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Inhalt
Heft 3 | Juli-September 2016
Jahrgang 89 | Nr. 480
Notiz
Barmherzigkeit allein reicht nicht?
Klaus Vechtel SJ
Nachfolge
Gott oder Gottes Willen finden?
Josef Thorer SJ
Scheue Frömmigkeit
Bernd Hillebrand
Nachfolge | Kirche
Den Heiligen Geist nicht blockieren. Zeichen der Zeit für unsere Klöster heute
Bernhard Eckerstorfer OSB
Anton Rotzetter (1939–2016)
Stefan Walser OFMCap
Nachfolge | Junge Theologie
„Selbstpreisgabe an den Totalismus“ Guardinis Theologie nach der Shoa
Jonatan Burger
Reflexion
Ist der Himmel auch für Tiere offen?
Christoph J. Amor
Gott solidarisch. Gedanken zu einer prozesstheologisch inspirierten Spiritualität
Julia Enxing
Affektive Christozentrik. Luther und Bernhard
Franz Posset
Spiritual Care und/statt Seelsorge?
Doris Nauer
Lektüre
Ars Moriendi. Johannes Gersons Sterbebüchlein
Alex Stock
Michel de Certeau und Ignatius
Dominique Salin SJ
Die Tage nach der Entscheidung (Teil I)
Michel de Certeau SJ
Buchbesprechungen
Impressum
GEIST & LEBEN – Zeitschrift für christliche Spiritualität. Begründet 1926 als Zeitschrift für Aszese und Mystik
Erscheinungsweise: vierteljährlich ISSN 0016–5921
Herausgeber:
Deutsche Provinz der Jesuiten
Redaktion:
Christoph Benke (Chefredakteur)
Anna Albinus (Lektorats-/Redaktionsassistenz; Satz)
Redaktionsbeirat:
Bernhard Bürgler SJ/Wien, Margareta Gruber OSF/ Vallendar, Stefan Kiechle SJ/München, Bernhard Körner/Graz, Simon Peng-Keller/Zürich, Klaus Vechtel SJ/Frankfurt, Saskia Wendel/Köln
Redaktionsanschrift:
Pramergasse 9, A–1090 Wien
Tel. +43–(0)1–310 38 43–111/112,
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Verlag: Echter Verlag GmbH,
Dominikanerplatz 8, D–97070 Würzburg
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Diesem Heft liegt folgender Prospekt bei:
Zeitschrift für katholische Theologie, Echter Verlag
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eBook-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
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Klaus Vechtel SJ | Frankfurt a.M.
geb. 1963, Professor für Dogmatik in St. Georgen, Beiratsmitglied von GEIST & LEBEN
vechtel@sankt-georgen.de
Barmherzigkeit allein reicht nicht?
In seiner Verkündigungsbulle Misericordiae vultus hat Papst Franziskus eines seiner wichtigen Anliegen – die Barmherzigkeit – in den Mittelpunkt eines außerordentlichen Jubiläumsjahres gerückt: die Kirche soll zu einem Raum der Barmherzigkeit werden. Der Papst ist überzeugt davon, dass das biblisch-christliche Gottesbild nicht auf die Gerechtigkeit als Eigenschaft Gottes beschränkt bleiben darf, ohne in einen Anthropomorphismus zu verfallen: „Wenn Gott bei der Gerechtigkeit stehen bliebe, dann wäre er nicht mehr Gott, sondern vielmehr wie die Menschen, die die Beachtung des Gesetzes einfordern. Die Gerechtigkeit genügt nicht und die Erfahrung lehrt uns, dass, wer nur an sie appelliert, Gefahr läuft, sie zu zerstören“1. Wie eine Antithese zu dem Papst-Wort „Gerechtigkeit genügt nicht“ mutet ein Interview an, das der renommierte Sozialethiker Friedhelm Hengsbach gegeben hat: „Barmherzigkeit allein reicht nicht“2. Für Hengsbach hat sich die Kirche in eine Sackgasse manövriert, insofern sie an verpflichtenden Normen wie der Unauflöslichkeit der Ehe unbeirrbar festhält. Gegenüber diesen normativen Ordnungen sei es ungenügend, mit der Barmherzigkeit zu operieren. Die Barmherzigkeit wäre eine Art „Hintertür“. Man befinde sich hinsichtlich vieler Fragen kirchlicher Ehe- und Sexualmoral in einer unlösbaren Situation, kaschiere diese aber, indem man sich auf die Barmherzigkeit Gottes berufe. Für Hengsbach reicht es nicht, auf der persönlich-individuellen Ebene Barmherzigkeit walten zu lassen. Vielmehr müsse sich die Kirche eine gerechtere Ordnung geben: „Barmherzigkeit ist eine persönliche Einstellung, Gerechtigkeit aber ist eine Ordnung“.
