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Der Wille Gottes für den/die Einzelne(n) bedeutet nicht, dass schon von vorneherein und im Detail festgelegt wäre, was seine/ihre Aufgabe ist und worin er/ sie Erfüllung findet.10 Zum einen wäre es seltsam, vom Menschen etwas zu verlangen, das nicht klarer und sicherer zu erkennen wäre, zum anderen würde Gott dem Menschen die Freiheit wieder nehmen, die er ihm als Schöpfer gegeben hat. Er würde ihn im Nachhinein wieder zum bloßen Befehlsempfänger degradieren. Indem Ignatius vor den Betrachtungen des Lebens Jesu bitten lässt „um innere Erkenntnis des Herrn, damit ich mehr ihn liebe und ihm nachfolge“ (GÜ 104; GGJ 148), zeigt er an, dass es um eine Beziehung geht, die einer tiefen Verbindung unter Menschen vergleichbar ist. Die Liebe, mit der Gott dem Menschen zuvorkommt, bewegt und befähigt den Menschen zu einer Antwort, die dem ergangenen Anruf und zugleich seiner Freiheit entspringt.
Wie Ignatius Gott und die Verbindung zu ihm sieht, kommt in der „Betrachtung, um Liebe zu erlangen“ am umfassendsten zum Ausdruck. Sie steht unmittelbar nach der Anleitung zur Vierten Woche, ohne ausdrückliche zeitliche Zuordnung und kann als eine verdichtete Zusammenfassung der Exerzitien angesehen werden wie auch für den Übergang in den Alltag eine Ausrichtung aufzeigen, die es dort zu verwirklichen gilt.11
Die Betrachtung, um Liebe zu erlangen
Ziel dieser Betrachtung ist die „innere Erkenntnis von so viel empfangenem Guten (…), damit ich, indem ich es gänzlich anerkenne, in allem seine göttliche Majestät lieben und ihr dienen kann“ (GÜ 233). Liebe beschreibt Ignatius als Mitteilung von beiden Seiten, indem jeder dem anderen gibt von dem, was er hat oder kann (GÜ 231; GGJ 204), und diese Liebe muss mehr in die Werke als in die Worte gelegt werden (GÜ 230; GGJ 204).
In einem ersten Durchgang wird Gott betrachtet als derjenige, der gibt: Gaben der Schöpfung, der Erlösung und besondere Gaben (GÜ 234; GGJ 204). Unter den besonderen Gaben ist wohl gemeint, was der/die Einzelne als für ihn/sie spezifisch erhalten hat, vielleicht auch das, was er/sie in den Exerzitien bekommen hat. Dabei geht der Blick über das Allgemeine hinaus auf mich als den/die unmittelbar betroffene(n) Empfänger(in) der Gaben. Als nächstes wird Gott betrachtet als einer, der in den Geschöpfen bleibend gegenwärtig ist, angefangen von der unbelebten Natur, zu den Pflanzen, den Tieren, den Menschen, bis zu mir, der/ die „ich nach dem Bild und Gleichnis seiner göttlichen Majestät geschaffen bin“ (GÜ 235; GGJ 204/206). Der dritte Durchgang zeigt Gott als einen, der sich für mich abmüht (GÜ 236; GGJ 206). Dieses Sich-Mühen begegnet schon in der „Betrachtung vom Ruf des Königs“ (GÜ 95; GGJ 146), ferner in der „Betrachtung von der Menschwerdung“ (GÜ 101–109; GGJ 148/150), in der „Betrachtung von der Geburt“ (GÜ 152/154, hier besonders GÜ 116; GGJ 152/154) und schließlich in der „Betrachtung der Passion“ (GÜ 195; GGJ 184/186). Im Leben und in der Passion Jesu Christi wird am deutlichsten sichtbar, was umfassend gilt: dass Gott sich in allem um mich müht – wie er mir schon alles gegeben hat und in allem gegenwärtig ist. Er ist nicht nur zu erfahren in den schönen Seiten des Lebens, seine Gegenwart und Zuwendung umfasst auch Leiden, Schuld und Tod.
