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Es klopfte an der Badezimmertür.
»Ich will niemanden sehen«, flüsterte Ronja zu sich selbst. »Ich kann nicht mehr.«
Es klopfte erneut.
»Wer ist da?«, fragte sie lauter, während sie ihre Augen zur Decke drehte.
»Johann, Frau Baronin«, kam die Antwort durch die geschlossene Tür. »Das Abendessen wird in einer halben Stunde serviert.«
»Ist gut.« Ronja stieg aus der Dusche und griff sich ein Handtuch. »Ich komme gleich.«
»Soll ich Ihnen Annie schicken?«, fragte er. »Damit sie Ihnen beim Ankleiden hilft?«
Ronja schüttelte ungläubig schmunzelnd den Kopf. Davon konnte Johann immer noch nicht lassen. »Nein«, erwiderte sie. »Ich schaffe das schon allein.«
»Sehr wohl, Frau Baronin«, verabschiedete er sich in seiner üblichen gediegenen Art und entfernte sich aus ihren Räumlichkeiten. Ihre Zimmertür wurde leise und gemessen ins Schloss gezogen.
Niemals würde Johann eine Tür aufreißen oder zuschlagen. So etwas taten nur Barbaren. Das hatte sie schon seit ihrer Kindheit oft von ihm gehört, wenn sie in ihrer Wildheit, die man ihr jetzt kaum noch ansah, wie ein Wirbelwind durchs Haus gefegt war.
Nun kam sie sich keinesfalls mehr wild vor, sondern eher erschlagen.
Eine gefühlte Ewigkeit stand sie noch mit dem Handtuch da, bevor sie sich endlich ganz abtrocknete und in ihr Schlafzimmer zurückging.
Das Abendessen verlief einigermaßen ruhig, Ronjas Großmutter strahlte fast wie ein Honigkuchenpferd mit Justus um die Wette, bis sie sagte: »Ich weiß, Sie werden einer alten Frau verzeihen.« Sie lächelte Marina an. »Aber meine Zeit auf dieser Erde ist nun doch schon etwas begrenzt, und ich frage mich . . . Werde ich noch Urgroßmutter werden?«
Ronja blieb fast der Bissen im Hals stecken, und sie begann angestrengt zu husten.
Marina musste mindestens genauso überrascht sein, aber man merkte es ihr nicht an. Ihre Mundwinkel zuckten heftig, als sie zu Ronja hinüberschaute. »Ich werde tun, was ich kann«, bemerkte sie. »An mir soll es nicht liegen.«
»Sie glauben gar nicht, wie glücklich Sie mich damit machen.« Ronjas Großmutter griff nach Marinas Hand, drückte sie warm und schaute sie beinah hingerissen an. »Das habe ich mir schon so lange gewünscht.«
»Großmutter . . .«, versuchte Ronja einzuwenden.
Aber damit hatte sie keine Chance. »Ich habe mich damit abgefunden, dass du selbst«, sie seufzte, »mir keine Urenkel schenken wirst, aber glücklicherweise«, sie lächelte selig, »gibt es ja noch Frauen, die nichts dagegen haben. Und offenbar hast du eine gefunden.« Ihre Augen streichelten Ronja mit großmütterlicher Zärtlichkeit. »Eine größere Freude hättest du mir nicht machen können.«
Verzweifelt warf Ronja einen Blick zu Marina hinüber, die auf der anderen Seite des Tisches saß, zur Linken ihrer Großmutter. Sie selbst saß wie üblich zu ihrer Rechten, denn ihre Großmutter nahm wie schon seit vielen Jahren den Platz des Familienoberhauptes am Kopfende ein.
Der alte Eichentisch war so lang, dass er auch für eine Fußballmannschaft gereicht hätte. Da konnte man schon auf den Gedanken kommen, dass hier noch ein paar Kinder fehlten. Wenn es nach den Wünschen ihrer Großmutter gegangen wäre, wohl eine ganze Trappfamilie.
Aber Ronja hatte noch nie für Sound of Music geschwärmt. Ihr Blick flehte darum, dass Marina ihre Aussage zurücknahm, dass sie ihrer Großmutter keine Hoffnungen machte, die niemals erfüllt werden konnten, aber Marina hielt ihrem Blick stand und lächelte nur sanft.
