel und dessen Speisesaal mit dem Ziel der Nahrungsaufnahme in Form eines Abendessens zu Beginn des Kapitels und dem Verlassen dieses Gesellschaftsraums am Ende des Kapitels. Man erfährt, dass Thomas am Nachmittag schwimmen war, wodurch eine etwas genauere zeitliche Fixierung des Schwimmens im 1. Kapitel möglich ist und ein Bezug des 3. Kapitels zum 1. Kapitel hergestellt wird, welcher strukturell zusätzlich in der Bewegung des Eintritts und Austritts das Wasser mit dem geschlossenen Raum verschränkt.
Thomas trägt die Einschreibung der anderen Nacht als Spur der Krypta-Erfahrung in sich und erprobt aus dieser „nouvelle manière d’être“ heraus, wie die anderen Hotelgäste auf ihn reagieren.1 Seine neue Art des Seins bedeutet, dass er, so meine These, in der (Wieder-)Annäherung an die (Sprach-)Gemeinschaft alle Phasen der frühkindlichen Entwicklung der Sprache durchleben muss. Die erste dieser Phasen ist der akustische Kontakt, d.h. das Hören von zunächst undifferenzierten Geräuschen, die noch nicht an ein Objekt gekoppelt werden können.2 Nachdem Thomas einige Schritte in den Raum gewagt hat, konzentriert er sich zunächst auf seine auditive Wahrnehmung mit dem Ziel, auf diese Weise mit der Umwelt in Kontakt zu treten. Dieses genaue Hinhören ist jedoch nicht auf ein Objekt bezogen, sondern intransitiv: „D’abord il prêta l’oreille; il y avait un bruit confus, grossier, qui tantôt s’élevait avec force, tantôt s’atténuait et devenait imperceptible […] c’était un bruit de conversation […].“3 Aus dem lärmend-chaotischen Rauschen filtert Thomas langsam verständliche Lautketten heraus, die eine weitere physische Annäherung seinerseits bewirken. Isotopisch ist das Feld der Kommunikation in Ausdrücken wie „conversation“, „langage“, „des mots très simples qu’on semblait choisir pour qu’il pût les comprendre“, „interpeller“, „dire“, „On lui fit signe“, „invitation“, „On l’appela plus fort“, „entretien“ innerhalb weniger Zeilen unübersehbar realisiert.4 Mit anderen Menschen in Verbindung zu treten, d.h. zu interagieren, ist alles andere als selbstverständlich für Thomas. Es ist vielmehr ein Akt der ständigen Überwindung, Rücknahme, Korrektur und des Versuchens, denn die Kommunikation bedeutet eine Begegnung mit dem Anderen und als solche auch eine mit der anderen Nacht, sofern diese „die Leere des Zwischen“ von Ich und Anderem ist.5 Sofern sie dies ist, verschieben sich in ihr alle Verhältnisse permanent. Nähe ist nur durch Entfernung möglich, da allein die Distanz eine Selbstwahrnehmung wie eine Fremdwahrnehmung ohne sofortige Aneignung des Anderen ermöglicht.
Wie der Text im Weiteren vorführt, benötigt Thomas für die Möglichkeit einer Begegnung mit den anderen Menschen im Raum deren Bereitschaft, ihm offen und positiv entgegen zu treten, wenngleich er ihnen eine gewisse Hinterhältigkeit unterstellt, die sein Vertrauen zügelt. Zunächst einmal muss Raum geschaffen werden, der es ihm rein physisch ermöglicht, auf einem von einer betagten Dame verlassenen Stuhl Platz zu nehmen, um einen Ausgangspunkt der Kommunikation zu schaffen. Der leere Stuhl, den er sehr schnell besetzt, markiert auf der Ebene des Sprachlichen eine Lücke in der symbolischen Ordnung, in die Thomas als Fremder eindringt. Im Zuge seiner Selbstverortung und Orientierung am Tische wird Thomas seiner direkten Tischnachbarin gewahr, die er fasziniert betrachtet, zu der er jedoch auch im weiteren Verlauf nichts sagen wird, da er einen leeren, begehrenden Blick ohne Stimme verkörpert.