Schließlich gibt Ignatius zu betrachten, wie alle Güter und Gaben von oben herabsteigen, wie von der Sonne die Strahlen oder vom Quell die Wasser (GÜ 237; GGJ 206). Als Beispiele werden Eigenschaften und Tugenden genannt, die in Gott ihren Ursprung haben. Zwar sind sie in mir nur in begrenztem Maße vorhanden, sind aber etwas, worin Gott sich mir mitteilt und schenkt, „sich mir nach seiner göttlichen Anordnung zu geben wünscht, sosehr er kann“ (GÜ 234; GGJ 204). So gibt es auch in mir schon etwas von dem göttlichen Leben, das in Jesus Christus als dem Auferstandenen sichtbar geworden ist.
Die Einsicht, dass Gott sich dem Menschen durch die Welt hindurch mitteilen will und sich um den Menschen müht, ist für Ignatius charakteristisch. Diese Sicht ist auch biblisch gut begründet. In der Menschwerdung, im Leben Jesu Christi und in der Hingabe seines Lebens sind der Abstieg Gottes und der Einsatz für den Menschen/für mich in besonders deutlicher Weise sichtbar geworden. Im Blick auf das Gottesbild, das uns Ignatius zeigt, sehen wir nochmals die Verschränkung unserer Fragerichtungen: sowohl Gottes Gegenwart in allen Dingen finden als auch seinen Willen zu erkennen, um ihn zu erfüllen. Die „Betrachtung, um Liebe zu erlangen“, leitet dazu an, die Gegenwart Gottes auf verschiedenen Ebenen zu betrachten und zu erkennen. Dabei wird deutlich: Es ist eine sehr dynamische Gegenwart.12 Gott ist einer, der sich um den Menschen müht, sich um der Liebe willen entäußert und sich dem Menschen zu geben wünscht, sosehr er nur kann. Die Dinge/Situationen etc. sind nicht neutrales Material, vielmehr Mittel und Ort für diese (Selbst-)Mitteilung Gottes an den Menschen. Die Betrachtung ist geeignet, eine entsprechende Antwort hervorzulocken, d.h. eine Liebe zu wecken, die sich dann auch im Tun äußert (vgl. GÜ 231; GGJ 204). Sie stellt den Menschen vor die Frage, was er seinerseits Gott geben kann.13 Er kann sich nicht mit Gott messen, aber er kann das geben, was er hat. Er kann alle seine Fähigkeiten Gott in freier Wahl zur Verfügung stellen.
Die Antwort besteht im Mitvollzug dessen, was Ignatius als göttliche Dynamik erkannt hat: Das Wirken Gottes in der Welt und für die Welt ist mit ihrer Entstehung, dem Auftreten des Menschen und den Ereignissen um Jesus Christus nicht zu Ende, sondern setzt sich fort und drängt auf eine Vollendung hin. Die Verbundenheit des Menschen mit Gott konkretisiert sich darin, dass er sich rufen und herausfordern lässt, die Wege Gottes mit der Welt mitzugehen. Die dem Wirken Gottes gemäße Antwort ist also in letzter Konsequenz nicht ein ruhendes Schauen, sondern ein Einstimmen in Gottes Bewegung für die Welt.14 Der Mensch kann dann gerade in der Aktion mit Ihm verbunden sein. P. Nadal hat dies in die Formel gefasst: In actione contemplativus. Ein Autor unserer Tage drückt es aus mit dem Wort: Der ignatianische Name für die Einheit mit Gott ist „Wahl“ – verstanden als fortwährende Ausrichtung des Tuns auf Gott hin.15 Damit die Aktion tatsächlich auf Gott ausgerichtet ist und in der Verbundenheit mit ihm geschieht, bedarf es aber auch der ausdrücklichen Kontemplation, vorzugsweise der Betrachtung des Lebens Jesu, um den Einklang mit dem Willen Gottes zu finden. Für die Konkretisierung bieten die Exerzitien mit den Hinweisen zur Wahl (GÜ 169–189; GGJ 172–183) und den Regeln zur Unterscheidung der Geister (GÜ 313–344; GGJ 244–255) eine wichtige Hilfe. Für deren Verständnis kann der oben genannte Vergleich mit einer menschlichen Beziehung erhellend sein.
