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Die Straßen von Paris: Einer der Grundlagentexte materialistischer Kulturtheorie – Blick in die Jetztzeit des Spätkapitalismus
e-artnow, 2015
Kontakt: info@e-artnow.org
ISBN 978-80-268-2970-6
Exposés
Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts
»Die Wasser sind blau und die Gewächse sind rosa; der Abend ist süß anzuschauen;
Man geht spazieren. Die großen Damen gehen spazieren; hinter ihnen ergehen sich kleine Damen.«
Nguyen-Trong-Hiep: Paris capitale de la France. Recueil de vers. Hanoi 1897. Poésie XXV.Fourier oder die Passagen
»De ces palais les colonnes magiques
A l’amateur montrent de toutes parts,
Dans les objets qu’étaient leurs portiques,
Que l’industrie est rivale des arts.«
Nouveaux tableaux de Paris, Paris 1828. I, p. 27.Die Mehrzahl der pariser Passagen entsteht in den anderthalb Jahrzehnten nach 1822. Die erste Bedingung ihres Aufkommens ist die Hochkonjunktur des Textilhandels. Die magasins de nouveautés, die ersten Etablissements, die größere Warenlager im Hause unterhalten, beginnen sich zu zeigen. Sie sind die Vorläufer der Warenhäuser. Es war die Zeit, von der Balzac schrieb: »Le grand poème de l’étalage chante ses strophes de couleurs depuis la Madeleine jusqu’à la porte Saint-Denis.« Die Passagen sind ein Zentrum des Handels in Luxuswaren. In ihrer Ausstattung tritt die Kunst in den Dienst des Kaufmanns. Die Zeitgenossen werden nicht müde, sie zu bewundern. Noch lange bleiben sie ein Anziehungspunkt für die Fremden. Ein »Illustrierter Pariser Führer« sagt: »Diese Passagen, eine neuere Erfindung des industriellen Luxus, sind glasgedeckte, marmorgetäfelte Gänge durch ganze Häusermassen, deren Besitzer sich zu solchen Spekulationen vereinigt haben. Zu beiden Seiten dieser Gänge, die ihr Licht von oben erhalten, laufen die elegantesten Warenläden hin, so daß eine solche Passage eine Stadt, ja eine Welt im kleinen ist.« Die Passagen sind der Schauplatz der ersten Gasbeleuchtung.
Die zweite Bedingung des Entstehens der Passagen bilden die Anfänge des Eisenbaus. Das Empire sah in dieser Technik einen Beitrag zur Erneuerung der Baukunst im altgriechischen Sinne. Der Architekturtheoretiker Boetticher spricht die allgemeine Überzeugung aus, wenn er sagt, daß »hinsichtlich der Kunstformen des neuen Systemes das Formenprinzip der hellenischen Weise« in kraft treten müsse. Das Empire ist der Stil des revolutionären Terrorismus, dem der Staat Selbstzweck ist. So wenig Napoleon die funktionelle Natur des Staates als Herrschaftsinstrument der Bürgerklasse erkannte, so wenig erkannten die Baumeister seiner Zeit die funktionelle Natur des Eisens, mit dem das konstruktive Prinzip seine Herrschaft in der Architektur antritt. Diese Baumeister bilden Träger der pompejanischen Säule, Fabriken den Wohnhäusern nach, wie später die ersten Bahnhöfe an Chalets sich anlehnen. »Die Konstruktion nimmt die Rolle des Unterbewußtseins ein.« Nichtsdestoweniger beginnt der Begriff des Ingenieurs, der aus den Revolutionskriegen stammt, sich durchzusetzen, und die Kämpfe zwischen Konstrukteur und Dekorateur, Ecole Polytechnique und Ecole des Beaux-Arts beginnen.