3.2 Der leere Blick – Faszination
Sein Betrachten ist einnehmend und invasiv. Thomas fixiert seine unmittelbare Tischgenossin, da diese von einem prächtigen Licht umgeben ist: „Il continua cependant à la fixer, car toute sa personne, éclairée d’une lumière superbe, l’attirait.“1 Es ist nicht klar, welcher Natur dieses Licht ist, ob es von einer Lichtquelle außerhalb der Tischnachbarin stammt oder ihrem Innerem entspringt. In jedem Fall bewirkt es, dass Thomas in den Sog der Anziehungskraft der Frau gerät und auf diese Weise durch seinen Blick an sie gebunden ist. Das Fasziniertsein ist eine exklusive Bindung, die keine Störung von außen duldet, welche potenziell die Begegnung unterbrechen oder gefährden könnte. Als jemand schließlich wagt, über die – eine Reaktion provozierende – Benennung der Frau mit dem Namen Anne in die Relation zwischen ihr und Thomas einzugreifen, muss dieser handeln, um Schlimmeres zu verhindern. Sein mächtiger Schlag auf den Tisch verschreckt die anderen Hotelgäste nicht nur aufgrund der impliziten Gewalt, die in ihm verborgen ist, sondern auch bedingt durch den Verstoß gegen die Struktur der symbolischen Ordnung, in die Thomas Zutritt zu erlangen sucht.2 Der Schlag ist als nichtsprachlicher Akt eine Gefährdung dieser Ordnung, deren Zugänge sich als Konsequenz aus dem Übergriff verschließen und Thomas, der die andere Nacht erfahren hat, isolieren. Um aus dieser Einsamkeit und Kommunikationslosigkeit herauszukommen, greift Thomas zu einem, den Schlag noch steigernden, leeren, dabei alles und nichts fixierenden invasiven Blicken:
C’est alors que Thomas, pour brusquer les choses, se mit à les dévisager tous, même ceux qui se détournaient, même ceux qui, lorsque leurs regards croisaient les siens, le fixaient à ce moment moins que jamais. Personne n’aurait été d’humeur à supporter longtemps ce regard vide, exigeant, qui réclamait on ne savait quoi et qui errait sans contrôle […].3
Das Bedrohliche dieses Blickes scheint seine unerklärbare Absicht zu sein, die im unkontrollierten Suchen nach einem Objekt das Subjekt als Ursprung des Blickes verschwinden lässt, sodass der Blick als die reine Aufforderung des Kontaktes im Raum ist. Beantwortet wird diese Aufforderung mit einem weiteren Rückzug der anderen Gäste, was synekdochisch an Anne gezeigt wird. Ihr Verhältnis zu Thomas ist über die Lichtkonstellation dargestellt: So bildet sie für Thomas einen Lichtblick im Sinne der Hoffnung auf Nähe sowie einen Blick, der durch ihr Licht eine gewisse Sichtbarkeit in Form von Fühlbarkeit bekommt. Thomas scheint aus der Unsichtbarkeit heraus zu agieren und Anne in seinem Blick als Wahrnehmung (und nicht als Realität) erscheinen zu lassen. Wie die Wahrnehmungen in seinem Blick erscheinen, werden sie auch wieder ausgelöscht und in Unsichtbares verwandelt. Es ist daher davon auszugehen, dass es einen Nexus zwischen Thomas’ Blick und den äußerlichen Lichtverhältnissen gibt, denn simultan zu seinem Blicken beginnt alles dämmrig zu werden, sodass ebenfalls Annes faszinierender Glanz verschwindet. Was bleibt, ist die Faszination, welche Thomas’ Blick umso mehr erfasst, als er in Annes inneres Knochenphosphoreszieren eindringt. „En s’acharnant avec indécence dans sa contemplation, l’on ne pouvait que s’enfoncer dans un sentiment de solitude où, si loin qu’on voulût aller, l’on se perdrait et continuerait à se perdre.“4
Die Vertiefung bewirkt keine irgendwie geartete Form der inneren Versenkung, sondern ein der Einsamkeit unaufhörliches Ausgesetztsein. Sowohl der auffällige Wechsel von der Beschreibung Thomas’ in die neutrale Person des „on“ in diesem Abschnitt, als auch die versenkende Betrachtung, wie der Weg in die unendliche Einsamkeit, findet sich in Blanchots Essay „La solitude essentielle“ als Beschreibung der Faszination. Dort heißt es:
Le regard est entraîné, absorbé dans un mouvement immobile et un fond sans profondeur. […] La fascination est le regard de la solitude. […] Ce milieu de la fascination, où ce que l’on voit saisit la vue et la rend interminable, où le regard se fige en lumière, où la lumière est le luisant absolue de l’œil qu’on ne voit pas, qu’on ne cesse pourtant de voir […] lumière où l’on s’abîme, effrayante et attrayante.5
Der faszinierte Blick wird von seinem Spiegelblick in die grundlose Tiefe der Einsamkeit gezogen, welche der Ursprung des Lichts wie des Begreifens ist, und erfährt dadurch sein eigenes nichtendes Moment, sofern er sich auf diese Weise als Urheber und Resultat des Lichts erfährt. Für das Subjekt hat dies eine Auflösung seiner Machtbefugnisse zur Konsequenz, die erkenntnistheoretisch darauf hinauslaufen, dass es nicht mehr als Instanz eines Ichs aufzutreten vermag, sondern sich auf ein unpersönliches „on“ zurückzieht, welches, nebenbei bemerkt, den Anderen in der Alternative des „on“ zum „nous“ als konstitutiven Bestandteil des Eigenen in sich beherbergt, ohne dabei zum Plural der 1. Person werden zu können.