Den Weg zur Entscheidung im Lichte Gottes im Einzelnen auszuführen wäre ein eigenes Thema. Für unsere Fragestellung bleibt festzuhalten, dass die Suche nach der Gegenwart Gottes und die Frage nach seinem Willen einander ergänzen und ihre Antwort finden im Blick auf Gott, der sich in der Schöpfung mitteilt und den Menschen zur Gemeinschaft und zur Mitarbeit ruft. Der Weg, den Ignatius aufzeigt, führt vom Betrachten Gottes, der sich um mich müht und sich mir schenken will, zur dankbaren Bereitschaft, mit ihm mitzuwirken, weiter zum konkreten Verspüren, was seinem Willen entspricht, und schließlich zum entsprechenden Tun. Des Menschen Bemühen muss dahin gehen, dass er „mit der göttlichen Liebe in eins geht“ (GÜ 370; GGJ 268). Mit diesen Worten schließt das Exerzitienbuch des Ignatius.
1 Gott oder Gottesgegenwart suchen und finden begegnet bei Ignatius in unterschiedlichen Zusammenhängen. Synonyme, die in diesem Artikel verwendet werden und je eigene Nuancen ausdrücken, sind: Gott bzw. Gottes Gegenwart entdecken/zu erfassen suchen/finden/betrachten, erkennen.
2 Vgl. J. Sudbrack, „Gott in allen Dingen finden“: Eine Ignatianische Maxime und ihr metahistorischer Hintergrund, in: Ignacio de Loyola y su tiempo. Congresso Internacional de Historia. Ediciones Mensajero. Bilbao 1992, 343–368. Sudbrack geht diesem Motiv anhand von Meister Eckhart und Mechthild von Magdeburg nach.
3 Die Zitate des Ignatius von Loyola sind entnommen: Ignatius von Loyola, Deutsche Werkausgabe, übersetzt von P. Knauer. Würzburg 1993 u. 1998. Bd I, Briefe und Unterweisungen [= BU], Bd II, Gründungstexte der Gesellschaft Jesu [=GGJ]. Die Schriften werden wie folgt abgekürzt: Exerzitien/Geistliche Übungen = GÜ; Bericht des Pilgers = BP, Geistliches Tagebuch = GT.
4 Juan de Polanco im Auftrag an Antonio Brandão, BU 350.
5 S. dazu Juan de Polanco im Auftrag an Urbano Fernandes, BU 344.
6 Gonçalves de Camara, Memoriale. Erinnerungen an unseren Vater Ignatius. Frankfurt a.M. 1988, Nr. 196 und 256.
7 So u.a. an Francisco de Borja, Herzog von Gandia, BU 107.
8 Der Schriftsteller E. Benyoëtz bringt es auf den Punkt: „Gottes Schrift ist schwer zu deuten, seine Unterschrift um so leichter zu fälschen“, in: Ders., Der Mensch besteht von Fall zu Fall. Aphorismen. Stuttgart 2009, 146.
9 S. dazu H. Rahner, Ignatius von Loyola und das geschichtliche Werden seiner Frömmigkeit. Graz u.a. 1947, 57.
10 S. dazu M. Rondet, Dieu a-t-ilsur chacun une volonté particulière?, in: Christus, 153 (1992), 179–186; M. Höffner, Berufung im Spannungsfeld von Freiheit und Notwendigkeit. Würzburg 2009.
11 S. dazu I. Iglesias, La contemplaciónpara alcanzar amor en la dinámica des los EE, in: Manresa 59 (1987), 373–387; J. A. García, „De los Ejercicios a la vida ordinaria: La contemplación para alcanzar amor”, in: Manresa 79 (2007), 153–166; weiters D. Desouches, Au-delá du Christ. La contemplation pour obtenir l’amour, in: Christus 124 (1991), 211–224; M. Buckley, Contemplación para alcanzar amor, in: Diccionario de Espiritualidad Ignaciana. Bilbao 2007, 452–456.
12 Diese Dynamik wird theologisch durch die Lehre von der Trinität ausgedrückt. Dem Pilgerbericht und dem Geistlichen Tagebuch ist zu entnehmen, dass die Dreifaltigkeit Gottes für Ignatius eine überragende Rolle gespielt hat.