Einige Punkte in diesen Äußerungen scheinen mir missverständlich zu sein: So muss differenziert werden zwischen der sakramentalen Ehe und ihrem unauflöslichen Charakter einerseits und andererseits dem kirchlichen Umgang mit der Realität des Scheiterns von christlichen Ehen, die in bester Absicht vollzogen wurden. Kann ein solches Scheitern allein mit rechtlichen Kategorien bewältigt werden oder bedarf es dazu einer Dimension, die die Gerechtigkeit umfasst?; einer Dimension, die die Möglichkeit der Umkehr und eines neuen Anfangs einräumt – die der Barmherzigkeit? Auch scheint mir die starke Entgegensetzung einer persönlich-individuellen Ebene des barmherzigen Verhaltens und der gesellschaftlich-strukturellen Ebene der Gerechtigkeit nicht treffend zu sein. Kann (und muss) nicht gerade die Barmherzigkeit dazu führen, dass auch kirchliche Norm und Disziplin modifiziert werden? Trotz dieser Einwände sind Hengsbachs Überlegungen bedeutsam, weil sie darauf aufmerksam machen, wie Barmherzigkeit nicht zu denken ist: Die Frage nach der Barmherzigkeit darf nicht als ein „Trick“ verstanden werden, mit dem man die (unbarmherzige) Rechtsordnung umgeht. Eine bloße Nachsichtigkeit würde den/die „Empfänger(in)“ demütigen und seiner/ihrer Würde berauben. Im Sinne einer Lohn- und Strafgerechtigkeit würde ihm/ihr einfach nur erlassen, was er/sie eigentlich doch verdient hätte. Barmherzigkeit wäre ein rein asymmetrisches Verhältnis zwischen „Empfänger“ und „Geber“ der Barmherzigkeit und hätte schwerwiegende Konsequenzen für das Gottesbild. Der barmherzige Gott könnte sich eigentlich auch ganz anders gegenüber dem Geschöpf verhalten, verzichtet aus unerfindlichen Gründen jedoch darauf.
Johannes Paul II. hat in seiner Enzyklika Dives in misericordia3 Hinweise zu einem differenzierten Verständnis von Barmherzigkeit gegeben. Ausgangspunkt ist das Gleichnis vom verlorenen Sohn. Auch wenn die Begriffe Barmherzigkeit und Gerechtigkeit nicht explizit genannt werden, wird eine Situation beschrieben, in der der jüngere Sohn keine Ansprüche mehr an den Vater stellen kann, die der Gerechtigkeit entsprechen. Dennoch bleibt der Vater sich und seiner Vaterschaft treu. Der Vater bleibt Vater und der Sohn bleibt Sohn. Die Freude des Vaters „weist auf ein unverletztes Gut hin: ein Sohn hört nie auf, in Wahrheit Sohn seines Vaters zu sein, selbst dann nicht, wenn er sich von ihm trennt“. Barmherzigkeit stellt kein Verhältnis der Ungleichheit dar. Sie demütigt den Menschen nicht, weil sie „auf der gemeinsamen Erfahrung jenes Gutes beruht, das der Mensch ist, auf der gemeinsamen Erfahrung der ihm eigenen Würde“. Barmherzigkeit besteht in der Anerkennung der Würde des anderen Menschen. Die Sorge um die Würde des Anderen verpflichtet den barmherzigen Vater, – sie verpflichtet auch die Kirche und jeden einzelnen Christen.
1 Misericordiae vultus. Verkündigungsbulle von Papst Franziskus zum Außerordentlichen Jubiläum der Barmherzigkeit (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 200), Bonn 2015, Nr. 21.
2 F. Hengsbach, Barmherzigkeit allein reicht nicht: http://www.rp-online.de/kultur/barmherzigkeitallein-reicht-nicht-aid-1.5690529 (Stand: 14.04.16).
3 Enzyklika Dives in Misericordia von Papst Johannes Paul II. (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 26). Bonn 1980, Nr. 6.


Josef Thorer SJ | Innsbruck
geb. 1948, Spiritual im Internationalen Theologischen Kolleg Canisianum in Innsbruck
josef.thorer@jesuiten.org
Gott oder Gottes Willen finden?