Thomas trägt, wie bereits festgestellt, die Spuren der verstörenden Tiefenerfahrung der ‚autre‘ nuit in sich. Diese Dunkelheit, deren Aspekte sich im Laufe des Textes stetig weiter entfalten, offenbart sich auch in seinem Beinamen: ‚l’Obscur‘. Vieles an und in ihm ist und bleibt dunkel bis unsichtbar. Jedes Licht, das ihm entspringt oder von ihm wahrgenommen wird, fußt auf dem verborgenen dunklen Aspekt seiner Person. Im 3. Kapitel wird der Versuch einer Rückkehr in die Menschenwelt unternommen, der jedoch deutlich macht, wie groß die Entfernung zwischen ihm und dem Rest der Welt ist. Doch gerade diese Entfernung aufgrund der Erfahrung der Einsamkeit ist es, die den Blick und mit ihm eine andere Form des Weltzugangs erst möglich macht. Sein alles durchdringender Blick erweist sich als nichtend, da er nicht nur Blick, sondern selbst eine Art Licht zu sein scheint, das der Dunkelheit jenseits der Subjektivität entspringt. Thomas der Dunkle ist der, der die Dinge durch seinen Blick auftauchen lässt. Da Thomas jedoch kein Subjekt ist, sondern ein literarischer Gegenentwurf zum Subjektdenken, verliert sich die Spur der Rückführung des Blickes auf einen Ursprung in der Dunkelheit. Thomas gibt einerseits als der Dunkle Dinge oder Personen zu erkennen, verwandelt sie jedoch andererseits auch wieder in Unsichtbares, indem der Blick schwenkt und keine Erinnerung an gerade Beleuchtetes erzählt wird. Das Gesehene wird dadurch ausgelöscht. Von ihm erfasst zu werden bedeutet Auflösung durch den Übergang in ein Gesehen-Werden, das im Falle der Faszination wieder auf den Blickenden zurückfällt.
Im Zustand der Faszination verbinden sich Sehen und Berühren, d.h. der Sehende wird durch das Angesehene, das er mit seinem Blick berührt, selbst berührt und begriffen. Das neutre, welches sich in der Faszination zeigt, kann Umkehrungen der Blickrichtung bewirken oder auch eine Unentscheidbarkeit darüber provozieren, wer wen anblickt oder ob überhaupt noch gesagt werden kann, dass jemand und nicht etwas blickt. In der Faszination befinden sich Subjekt und Objekt in einem beziehungsverschiebenden Zwischenraum, dessen Parallelen zu Maurice Merleau-Pontys Begriff der Zwischenleiblichkeit im nächsten Punkt aufgezeigt werden soll.
3.3 Zwischenleiblichkeit: Blicken und Berühren (Merleau-Ponty)
Eine der Grundannahmen der Phänomenologie ist, dass der Mensch stets in irgendeiner Form eine Verbindung oder Kontakt mit der ihn umgebenden Welt hat. Martin Heidegger verwendet dafür den Begriff „In-der-Welt-sein“1, Maurice Merleau-Ponty spricht in Anlehnung an Heidegger von einem „être-au-monde“, welches als „Zur-Welt-sein“ übersetzt werden kann und demnach über die Gerichtetheit des Seins und die damit verbundene Intentionalität einen feinen Unterschied zu Heideggers Weltbezug aufweist.2 Der Mensch ist in beiden Fällen weder isoliert von der Welt, noch von seiner Umgebung zu betrachten, denn als Gemisch aus Eigenem und Fremden steht seine körperliche wie geistige Geschlossenheit spätestens seit Edmund Husserl in Frage. Daraus folgt für Merleau-Ponty, dass die phänomenologische Reduktion als Weg zu einem sauberen und vorurteilsfreien Beginn der Reflexion niemals gänzlich gelingen kann, sofern eben das Eigene immer schon mit dem Fremden beweglich verbunden ist, was unsichtbare Kräfte impliziert, die das erkennende Subjekt nicht steuern kann. Merleau-Ponty betont in der Weiterführung von Husserls Denken, dass es neben dem Sichtbaren auch noch Unsichtbares gebe, das unsere Wahrnehmung und infolgedessen unsere Vernunft beeinflusse. Dieses Unsichtbare oder „Unreflektierte“ ist das, was eigentlich das Sehen bedingt oder sogar steuert. Letzteres entspringt dem Leib als eine von vielen Formen der Wahrnehmung. So schreibt er in seinem, aufgrund des plötzlichen Todes Fragment gebliebenen, Hauptwerk Le visible et l’invisible, dass „la perception ne naît pas n’importe où, qu’elle émerge dans le recès d’un corps […].“3 Die Beziehung des Menschen zur Welt umfasst weit mehr, als es das Denken im Verhältnis zu seinem Gegenstand auszudrücken fähig wäre. Sie ist durch konkrete Erfahrungen geprägt, die sich nach Merleau-Ponty noch vor der Arbeit des Verstandes in den Leib einschreiben.