13 Welche Bedeutung die Dankbarkeit für Ignatius hat, geht u.a. aus einem Brief an S. Rodriguez hervor: „In seiner göttlichen Güte erwäge ich – vorbehaltlich eines besseren Urteils –, dass unter allen vorstellbaren Übeln und Sünden die Undankbarkeit eines der vor unserem Schöpfer und Herrn und vor den Geschöpfen, die seiner göttlichen und ewigen Ehre fähig sind, am meisten zu verabscheuenden Dinge ist, weil sie Nichtanerkennung der empfangenen Güter, Gnaden und Gaben ist, Ursache, Ursprung und Beginn aller Sünden und aller Übel; und umgekehrt, wie sehr die Anerkennung und Dankbarkeit für die empfangenen Güter und Gaben sowohl im Himmel wie auf der Erde geliebt und geschätzt wird.“ (BU 68)
14 Eine kontemplative Lebensweise ist damit nicht ausgeschlossen, soferne sie in der Kontemplation auch die Welt im Blick hat.
15 S. J. Melloni, The Exercises of St. Ignatius Loyola in The Western Tradition. Gracewing 2000, 48–54; S. Robert, Union with God in the Ignatian election, in: The Way Supplement 2002/3, 100–112.

Bernd Hillebrand | Tübingen
geb. 1970, Dr. theol., Hochschulpfarrer, Coach und Supervisor
hillebrand@khg-tuebingen.de
Scheue Frömmigkeit
Da lädt der gläubige Muslim Navid Kermani in einer Feierstunde, bei der Überreichung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels im letzten Herbst, die anwesenden Gäste zum Gebet ein. Und alle Anwesenden folgen dieser Einladung und erheben sich – zu stiller Meditation, zum Gebet und – wem dies nicht nahe liegt – eben zu einem säkularen Wünschen, dem Wünschen des Guten, für die bedrohten und verfolgten und verschleppten und ermordeten Christen in Syrien. An einem anderen, ebenfalls „weltlichen“ Schauplatz überrascht eine italienische Ordensfrau, Schwester Cristina Scuccia aus dem Orden der Ursulinen. 2014 gewinnt sie die italienische Gesangscastingshow The Voice of Italy und lädt am Ende alle Besucher ein, mit ihr ein Vater Unser zu beten. Nun mag der italienische Kontext noch eine relative Volksfrömmigkeit nahelegen, dennoch bleiben der Ort und der Zeitpunkt besonders exponiert.
Nach Kermanis Gebetseinladung wurde die Frage vielfach diskutiert: Wie öffentlich darf Religion sein? Gehört Beten nicht in den Privat- und Intimbereich? Und wie verhält sich die Forderung von Religionsfreiheit zur Forderung nach religionsfreiem Raum? Gerade durch die Zunahme von Muslimen in Deutschland, die häufig ihren Glauben aktiv und ausdrucksstark leben, stellen sich Christen die Frage, in welchem Modus sie ihren Glauben leben und über ihren Glauben Zeugnis geben. Bräuchte es also mehr Mut, über seinen Glauben zu sprechen, vom eigenen Glauben Zeugnis zu geben oder Glaubenssymbole, wie Kreuze oder einen Kollar, offen zu tragen?
Auf diese Fragen reagieren diverse Szenen christlicher Frömmigkeit v.a. auf zweierlei Weise. Die einen greifen offensive Ausdrucksformen aus dem freikirchlich-evangelikalen Spektrum auf und tragen bewusst christliche Bekenntnisse und Gebetsformen öffentlich nach außen. Sie füllen große Hallen bei Lobpreiskonzerten, vermitteln klare und einfache Glaubensformeln, bestärken sie durch persönliche Glaubenszeugnisse und erreichen ihr Publikum primär emotional. Die anderen sind zurückhaltender, wollen der Suche nach einem persönlichen Stil von Frömmigkeit Raum geben, betonen die Stille, öffnen feste Glaubensformeln und versuchen, dem tiefen Vertrauen aus dem Glauben durch diskrete Art und Weise Ausdruck zu geben. Es ist eine „scheue“ Form, die einlädt, zu kommen, aber auch wieder zu gehen. Und in dieser Begegnung kann es zu einer religiösen Erfahrung kommen, die tiefer nach dem Glauben fragt. Dieser zweite Ansatz ist diskreter als der erste und vertraut auf die Selbstgewissheit und die verschwiegene, geheimnisvolle Botschaft in jedem Menschen.