Gott suchen und finden1, dieses Anliegen ist ein Gemeingut christlicher Spiritualität.2 Es wird aber in besonderer Weise mit Ignatius von Loyola verbunden. Das mag daran liegen, dass es nicht nur eine Maxime seines Lebens war. Er hat einen Übungsweg für andere – die Exerzitien – vorgelegt und dieses Anliegen dem von ihm und seinen ersten Gefährten gegründeten Jesuitenorden zur Aufgabe gemacht. Er war überzeugt, dass Gott nicht nur in Zeiten des Gebetes, sondern in allen Dingen und in allem Tun gefunden werden kann.
Ignatius selbst bekennt in einem seiner letzten Lebensjahre einem Mitbruder gegenüber, er wachse „immer in der Andacht, das heißt in der Leichtigkeit, Gott zu finden, und jetzt mehr als in seinem ganzen Leben. Und jedesmal und zu jeder Stunde, dass er Gott finden wolle, finde er ihn“ (BP 99; GGJ 82)3. Von dieser Erfahrung her kann er die Ordensstudenten anweisen: „Sie können sich deshalb darin üben, die Gegenwart unseres Herrn in allen Dingen zu suchen, wie im Umgang mit jemand, im Gehen, Sehen, Schmecken, Hören, Verstehen und in allem, was wir tun; denn es ist wahr, dass seine göttliche Majestät durch Gegenwart, Macht und Wesen in allen Dingen ist.“4 Indem sie dies tun, müssen sie nicht so lange Gebetszeiten halten, dass darunter ihre Aufgabe, das Studium, leidet.5 Ignatius sieht die Gefahr, dass durch eine bestimmte Weise des Gott-Suchens, nämlich durch lange Gebetszeiten, das Tun des Willens Gottes zu kurz kommt. In diesem Sinne reagiert er äußerst scharf gegenüber einem Vorstoß für längere Gebetszeiten.6 Viele seiner Briefe enden mit der Bitte, seine göttliche Majestät „möge uns ihre Gnade in Fülle geben, damit wir ihren höchsten Willen verspüren und ihn gänzlich erfüllen.“7
Die Gegenwart Gottes zu erfassen suchen auf der einen Seite und den Willen Gottes erkennen und erfüllen wollen auf der anderen Seite, gehen offenbar nicht immer Hand in Hand, sondern können auch in einer Spannung zueinander stehen. Nach meinem Eindruck wird heute mehr das Finden der Gegenwart Gottes betont und weniger das Finden und Erfüllen seines Willens. Das mag u.a. damit zusammenhängen, dass oft zu leichtfertig etwas als Wille Gottes ausgegeben wird.8 So wurde beispielsweise mit den Worten „Gott will es!“ zu den Kreuzzügen aufgerufen. In jüngster Zeit erfahren wir von der vielfältigen Gewalt, die im Namen Allahs (des Allerbarmers) ausgeübt wird. Dennoch wird man das Erfahren von Gottes Gegenwart nicht von der Frage trennen können, was sich aus der Verbundenheit mit Ihm für die Lebensgestaltung ergibt. Andernfalls würde man leicht bei einem unverbindlichen Gefühl stehen bleiben. Wo bzw. wie finde ich Gott? – Was kann ich als seinen Willen für mich erkennen? Das sind zwei verschiedene Fragerichtungen. In welcher Weise sie zusammen gehören und sich ergänzen, ist Thema der nachfolgenden Ausführungen. Es geht dabei auch um die Frage nach dem Zusammenhang von Kontemplation und Aktion.