Erstmals in der Geschichte der Architektur tritt mit dem Eisen ein künstlicher Baustoff auf. Er unterliegt einer Entwicklung, deren Tempo sich im Laufe des Jahrhunderts beschleunigt. Sie erhält den entscheidenden Anstoß als sich herausstellt, daß die Lokomotive, mit der man seit Ende der zwanziger Jahre Versuche anstellte, nur auf eisernen Schienen verwendbar ist. Die Schiene wird der erste montierbare Eisenteil, die Vorgängerin des Trägers. Man vermeidet das Eisen bei Wohnbauten und verwendet es bei Passagen, Ausstellungshallen, Bahnhöfen – Bauten, die transitorischen Zwecken dienen. Gleichzeitig erweitert sich das architektonische Anwendungsgebiet des Glases. Die gesellschaftlichen Voraussetzungen für seine gesteigerte Verwendung als Baustoff finden sich aber erst hundert Jahre später. Noch in der »Glasarchitektur« von Scheerbart (1914) tritt sie in den Zusammenhängen der Utopie auf.
»Chaque époque rêve la suivante.«
Michelet: Avenir! Avenir!Der Form des neuen Produktionsmittels, die im Anfang noch von der des alten beherrscht wird (Marx), entsprechen im Kollektivbewußtsein Bilder, in denen das Neue sich mit dem Alten durchdringt. Diese Bilder sind Wunschbilder und in ihnen sucht das Kollektiv die Unfertigkeit des gesellschaftlichen Produkts sowie die Mängel der gesellschaftlichen Produktionsordnung sowohl aufzuheben wie zu verklären. Daneben tritt in diesen Wunschbildern das nachdrückliche Streben hervor, sich gegen das Veraltete – das heißt aber: gegen das Jüngstvergangene – abzusetzen. Diese Tendenzen weisen die Bildphantasie, die von dem Neuen ihren Anstoß erhielt, an das Urvergangne zurück. In dem Traum, in dem jeder Epoche die ihr folgende in Bildern vor Augen tritt, erscheint die letztere vermählt mit Elementen der Urgeschichte, das heißt einer klassenlosen Gesellschaft. Deren Erfahrungen, welche im Unbewußten des Kollektivs ihr Depot haben, erzeugen in Durchdringung mit dem Neuen die Utopie, die in tausend Konfigurationen des Lebens, von den dauernden Bauten bis zu den flüchtigen Moden, ihre Spur hinterlassen hat.
Diese Verhältnisse werden an der Fourierschen Utopie kenntlich. Deren innerster Anstoß liegt im Auftreten der Maschinen. Aber das kommt in ihren Darstellungen nicht unmittelbar zum Ausdruck; sie gehen von der Unmoral des Handelsgeschäfts sowie von der in seinem Dienste aufgebotenen falschen Moral aus. Das phalanstère soll die Menschen zu Verhältnissen zurückführen, in denen die Sittlichkeit sich erübrigt. Seine höchst komplizierte Organisation erscheint als Maschinerie. Die Verzahnungen der passions, das verwickelte Zusammenwirken der passions mécanistes mit der passion cabaliste sind primitive Analogiebildungen zur Maschine im Material der Psychologie. Diese Maschinerie aus Menschen produziert das Schlaraffenland, das uralte Wunschsymbol, das Fouriers Utopie mit neuem Leben erfüllt hat.
In den Passagen hat Fourier den architektonischen Kanon des phalanstère gesehen. Ihre reaktionäre Umbildung durch Fourier ist bezeichnend: während sie ursprünglich geschäftlichen Zwecken dienen, werden sie bei ihm Wohnstätten. Das phalanstère wird eine Stadt aus Passagen. Fourier etabliert in der strengen Formwelt des Empire die farbige Idylle des Biedermeier. Ihr Glanz dauert verblaßt bis auf Zola. Er nimmt die Ideen Fouriers in seinem »Travail« auf, wie er von den Passagen in der »Thérèse Raquin« Abschied nimmt. – Marx hat sich Carl Grün gegenüber schützend vor Fourier gestellt und dessen »kolossale Anschauung der Menschen« hervorgehoben. Auch hat er den Blick auf Fouriers Humor gelenkt. In der Tat ist Jean Paul in seiner »Levana« dem Pädagogen Fourier ebenso verwandt wie Scheerbart in seiner »Glasarchitektur« dem Utopisten Fourier.