Dennoch bleibt eine gewisse Spannung zwischen den beiden Ansätzen des Sich-Zeigens und des Sich-Verbergens, von „Religion öffentlich“ und von „Religion privat“, von Bekenntnis und geheimem Gefühl. Genau aus dieser Polarität heraus entwickelt sich Scham. In beidem spielt das Gefühl eine zentrale Rolle. Und ich meine, dass hinter all den oben gestellten Fragen das oft verdeckte Verhältnis von Religion und Scham liegt.1 So soll in diesem Artikel zuerst das Phänomen Scham in einer zeitgeschichtlichen Perspektive zu Wort kommen. Daran wird sich die Frage nach einem „verschämten Christentum“ anschließen, das von einem „bekennenden Christentum“ angefragt wird und umgekehrt. Daraus entwickelt sich die Forderung nach einem sensiblen Umgang mit Scham im Kontext religiöser Praxis, also die Forderung nach einer „scheuen Frömmigkeit“, die in einem dialektischen Verhältnis von objektiv und subjektiv, von Sich-Zeigen und Sich-Verbergen, von außen und innen steht. Das Beispiel scheuer Frömmigkeit in der Gemeinschaft von Taizé soll die Überlegungen abschließen.
Scham – zeitgeschichtlich
Über das Phänomen Scham wurde in den letzten Jahren fast inflationär geschrieben. Allerdings wurde sie meist mit dem Begriff der Peinlichkeit umschrieben. Über ihre mannigfaltigen Gesichter schreibt Martin Hecht in Psychologie heute: „Es gibt jene (Scham), die wir empfinden, wenn andere in unsere Intimsphäre eindringen oder wir versehentlich in ihre. Oder jene, die wir empfinden, wenn wir beim Lügen erwischt wurden oder anderen Unrecht getan haben. Und es gibt jene soziale Scham, die man heute meint, wenn man von peinlichen Situationen spricht. Sie steigt in uns auf, wenn uns bewusst wird, dass wir uns in einer bestimmten Situation nicht angemesssen verhalten haben, gleichgültig ob tatsächlich oder nur vermeintlich.“2 Scham bewegt sich am Limit zur Intimität und bei Überschreitung dieser Grenze wird es als unangenehm, als peinlich erlebt – und dies in doppeltem Sinne. Zum einen entsteht Angst, aufgrund des Fehlverhaltens ausgeschlossen zu werden und zum anderen macht sich ein Schuldgefühl breit, den anderen verletzt zu haben. Scham scheint sich aus zwei Urgefühlen zu nähren: „Schuld und Angst. Schuld regt sich, denn in jedem Peinlichkeitserlebenis rührt sich eine Stimme, die sagt: Das hätte dir nicht passieren dürfen! Angst kommt auf, deshalb die Achtung der anderen zu verlieren.“3 Man könnte also von einem moralischen und einem sozialen Gefühl sprechen, das die Scham auslöst. Beide Gefühle finden sich auch in der religiösen Praxis, wenn die Schamgrenze überschritten wird.
Scham ist ein Phänomen, das wieder stärker ins Bewusstsein rückt. Kristian Fechtner beschreibt es als „Gefühlssignatur der spätmodernen Kultur“4. Nach einer kulturkritischen Analyse der letzten Jahre des fortschreitenden Schamverlusts und medialer Schamlosigkeit wird sie wieder bedeutsamer. Man muss eingestehen, dass trotz der Parolen: „Du sollst dich nicht schämen müssen!“ keiner der Peinlichkeit entgeht. In Fernsehsendungen werden diejenigen, die sich über die Schamgrenze hinaus bloßstellen, nochmals bloßgestellt. Dahinter verbirgt sich offensichtlich ein verletztes Selbstwertgefühl, ferner die Not mit der eigenen Lebensgeschichte umzugehen und die Sehnsucht, man selbst sein zu dürfen. Scheinbare Schamlosigkeit bewegt sich also keineswegs in einer schamfreien Zone.