Das Leben des Ignatius als Beispiel
Beide Sichtweisen sind schon am Beginn der Lebenswende des Ignatius präsent. In der Zeit seiner Rekonvaleszenz im heimatlichen Schloss in Loyola nach der schweren Verwundung bei der Verteidigung der Festung Pamplona hatte er zwei Bücher zur Verfügung: eine Sammlung von Heiligenlegenden und ein Buch mit Betrachtungen zum Leben Jesu. Sich da hinein zu vertiefen weckt in ihm eine Liebe und Großmut (vgl. BP 14; GGJ 22). Die Heiligenlegenden wiederum zeigen ihm, wie ein Leben in der Nachfolge aussehen kann, und sie wecken in ihm den zunächst noch unerleuchteten Ehrgeiz, es ihnen gleichzutun oder sie womöglich zu übertreffen. Darin steckt aber die Frage nach dem Willen Gottes, den er erfüllen will und den er immer besser zu erfassen lernt. Zunächst bedeutet es für ihn, sich von seinem Stand als Adeliger, von seiner Familie und von den bisherigen Zielen und Werten zu trennen und eine neue Lebensweise anzunehmen. In dieser Absicht kommt er zum Benediktinerkloster Montserrat, wo er zusätzlich zum Ablegen einer Lebensbeichte die Zeichen seines bisherigen Lebens zurücklässt: Kleid, Schwert und Dolch. Bettelnd zieht er weiter, auf die nicht planbare Hilfsbereitschaft anderer angewiesen. Es ist für ihn ein Experiment des Vertrauens auf Gott, wie aus den Überlegungen zur Fahrt ins Heilige Land hervorgeht (BP 35; GGJ 36). Zunächst ist er in Manresa, wo er sich ca. elf Monate aufhielt, herausgefordert, Vertrauen zu lernen, weil er mit dem Versuch, durch eigenes Bemühen die Fehler seines bisherigen Lebens vollständig hinter sich zu lassen, an kein Ende kam. Er geriet vielmehr in Skrupel, die ihn an den Rand des Selbstmordes brachten. Hier, an der Grenze eigenen Wollens und Könnens, erfuhr er die Hilfe Gottes, der ihn wie aus einem Schlaf erwachen und die innere Dynamik seiner Skrupel erkennen ließ.
Unter den zahlreichen Visionen, die ihm in der Folge in Manresa geschenkt wurden, ragt eine besonders hervor: die Vision am Fluss Cardoner. „Als er so dasaß, begannen sich ihm die Augen des Verstandes zu öffnen: Und nicht, dass er irgendeine Vision gesehen hätte, sondern er verstand und erkannte viele Dinge, sowohl von geistlichen Dingen wie von Dingen des Glaubens und der Wissenschaft. Und dies mit einer so großen Erleuchtung, dass ihm alle Dinge neu erschienen (…) Und dies bedeutete, in so großem Maß mit erleuchtetem Verstand zu bleiben, dass ihm schien, als sei er ein anderer Mensch und habe eine andere Erkenntnisfähigkeit, als er zuvor hatte.“ (BP 30; GGJ 33f.) Ignatius zählt diese Vision zu den Ereignissen, die zeigen, wie Gott ihn in Manresa in der Art eines Schullehrers unterrichtet hat. Ihnen stehen die Beispiele gegenüber, mit denen er gezeigt hat, wie blind er trotz seiner Liebe und Großmut zunächst gewesen war und ohne inneres Verständnis einfach nachahmen wollte, was verschiedene Heilige vor ihm getan hatten. Nun scheint er dieses innere Verständnis gefunden zu haben. Er gab er in der Folge sein intensives Bemühen auf, Menschen zu finden, die ihn hätten unterweisen können. Er mäßigte seine Bußübungen, versuchte offenbar nicht mehr, die Heiligen nachzuahmen bzw. zu übertreffen. Wie wir aus Zeugnissen seiner engen Vertrauten erfahren können, erlangte Ignatius in der Vision am Cardoner eine Zusammenschau der Mysterien des christlichen Glaubens, und diese beinhaltete einerseits ein Wissen über Gott, anderseits einen Blick auf die Welt im Lichte Gottes, und das heißt, über die Auseinandersetzung zwischen den Mächten auf der Seite Gottes und jenen, die ihm entgegenstehen.9 Zwischen diesen Mächten muss der Mensch sich entscheiden. In den Exerzitien hat sich das Wissen über diese fortwährende Auseinandersetzung v.a. niedergeschlagen in der Betrachtung über den Ruf des Königs (GÜ 91–100; GGJ 144–146) und über die zwei Banner/Heerlager (GÜ 136–148; GGJ 160–166).
Am Ende seines Aufenthalts in Manresa ist Ignatius entschieden, ins Heilige Land zu reisen und dort zu bleiben. Dieses Vorhaben, von dessen Sinnhaftigkeit und Konformität mit dem Willen Gottes er überzeugt war, stößt auf unerwartete Schwierigkeiten. In Jerusalem wird er vor die Wahl gestellt, zurückzufahren oder exkommuniziert zu werden. Ignatius, der seinem inneren Impuls gefolgt war, stößt nun auf äußere Grenzen. Sie werden ihm von der Kirche gesetzt.