Daguerre oder die Panoramen
»Soleil, prends garde à toi!«
A. J. Wiertz: Œuvres littéraires. Paris 1870, p. 374.Wie die Architektur in der Eisenkonstruktion der Kunst zu entwachsen beginnt, so tut das die Malerei ihrerseits in den Panoramen. Der Höhepunkt in der Verbreitung der Panoramen fällt mit dem Aufkommen der Passagen zusammen. Man war unermüdlich, durch technische Kunstgriffe die Panoramen zu Stätten einer vollkommenen Naturnachahmung zu machen. Man suchte den Wechsel der Tageszeit in der Landschaft, das Heraufziehen des Mondes, das Rauschen der Wasserfälle nachzubilden. David rät seinen Schülern, in den Panoramen nach der Natur zu zeichnen. Indem die Panoramen in der dargestellten Natur täuschend ähnliche Veränderungen hervorzubringen trachten, weisen sie über die Photographie auf Film und Tonfilm voraus.
Mit den Panoramen ist eine panoramatische Literatur gleichzeitig. »Le livre des Cent-et-Un«, »Les Français peints par eux-mêmes«, »Le diable à Paris«, »La grande ville« gehören ihr an. In diesen Büchern bereitet sich die belletristische Kollektivarbeit vor, der in den dreißiger Jahren Girardin im Feuilleton eine Stätte schuf. Sie bestehen aus einzelnen Skizzen, deren anekdotische Einkleidung dem plastisch gestellten Vordergründe der Panoramen, deren informatorischer Fond deren gemaltem Hintergründe entspricht. Diese Literatur ist auch gesellschaftlich panoramatisch. Zum letzten Mal erscheint der Arbeiter, außerhalb seiner Klasse, als Staffage einer Idylle.
Die Panoramen, die eine Umwälzung im Verhältnis der Kunst zur Technik ankündigen, sind zugleich Ausdruck eines neuen Lebensgefühls. Der Städter, dessen politische Überlegenheit über das Land im Laufe des Jahrhunderts vielfach zum Ausdruck kommt, macht den Versuch, das Land in die Stadt einzubringen. Die Stadt weitet sich in den Panoramen zur Landschaft aus wie sie es auf subtilere Art später für den Flanierenden tut. Daguerre ist ein Schüler des Panoramenmalers Prévost, dessen Etablissement sich in dem Passage des Panoramas befindet. Beschreibung der Panoramen von Prévost und Daguerre. 1839 brennt das Daguerresche Panorama ab. Im gleichen Jahr gibt er die Erfindung der Daguerreotypie bekannt. Arago präsentiert die Photographie in einer Kammerrede. Er weist ihr den Platz in der Geschichte der Technik an. Er prophezeit ihre wissenschaftlichen Anwendungen. Dagegen beginnen die Künstler ihren Kunstwert zu debattieren. Die Photographie führt zur Vernichtung des großen Berufsstandes der Porträtminiaturisten. Dies geschieht nicht nur aus ökonomischen Gründen. Die frühe Photographie war künstlerisch der Porträtminiatur überlegen. Der technische Grund dafür liegt in der langen Belichtungszeit, die die höchste Konzentration des Porträtierten erfordert. Der gesellschaftliche Grund dafür liegt in dem Umstand, daß die ersten Photographen der Avantgarde angehörten und ihre Kundschaft zum großen Teil aus ihr kam. Der Vorsprung Nadars vor seinen Berufsgenossen kennzeichnet sich in seinem Unternehmen, Aufnahmen im Kanalisationssystem von Paris zu machen. Damit werden dem Objektiv zum ersten Mal Entdeckungen zugemutet. Seine Bedeutung wird um so größer je fragwürdiger im Angesicht der neuen technischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit der subjektive Einschlag in der malerischen und graphischen Information empfunden wird.
Die Weltausstellung von 1855 bringt zum ersten Mal eine Sonderschau »Photographie«. Im gleichen Jahre veröffentlicht Wiertz seinen großen Artikel über die Photographie, in dem er ihr die philosophische Erleuchtung der Malerei zuweist. Diese Erleuchtung verstand er, wie seine eignen Gemälde zeigen, im politischen Sinn. Wiertz kann als der erste bezeichnet werden, der die Montage als agitatorische Verwertung der Photographie wenn nicht vorhergesehen, doch gefordert hat. Mit dem zunehmenden Umfang des Verkehrswesens vermindert sich die informatorische Bedeutung der Malerei. Sie beginnt, in Reaktion auf die Photographie, zunächst die farbigen Bildelemente zu unterstreichen. Als der Impressionismus dem Kubismus weicht, hat die Malerei sich eine weitere Domäne geschaffen, in die ihr die Photographie vorerst nicht folgen kann. Die Photographie ihrerseits dehnt seit der Jahrhundertmitte den Kreis der Warenwirtschaft gewaltig aus, indem sie Figuren, Landschaften, Ereignisse, die entweder überhaupt nicht oder nur als Bild für einen Kunden verwertbar waren, in unbeschränkter Menge auf dem Markt ausbot. Um den Umsatz zu steigern erneuerte sie ihre Objekte durch modische Veränderungen der Aufnahmetechnik, die die spätere Geschichte der Photographie bestimmen.