Der Psychoanalytiker Léon Wurmser spricht von einer „Maske der Scham“5: „Schamaffekte tarnen sich gleichsam in ‚schamabwehrenden Deckaffekten‘, sei es im Trotz, im Spott oder sogar im Stolz, mithin im Gegenteil dessen, was als Scham erlebt wird.“6 So kann sich paradoxerweise hinter aggressiv zur Schau gestellter Schamlosigkeit ein Moment von Schamangst verbergen: „Die Angst, beschämt zu werden, wird gleichsam offensiv gewendet.“7
In gleicher Weise definiert der Soziologe Norbert Elias im Gegenzug zur heute verbreiteten Vorstellung, Scham schwinde in der historischen Entwicklung mehr und mehr, Schamgefühle als „verinnerlichte Zwänge der Selbstkontrolle, mittels derer die Individuen lernen, ihre Affekte zu zügeln und damit zu verbergen. Sie setzen voraus, dass sich (…) eine Sphäre der Intimität ausgebildet hat, die durch Schamgrenzen gesichert wird.“8 Schamgefühle sichern also Intimität, auch wenn sich die Schamgrenzen verschoben haben, gerade im körperlichen Bereich.
Diese zeitgeschichtliche Analyse von Schamgefühlen hebt heraus, dass Scham ein komplexes Gebilde ist, das manchmal verdeckt und manchmal offensichtlich ist. Gerade wenn sie verloren scheint, mag es lohnenswert sein, die verschobene Schamgrenze zu identifizieren.
Bleibt das Schamgefühl in der religiösen Praxis unbeachtet, führt es zu Entfremdung, zu Exklusion und Widerstand. Gerade Religion ist etwas sehr Persönliches, das mit Scham behaftet ist, beispielsweise die innere Frage, ob ich gläubig genug bin oder ob ich zu fromm wirke. Diese Fragen mag der eine oder andere unbewusst fühlen, jedenfalls werden sie selten thematisiert. Religiöse Äußerungen und christliche Glaubensvorstellungen kommen in der alltäglichen Kommunikation, zumindest im europäischen Raum, kaum vor. Glaube ist gar ein Tabu. Gibt es also ein verschämtes Christentum, dem dezidiert bekennende Christen, wie Freikirchen und Charismatiker, bewusst entgegen wirken möchten?
Verschämtes Christentum
Meist weiß man nicht, wie Kolleg(inn)en am Arbeitsplatz oder Freunde im Sportverein ihrem Glaubensleben Ausdruck geben, ob sie ab und zu beten oder in der Bibel lesen. „Der Verzicht darauf, religiös in persönlicher Weise zu kommunizieren, ist mehr als eine kulturelle Konvention, der man als gesellschaftlicher Regel folgt. Er ist auch mit der Empfindung gefüttert, dass Religion etwas vom Innersten einer Person offenbaren kann, mithin etwas von ihr zeigen würde, das nicht nach außen gehört.“9 Religion hat jedenfalls etwas mit Emotion zu tun und mit etwas sehr Persönlichem, das im Zusammenhang mit einer Schamgrenze steht.
Die Vorstellung von einem verschämten oder distanzierten Christentum kommt v.a. in Bezug auf distanzierte Kirchlichkeit zur Sprache. Besonders suchende Menschen, die sich noch nicht ganz mit der Kirche und ihrem Glauben identifizieren wollen, empfänden es als unangenehm, wenn sie mit denen verwechselt würden, „die ihre Religiosität so exponiert leben, wie die kleine Schar derjenigen, die sonntags zum Gottesdienst kommen“10. Allerdings stellt Fechtner heraus, dass es sich bei distanzierter Kirchlichkeit nicht nur um einen kirchentheoretischen Aspekt handelt, sondern dass die religionspsychologische Perspektive die Innenseite der Medaille ist – nämlich eine emotionale.11 Sich von einem kirchlichen Teilnahmeverhalten zu distanzieren ist eine innere Abgrenzung in der persönlichen Identitätsbildung. Als kirchlich Distanzierte(r) greift man punktuell in außergewöhnlichen Situationen des Lebens auf Kirche zu und braucht ansonsten Kirche oder einen Gottesdienst nicht. Die innere Scham besteht darin, dass man nicht als kirchlich Bedürftige(r) identifiziert werden möchte, sondern die emotionale Distanz als innere Intimität empfindet. „Distanzierte Kirchlichkeit erscheint als eine Form des Christentums, das in den Grenzen der Scham gelebt wird.“12
Mit dieser Definition vom „distanzierten Christentum“ soll nun der Begriff der „scheuen Frömmigkeit“ von Thomas Halik in Verbindung gebracht werden.13 Halik beschreibt damit eine Form der Spiritualität, die Glaube und Kirche v.a. aus der Distanz beobachtet, die noch nach einem eigenen Stil der Frömmigkeit sucht und die sich noch vorrangig im Modus des Fragens befindet. Er vergleicht diese Menschen scheuer Frömmigkeit mit Zachäus, der sich neugierig, aber aus der Distanz Jesus nähert und nach der Begegnung mit ihm, nicht zwingend zu seinem Jünger, zu einem gläubigen Mensch wird. Diese Menschen möchten sich in ihrer Frömmigkeit nicht zeigen, Religion halten sie für privat. Die Öffentlichkeit als religiöses Forum würde in ihnen emotionale Scham auslösen.