Die Kirche als Ort, den Willen Gottes zu leben
Ignatius ignoriert diese Grenzen nicht, er rebelliert auch nicht gegen sie, sondern gehorcht. Für ihn ist dieses Hindernis ein äußeres Zeichen dafür, dass es – zumindest jetzt – nicht der Wille Gottes ist, im Heiligen Land zu bleiben. Unter dem Banner Christi zu dienen war für ihn nur in der Kirche vorstellbar. Er erkennt, dass es nicht (mehr) möglich ist, Jesus äußerlich vollständig nachzuahmen. Er muss nun von neuem nach dem Willen Gottes fragen. Ausgehend von seinem Grundanliegen, den Seelen zu helfen, entschließt er sich, dasjenige zu tun, was ihn im Raum der Kirche dazu befähigen soll: Er beginnt zu studieren. Die Frage nach dem Willen Gottes wird ihn weiter begleiten, sie wird ihn an die Universitäten von Alcalá, Salamanca und Paris führen, wird ihn zur prägenden Gestalt einer Gruppe von Gefährten machen. Mit ihnen wird er nach Rom gehen und sich dem Papst für Sendungen zur Verfügung stellen. Auf dem Weg dorthin erfährt er in einer Vision im Kirchlein von La Storta vor den Toren Roms die Bestätigung für den eingeschlagenen Weg: Gott, der Vater, gesellt ihn seinem Sohne zu, und dieser sagt: „Ich will, dass du uns dienst.“ (GGJ 79, Anm. 279)
In der Überlegung der Gefährten, in welcher Weise sie weiter miteinander verbunden bleiben wollen, sehen sie sich auf ihrem Weg von Gott geführt, von ihm durch ein Band miteinander verbunden (GGJ 291–296). Und in dieser Verbundenheit wollen sie auch einem unter sich Gehorsam leisten. Damit ist von ihrer Seite der entscheidende Schritt zur Bildung eines neuen Ordens innerhalb der Kirche geschehen. Es ist aber kein gerader Weg, der Ignatius und die Gefährten dahin geführt hat, eher so, dass sie sich Schritt für Schritt haben führen lassen und dies im Nachhinein als Weg erkennen (vgl. Sa 812; GGJ 820).
Ignatius selbst musste sich mehrfach vor der Inquisition rechtfertigen. Er hat sich nicht gescheut dies zu tun, hat die Klärung z.T. offensiv betrieben. Es lag ihm offenbar daran, im Einklang mit der Kirche zu handeln, weil er überzeugt war, dass in ihr der Geist Gottes am Werke ist: „wir glauben, dass zwischen Christus, unserem Herrn, dem Bräutigam und der Kirche, seiner Braut, der gleiche Geist ist, der uns leitet und lenkt zum Heil unserer Seelen“ (GÜ 365; GGJ 266). Und so hat er auch die Exerzitien vom Papst bestätigen lassen. In ihnen hat er einen Übungsweg dargelegt, der auf seinen Erfahrungen, aber auch auf der Tradition der Kirche beruht, die er in sich aufgenommen und deren Kenntnis er durch das Studium vertieft hat. Nachdem wir gesehen haben, dass sowohl die Frage nach Gott wie die Frage nach seinem Willen im Leben des Ignatius präsent waren, können wir erwarten, dass uns in den Exerzitien beide Fragerichtungen begegnen.
Die Erfahrungen des Ignatius in den Exerzitien
Ziel der Exerzitien ist es, „den göttlichen Willen in der Einstellung des eigenen Lebens zum Heil der Seele zu suchen und zu finden“ (GÜ 1; GGJ 92). Wie aber soll dies gelingen? Offensichtlich stehen im Menschen beträchtliche Hindernisse entgegen. Ignatius nennt sie „ungeordnete Anhänglichkeiten“. Der Name Exerzitien (= Übungen) lässt an ein gezieltes Bemühen von Seiten des Menschen denken, auch die Überschrift (GÜ 21; GGJ 108) gibt als Ziel an, „über sich selbst zu siegen und sein Leben zu ordnen“. Es scheint so, als ob es in den Exerzitien v.a. oder sogar ausschließlich um das Erkennen und Tun des Willens Gottes ginge. Ein solches Verständnis greift aber zu kurz. Die Exerzitien lassen ausführlich das Tun Gottes betrachten, das dem eigenen Tun und Können voraus geht. Schon in der Ersten Woche, in der es um die Betrachtung der Sünde – oder genauer: die Betrachtung der Barmherzigkeit Gottes angesichts der Sünde – geht, lässt Ignatius am Ende jeder einzelnen Gebetszeit Jesus am Kreuze betrachten und fragen, „wie er als Schöpfer gekommen ist, Mensch zu werden, und von ewigem Leben zu zeitlichem Tod, und so für meine Sünden zu sterben“ (GÜ 53; GGJ 128). Von diesem Hintergrund her befragt sich dann der/die Exerzitant(in), was er/sie für Christus getan hat, für ihn tut und tun solle.