Grandville oder die Weltausstellungen
»Oui, quand le monde entier, de Paris jusqu’en Chine,
O divin Saint-Simon, sera dans ta doctrine,
L’âge d’or doit renaître avec tout son éclat,
Les fleuves rouleront du thé, du chocolat;
Les moutons tout rôtis bondiront dans la plaine,
Et les brochets au bleu nageront dans la Seine;
Les épinards viendront au monde fricassés,
Avec des croûtons frits tout autour concassés;
Les arbres produiront des pommes en compotes,
Et l’on moissonnera des carricks et des bottes;
Il neigera du vin, il pleuvra des poulets,
Et du ciel les canards tomberont aux navets.«
Langlé et Vanderburch: Louis-Bronze et le Saint-Simonien (Théâtre du Palais-Royal 27 février 1832)Weltausstellungen sind die Wallfahrtsstätten zum Fetisch Ware. »L’Europe s’est déplacé pour voir des marchandises«, sagt Taine 1855. Den Weltausstellungen gehen nationale Ausstellungen der Industrie vorher, von denen die erste 1798 auf dem Marsfelde stattfindet. Sie geht aus dem Wunsch hervor, »die Arbeiterklassen zu amüsieren und wird für dieselben ein Fest der Emanzipation«. Die Arbeiterschaft steht als Kunde im Vordergrund. Der Rahmen der Vergnügungsindustrie hat sich noch nicht gebildet. Das Volksfest stellt ihn. Chaptals Rede auf die Industrie eröffnet diese Ausstellung. – Die Saint-Simonisten, die die Industrialisierung der Erde planen, nehmen den Gedanken der Weltausstellungen auf. Chevalier, die erste Autorität auf dem neuen Gebiet, ist Schüler von Enfantin und Herausgeber der saint-simonistischen Zeitung »Globe«. Die Saint-Simonisten haben die Entwicklung der Weltwirtschaft, nicht aber den Klassenkampf vorausgesehen. Neben ihrem Anteil an den industriellen und kommerziellen Unternehmungen um die Jahrhundertmitte steht ihre Hilflosigkeit in den Fragen, die das Proletariat betreffen.
Die Weltausstellungen verklären den Tauschwert der Waren. Sie schaffen einen Rahmen, in dem ihr Gebrauchswert zurücktritt. Sie eröffnen eine Phantasmagorie, in die der Mensch eintritt, um sich zerstreuen zu lassen. Die Vergnügungsindustrie erleichtert ihm das, indem sie ihn auf die Höhe der Ware hebt. Er überläßt sich ihren Manipulationen, indem er seine Entfremdung von sich und den andern genießt. – Die Inthronisierung der Ware und der sie umgebende Glanz der Zerstreuung ist das geheime Thema von Grandvilles Kunst. Dem entspricht der Zwiespalt zwischen ihrem utopischen und ihrem zynischen Element. Ihre Spitzfindigkeiten in der Darstellung toter Objekte entsprechen dem, was Marx die »theologischen Mucken« der Ware nennt. Sie schlagen sich deutlich in der »spécialité« nieder – eine Warenbezeichnung, die um diese Zeit in der Luxusindustrie aufkommt. Unter Grandvilles Stift verwandelt sich die gesamte Natur in Spezialitäten. Er präsentiert sie im gleichen Geist in dem die Reklame – auch dieses Wort entsteht damals – ihre Artikel zu präsentieren beginnt. Er endet im Wahnsinn.