Dennoch ist es diesen Menschen möglich, sich religiös öffentlich zu zeigen, „wenn dies eingefasst wird in institutionelle Formen (…), auch wenn sie vielen Umstehenden eher fremd anmuten mögen. Aber diejenigen, die sich beteiligen, sind nicht ‚privat‘ unterwegs, sondern agieren in einer rituellen Rolle.“14 Bei einer Prozession oder bei einer Erstkommunion können sie sich durchaus religiös zeigen. Allerdings darf auch hier die Schamgrenze nicht überzogen werden. Eine zu aktive Beteiligung am liturgischen Geschehen würde ein Unwohlsein auslösen, das aus der Scham heraus eine innere Distanz und Blockade hervorrufen würde.
An dieser Stelle soll das Phänomen der „scheuen Frömmigkeit“ jedoch noch weiter gefasst werden. Nicht nur bei den Distanzierten oder den Suchenden oder den Neugierigen gibt es diese Scheu oder Nüchternheit, sondern gerade auch bei den tief Verwurzelten im Inneren der Kirche. Glaube ist mehr als katechetisches Wissen und bildet sich in der eigenen Subjektwerdung als persönliche Erfahrung, die gerade in ihrer Emotionalität nicht zu fassen ist, sondern in einer geheimnisvollen Distanz steht. Diese sehr persönliche Erfahrung des Glaubens, des Entdeckthabens des Heiligen, ist etwas emotional Zerbrechliches, das viele nicht vor sich hertragen und nur im geschützten Rahmen artikulieren möchten. Daher meine ich, dass verschämtes Christentum im Bezug auf eine „scheue Frömmigkeit“ einen geschützten Raum und Respekt in der religiösen Praxis braucht, um die religiöse Schamgrenze persönlich ziehen zu können. Kirchenräume bieten dazu häufig einen Entscheidungsspielraum, der Distanz für Scheue im Rückraum hinter Säulen oder Nähe exponiert in den vorderen Bänken bietet.
Im Gegensatz zu dieser „scheuen Frömmigkeit“ steht der biblische Missionsauftrag, Bekenntnis für den Glauben in aller Welt abzulegen und dieser Auftrag scheint ein Kontrast zu dem persönlich Heiligen zu sein, das nach einem Schutzraum ruft. Lässt sich im Rahmen des Missionsauftrags die „scheue Frömmigkeit“ halten oder braucht es zu einem verschämten Christentum auch ein bekennendes Christentum und in welcher Beziehung könnten sie zueinander stehen?
Bekennendes Christentum
Zweifellos kann der Glaube auch implizit bezeugt werden, indem das eigene Leben ihn erfahrbar macht und ihn so bezeugt. Im Zeugnis wird Glaube kommuniziert und bekannt. Der Glaube wird nach außen hin bekannt gemacht – im Sinne eines Zeugen. Ein implizites Zeugnis kann dann dazu führen, dass man zum Bekenntnis herausgefordert wird und dafür Zeugnis ablegt. Deutlicher als das implizite Zeugnis ist das Bekenntnis, durch das der Glaube nachdrücklich bezeugt wird. Bekennen meint eingestehen und zugeben. Das Bekenntnis ist unmissverständlich. Im Mittelalter wurde der Begriff „bekennen“ im Sinne von „bekanntmachen“ genutzt. Bekennendes Christentum meint hier das explizite Zeugnis und Bekanntmachen des Glaubens.