Der Leib
Merleau-Pontys Phänomenologie verknüpft im Ausgang vom Leib1 (im Französischen corps propre = Eigen-Körper oder eigener Körper) die von der Subjektivität ausgehende Bewusstseinsphilosophie mit der Objektivität anstrebenden Naturwissenschaft, denn der Leib ist für ihn sowohl höchstsubjektive Innerlichkeit (phänomenaler Leib) als auch eine von außen wahrnehmbare Materialität (objektiver Leib). „Der Leib hat damit einen Doppelcharakter und eine Zwischenstellung, die gleichermaßen eine Beziehung zur Welt als auch ein eigenes Erleben gewährleistet.“2 Auf diese Weise ist der Leib als Medium und Ausgangspunkt Merleau-Pontys Versuch, den Subjekt-Objekt-Dualismus mit all seinen Semantisierungen zu unterlaufen.
Chiasmus und Zwischenleiblichkeit
In seinem Spätwerk findet Merleau-Ponty für diesen Zwischencharakter des Leibes den Begriff des Chiasmus, der die Reziprozität von Subjekt und Umwelt berücksichtigend dem Vorwurf einer ontologischen Hierarchisierung von Leib und Subjekt zu Gunsten des Ersteren entgegenzuwirken intendiert.1 Auch bewirkt die Beschreibung der Relation von Subjekt und Umwelt als Chiasmus, dass dieses Verhältnis nicht statisch oder dualistisch zu sehen ist, sondern in stetiger Bewegtheit durch wechselseitige Überkreuzungen und Überlagerungen: „Der Leib wird zu einem Ort der Überkreuzung von Beobachter und Beobachtetem.“2 Merleau-Ponty formuliert diese Besonderheit des Leibes als „intercorporéité“ (Zwischenleiblichkeit).3
Die Grenze zwischen Leib und Welt ist weniger als Begrenzung, denn als „surface de contact“ zu verstehen, d.h. als eine Oberfläche der Berührungen von Vertrautem und Fremdem, Sichtbarem und Unsichtbarem.4 Für das wahrnehmende Ich hat dies eine gewisse Gespaltenheit zur Folge. Es nimmt Dinge wahr und kann sich darüber hinaus beim Wahrnehmen wie von außen sehen, d.h. mit Niklas Luhmann gesprochen, die Position eines Beobachters zweiter Ordnung einnehmen, dabei aber naturgemäß nicht die eigene Leiblichkeit verlassen. Der Medienwissenschaftler Georg Christoph Tholen formuliert diese Problematik der Zwischenleiblichkeit als „Aufklaffen des Leibes in eine Nicht-Koinzidenz mit sich selbst“.5 Dieser Blick auf sich selbst von außen ist nur möglich auf der Basis der eigenen Physis, die so eine Art „Vor-Ich“ oder auch „Selbstvorgegebenheit“ für das Subjekt bildet.6 Man könnte sagen, dass Merleau-Ponty im Zuge seiner philosophischen Entwicklung des Leib-Begriffes das von Tholen beschriebene Aufklaffen radikalisiert, sodass schließlich das vermittelnde ebenso wie das unterbrechende Moment des Leibes im Begriff des Fleisches seine Bezeichnung findet. Selbstfindung und Erkenntnis sind nur im Prozess eines zumindest partiellen Selbstverlustes und in der Akzeptanz der Abhängigkeit vom Anderen möglich. Deshalb muss die Bindung an das Eigene, gespiegelt im Begriff des corps propre, ins Fleisch hinein erweitert oder zerfasert werden.