»Mode: Herr Tod! Herr Tod!«
Leopardi: Dialog zwischen der Mode und dem TodDie Weltausstellungen bauen das Universum der Waren auf. Grandvilles Phantasien übertragen den Warencharakter aufs Universum. Sie modernisieren es. Der Saturnring wird ein gußeisener Balkon, auf dem die Saturnbewohner abends Luft schöpfen. Das literarische Gegenstück dieser graphischen Utopie stellen die Bücher des fourieristischen Naturforschers Toussenel dar. – Die Mode schreibt das Ritual vor, nach dem der Fetisch Ware verehrt sein will. Grandville dehnt ihren Anspruch auf die Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs so gut wie auf den Kosmos aus. Indem er sie in ihren Extremen verfolgt, deckt er ihre Natur auf. Sie steht im Widerstreit mit dem Organischen. Sie verkuppelt den lebendigen Leib der anorganischen Welt. An dem Lebenden nimmt sie die Rechte der Leiche wahr. Der Fetischismus, der dem Sex-Appeal des Anorganischen unterliegt, ist ihr Lebensnerv. Der Kultus der Ware stellt ihn in seinen Dienst.
Zur pariser Weltausstellung von 1867 erläßt Victor Hugo ein Manifest »An die Völker Europas«. Früher und eindeutiger sind deren Interessen von den französischen Arbeiterdelegationen vertreten worden, deren erste zur londoner Weltausstellung von 1851, deren zweite von 750 Vertretern zu der von 1862 abgeordnet wurde. Diese war mittelbar für die Gründung der Internationalen Arbeiter-Association von Marx von Bedeutung. – Die Phantasmagorie der kapitalistischen Kultur erreicht auf der Weltausstellung von 1867 ihre strahlendste Entfaltung. Das Kaiserreich steht auf der Höhe seiner Macht. Paris bestätigt sich als Kapitale des Luxus und der Moden. Offenbach schreibt dem pariser Leben den Rhythmus vor. Die Operette ist die ironische Utopie einer dauernden Herrschaft des Kapitals.
Louis-Philippe oder das Interieur
»La tête …
Sur la table de nuit, comme une renoncule,
Repose.«
Baudelaire: Une martyreUnter Louis-Philippe betritt der Privatmann den geschichtlichen Schauplatz. Die Erweiterung des demokratischen Apparats durch ein neues Wahlrecht fällt mit der parlamentarischen Korruption zusammen, die von Guizot organisiert wird. In deren Schutz macht die herrschende Klasse Geschichte, indem sie ihre Geschäfte verfolgt. Sie fördert den Eisenbahnbau, um ihren Aktienbesitz zu verbessern. Sie begünstigt die Herrschaft Louis-Philippes als die des geschäftsführenden Privatmanns. Mit der Julirevolution hat die Bourgeoisie die Ziele von 1789 verwirklicht (Marx).
Für den Privatmann tritt erstmals der Lebensraum in Gegensatz zu der Arbeitsstätte. Der erste konstituiert sich im Interieur. Das Kontor ist sein Komplement. Der Privatmann, der im Kontor der Realität Rechnung trägt, verlangt vom Interieur in seinen Illusionen unterhalten zu werden. Diese Notwendigkeit ist um so dringlicher, als er seine geschäftlichen Überlegungen nicht zu gesellschaftlichen zu erweitern gedenkt. In der Gestaltung seiner privaten Umwelt verdrängt er beide. Dem entspringen die Phantasmagorien des Interieurs. Es stellt für den Privatmann das Universum dar. In ihm versammelt er die Ferne und die Vergangenheit. Sein Salon ist eine Loge im Welttheater.
Exkurs über den Jugendstil. Die Erschütterung des Interieurs vollzieht sich um die Jahrhundertwende im Jugendstil. Allerdings scheint er, seiner Ideologie nach, die Vollendung des Interieurs mit sich zu bringen. Die Verklärung der einsamen Seele erscheint als sein Ziel. Der Individualismus ist seine Theorie. Bei Van de Velde erscheint das Haus als Ausdruck der Persönlichkeit. Das Ornament ist diesem Hause was dem Gemälde die Signatur. Die wirkliche Bedeutung des Jugendstils kommt in dieser Ideologie nicht zum Ausdruck. Er stellt den letzten Ausfallsversuch der in ihrem elfenbeinernen Turm von der Technik belagerten Kunst dar. Er mobilisiert alle Reserven der Innerlichkeit. Sie finden ihren Ausdruck in der mediumistischen Liniensprache, in der Blume als dem Sinnbild der nackten, vegetativen Natur, die der technisch armierten Umwelt entgegentritt. Die neuen Elemente des Eisenbaus, Trägerformen, beschäftigen den Jugendstil. Im Ornament bemüht er sich, diese Formen der Kunst zurückzugewinnen. Das Beton stellt ihm neue Möglichkeiten plastischer Gestaltung in der Architektur in Aussicht. Um diese Zeit verlagert der wirkliche Schwerpunkt des Lebensraumes sich ins Büro. Der entwirklichte schafft sich seine Stätte im Eigenheim. Das Fazit des Jugendstils zieht der »Baumeister Solneß«: der Versuch des Individuums, auf Grund seiner Innerlichkeit mit der Technik es aufzunehmen, führt zu seinem Untergang.