Im Prolog zur Zweiten Woche, der „Betrachtung vom Ruf des Königs“ (GÜ 91– 100; GGJ 144–146), steht Christus im Bild eines idealen Königs vor Augen, der für seinen Kampf Mitstreiter sucht. Indem der/die Exerzitant(in) auf Jesus Christus schaut und eine innere Erkenntnis des Herrn gewinnt, wird seine/ihre Liebe geweckt und die Bereitschaft, ihm zu folgen. Dies ist nicht durch das Bemühen des Menschen allein erreichbar, es muss vielmehr erbeten werden: „Innere Erkenntnis des Herrn erbitten (…), damit ich mehr ihn liebe und ihm nachfolge.“ (GÜ 104; GGJ 148) Es bedarf dazu der Offenheit auf der Ebene des Gedächtnisses, des Verstandes und des Willens. Mit dieser Aufzählung der Seelenkräfte, die Ignatius aus der Tradition übernimmt, ist der Mensch in seiner Ganzheit gemeint. Schon allein diese Ganzheit kann er nicht durch einseitig rational planendes Bemühen erreichen.
Die Gesamtausrichtung des Lebens führt den Mensch in den Exerzitien hin zu Entscheidungen über sein Leben. Diese geschehen nicht im angestrengten Nachdenken. Nach Ignatius werden wir vielmehr „indem wir zugleich sein (= Jesu Christi) Leben betrachten, zu erkunden und zu erbitten beginnen, in welchem Leben oder Stand seine göttliche Majestät sich unser bedienen will“ (GÜ 135; GGJ 160). Die Entscheidung ist zugleich eine Erwählung, in der Gott die entsprechende Neigung dem Menschen in den Willen legt und als das Bessere erscheinen lässt. „Es soll (…) also der Wunsch, besser Gott unserem Herrn dienen zu können“ (GÜ 155; GGJ 167–168), der entscheidende Beweggrund sein. Es verschränken sich demnach die beiden Blickrichtungen: einerseits auf Jesus Christus schauen, eine innere Erkenntnis seiner Person, in der Gott aufleuchtet, gewinnen und anderseits den Willen Gottes erkennen, um ihn dann zu erfüllen. Wie dies geschehen kann, dafür ist der Vergleich mit einer tiefen Beziehung zu einem anderen Menschen hilfreich. Im Rahmen einer solchen Beziehung habe ich ein Gespür dafür, was die Beziehung fördert und was sie stört. Voraussetzung dafür ist, dass ich den anderen kennen gelernt habe. In einer solchen Freundschaft wird es manchmal ganz klar sein, was getan werden muss. Zu anderen Zeiten wird es ein kreatives Eingehen auf den Anderen geben können, ihn z.B. mit einem passenden Geschenk zu überraschen. So gibt es im Umgang miteinander eine ganze Bandbreite von der klar erkannten Notwendigkeit bis hin zu einer weitgehenden Kreativität. Ebenso wird die Erfahrung von beglückenden Momenten gegenseitiger Nähe bis zur Erfahrung der Fremdheit des anderen und intensiver Herausforderung reichen.
In ähnlicher Weise lässt sich die Einstimmung auf den Willen Gottes verstehen. Eine erste Voraussetzung besteht darin, dass ich überhaupt mit Gott verbunden sein will, ihn als die Mitte meines Lebens ansehe und mit Entschiedenheit die Verbindung mit ihm suche, wie es im „Prinzip und Fundament“ (GÜ 23; GGJ 110) ausgedrückt ist. Dies führt mich dann dazu, dass ich ihn immer besser kennenlernen will. Wer Gott ist, kann ich am klarsten ablesen, wenn ich auf Jesus schaue. Die Betrachtungen des Lebens Jesu nehmen darum in den Exerzitien den größten Raum ein. Das Kennenlernen weckt die Liebe und verleiht das Gespür, was der Verbundenheit mit Gott förderlich ist.