»Je crois … à mon âme: la Chose.«
Léon Deubel: Œuvres. Paris 1929. p. 193.Das Interieur ist die Zufluchtsstätte der Kunst. Der Sammler ist der wahre Insasse des Interieurs. Er macht die Verklärung der Dinge zu seiner Sache. Ihm fällt die Sisyphosaufgabe zu, durch seinen Besitz an den Dingen den Warencharakter von ihnen abzustreifen. Aber er verleiht ihnen nur den Liebhaberwert statt des Gebrauchswerts. Der Sammler träumt sich nicht nur in eine ferne oder vergangene Welt sondern zugleich in eine bessere, in der zwar die Menschen ebensowenig mit dem versehen sind, was sie brauchen, wie in der alltäglichen, aber die Dinge von der Fron frei sind, nützlich zu sein.
Das Interieur ist nicht nur das Universum sondern auch das Etui des Privatmanns. Wohnen heißt Spuren hinterlassen. Im Interieur werden sie betont. Man ersinnt Überzüge und Schoner, Futterals und Etuis in Fülle, in denen die Spuren der alltäglichsten Gebrauchsgegenstände sich abdrücken. Auch die Spuren des Wohnenden drücken sich im Interieur ab. Es entsteht die Detektivgeschichte, die diesen Spuren nachgeht. Die »Philosophie des Mobiliars« sowie seine Detektivnovellen erweisen Poe als den ersten Physiognomen des Interieurs. Die Verbrecher der ersten Detektivromane sind weder Gentlemen noch Apachen sondern bürgerliche Privatleute.
Baudelaire oder die Straßen von Paris
»Tout pour moi devient allégorie.«
Baudelaire: Le cygneBaudelaires Ingenium, das sich aus der Melancholie nährt, ist ein allegorisches. Zum ersten Male wird bei Baudelaire Paris zum Gegenstand der lyrischen Dichtung. Diese Dichtung ist keine Heimatkunst, vielmehr ist der Blick des Allegorikers, der die Stadt trifft, der Blick des Entfremdeten. Es ist der Blick des Flaneurs, dessen Lebensform die kommende trostlose des Großstadtmenschen noch mit einem versöhnenden Schimmer umspielt. Der Flaneur steht noch auf der Schwelle, der Großstadt sowohl wie der Bürgerklasse. Keine von beiden hat ihn noch überwältigt. In keiner von beiden ist er zu Hause. Er sucht sich sein Asyl in der Menge. Frühe Beiträge zur Physiognomik der Menge finden sich bei Engels und Poe. Die Menge ist der Schleier, durch den hindurch dem Flaneur die gewohnte Stadt als Phantasmagorie winkt. In ihr ist sie bald Landschaft, bald Stube. Beide baut dann das Warenhaus auf, das die Flanerie selber dem Warenumsätze nutzbar macht. Das Warenhaus ist der letzte Strich des Flaneurs,
Im Flaneur begibt sich die Intelligenz auf den Markt. Wie sie meint, um ihn anzusehen und in Wahrheit doch schon, um einen Käufer zu finden. In diesem Zwischenstadium, in dem sie noch Mäzene hat aber schon beginnt, mit dem Markt sich vertraut zu machen, erscheint sie als bohème. Der Unentschiedenheit ihrer ökonomischen Stellung entspricht die Unentschiedenheit ihrer politischen Funktion. Diese kommt am sinnfälligsten bei den Berufsverschwörern zum Ausdruck, die durchweg der bohème angehören. Ihr anfängliches Arbeitsfeld ist die Armee, später wird es das Kleinbürgertum, gelegentlich das Proletariat. Doch sieht diese Schicht ihre Gegner in den eigentlichen Führern des letztern. Das kommunistische Manifest macht ihrem politischen Dasein ein Ende. Baudelaires Dichtung zieht ihre Kraft aus dem rebellischen Pathos dieser Schicht. Er schlägt sich auf die Seite der Asozialen. Seine einzige Geschlechtsgemeinschaft realisiert er mit einer Hure.
»Facilis descensus Averno.«
Vergil: AeneisEs ist das Einmalige der Dichtung von Baudelaire, daß die Bilder des Weibs und des Todes sich in einem dritten durchdringen, dem von Paris. Das Paris seiner Gedichte ist eine versunkene Stadt und mehr unterseeisch als unterirdisch. Die chthonischen Elemente der Stadt – ihre topographische Formation, das alte verlassene Bett der Seine – haben wohl einen Abdruck bei ihm gefunden. Entscheidend jedoch ist bei Baudelaire in der »totenhaften Idyllik« der Stadt ein gesellschaftliches Substrat, ein modernes. Das Moderne ist ein Hauptakzent seiner Dichtung. Als spleen zerspellt er das Ideal (»Spleen et Idéal«). Aber immer zitiert gerade die Moderne die Urgeschichte. Hier geschieht das durch die Zweideutigkeit, die den gesellschaftlichen Verhältnissen und Erzeugnissen dieser Epoche eignet. Zweideutigkeit ist die bildliche Erscheinung der Dialektik, das Gesetz der Dialektik im Stillstand. Dieser Stillstand ist Utopie und das dialektische Bild also Traumbild. Ein solches Bild stellt die Ware schlechthin: als Fetisch. Ein solches Bild stellen die Passagen, die sowohl Haus sind wie Straße. Ein solches Bild stellt die Hure, die Verkäuferin und Ware in einem ist.
»Je voyage pour connaître ma géographie.«
Aufzeichnung eines Irren. (Marcel Réja: L’art chez les fous. Paris 1907. p. 131.)Das letzte Gedicht der »Fleurs du mal«: Le Voyage. »O Mort, vieux capitaine, il est temps! levons l’ancre!« Die letzte Reise des Flaneurs: der Tod. Ihr Ziel: das Neue. »Au fond de l’Inconnu pour trouver du Nouveau!« Das Neue ist eine vom Gebrauchswert der Ware unabhängige Qualität. Es ist der Ursprung des Scheins, der den Bildern unveräußerlich ist, die das kollektive Unbewußte hervorbringt. Es ist die Quintessenz des falschen Bewußtseins, dessen nimmermüde Agentin die Mode ist. Dieser Schein des Neuen reflektiert sich, wie ein Spiegel im andern, im Schein des immer wieder Gleichen. Das Produkt dieser Reflexion ist die Phantasmagorie der »Kulturgeschichte«, in der die Bourgeoisie ihr falsches Bewußtsein auskostet. Die Kunst, die an ihrer Aufgabe zu zweifeln beginnt und aufhört, »inséparable de l’utilité« zu sein (Baudelaire), muß das Neue zu ihrem obersten Wert machen. Der arbiter novarum rerum wird ihr der Snob. Er ist der Kunst, was der Mode der Dandy ist. – Wie im XVII. Jahrhundert die Allegorie der Kanon der dialektischen Bilder wird, so im XIX. Jahrhundert die Nouveauté. Den magasins de nouveautés treten die Zeitungen an die Seite. Die Presse organisiert den Markt geistiger Werte, auf dem zunächst eine Hausse entsteht. Die Nonkonformisten rebellieren gegen die Auslieferung der Kunst an den Markt. Sie scharen sich um das Banner des »l’art pour l’art«. Dieser Parole entspringt die Konzeption des Gesamtkunstwerks, das versucht, die Kunst gegen die Entwicklung der Technik abzudichten. Die Weihe, mit der es sich zelebriert, ist das Pendant der Zerstreuung, die die Ware verklärt. Beide abstrahieren vom gesellschaftlichen Dasein des Menschen. Baudelaire unterliegt der Betörung Wagners.