Es sind ja nur ein paar Tage, dachte Ronja schicksalsergeben. Dann ist sie weg, vielleicht bei ihrem Bräutigam oder sonst wo. Ich muss einfach nur diese paar Tage überstehen. Später kann ich Großmutter dann immer noch sagen, es hätte nicht geklappt mit Kindern. So etwas kann niemand überprüfen. »Manchmal hält das Leben unerwartete Überraschungen bereit«, erwiderte sie leicht gequält lächelnd. »Selbst wenn man gar nicht damit rechnet.«
»Mein Kind.« Ihre Großmutter nahm nun ihre Hand und drückte sie, wie sie zuvor Marinas gedrückt hatte. Ihre Augen sprachen zu Ronja, ohne dass ihr Mund noch mehr sagte.
Ronja schluckte und fühlte, wie etwas sich in ihr anstaute. Es wollte heraus, aber Ronja wollte es nicht heraus lassen. Sie kämpfte mit aller Kraft dagegen an.
»Wann habt ihr eigentlich geheiratet?«, warf Justus gutgelaunt in die Runde. Seine Augen blitzten Ronja und Marina neugierig an.
Da Ronja immer noch mit ihren inneren Dämonen kämpfte, war sie für den Moment unfähig zu antworten und sah wahrscheinlich reichlich überfordert aus.
Marina schaute fragend zu ihr herüber und bemerkte offenbar, dass Ronja nichts sagen würde. Eine kleine Falte bildete sich auf ihrer Stirn, aber nur ganz kurz. »Heute«, gab sie dann lächelnd Auskunft. »Heute Morgen.«
»Heute?« Justus’ Augen öffneten sich weit. »Das heißt, heute ist eure Hochzeitsnacht?«
Wie von einem Peitschenhieb getroffen zuckte Ronja heftig zusammen.
Auch Marina war für einen Augenblick völlig verdattert, wie es schien. Dann begann sie erneut zu lächeln. »Ja«, nickte sie mit einem bezaubernden Hauch von Rosa in der Stimme. »Heute Nacht ist unsere Hochzeitsnacht.«
»Das hat doch heutzutage keine Bedeutung mehr«, wiegelte Sissy säuerlich ab. »Niemand geht mehr als Jungfrau in die Ehe.«
»Ach nein?« Justus blitzte nun noch neugieriger in Richtung Marina.
»Justus!« Ronja musterte ihn strafend. »Hast du vergessen, dass Großmutter hier ist?«
»Ach Kinder . . .« Ihre Großmutter lächelte nachsichtig. »Ich bin vielleicht alt, aber deshalb bin ich noch lange nicht von gestern. Ich weiß schon, dass man heutzutage nicht mehr dieselben Maßstäbe anlegt wie früher. Aber dennoch ist eine Hochzeitsnacht immer noch etwas Besonderes. Hoffe ich zumindest.«
»Da haben Sie ganz recht«, stimmte Marina ihr offenbar aus vollstem Herzen zu. »Und deshalb werde ich mich jetzt auch verabschieden. Die Braut«, sie blinzelte zu Ronja hinüber, »muss sich dafür nämlich noch ein bisschen vorbereiten.« Elegant legte sie ihre Serviette auf den Tisch und stand auf.
Ronja wusste nicht, wo sie hinschauen sollte. Sie fühlte Sissys und Justus’ Blicke wie brennende Strahlen auf sich. Ihre Großmutter hielt sich zwar vornehm zurück, aber es reichte, dass Ronja spürte, dass auch sie dasselbe von ihr erwartete wie die Geschwister. Und sich alle darüber freuten, während in Ronjas Kopf die Gedanken rasten und ihr abwechselnd heiß und kalt wurde.
»Gib mir eine halbe Stunde«, fuhr Marina recht süffisant fort, während sie Ronjas Zustand offensichtlich genoss. Sie lächelte sie jedoch harmlos an, als wäre das nicht so. »Dann kannst du nachkommen.« Zögernd machte sie eine bedeutungsvolle Pause. »Ich warte auf dich.« Daraufhin entfernte sie sich mit einem bühnenreifen Abgang aus dem großen Speisesaal, während Johann ihr zuvorkommend die Tür aufhielt.
Es musste das Kleid ihrer Mutter sein, der Retrostil mit dem ausgestellten Rock, der Marina so einen verführerischen Hüftschwung verlieh, dachte Ronja. Oder tat sie das mit Absicht?
Warum? Sie wusste, dass nichts passieren würde. Das alles hier war nur eine Komödie. Sie waren nicht verheiratet, es hatte keine Hochzeit gegeben, und demzufolge gab es auch keine Hochzeitsnacht. Das schon mal gar nicht.
Marina würde im Herrschaftszimmer schlafen, und Ronja würde in ihr eigenes Zimmer gehen, wie immer. Sie würden sich heute Nacht nicht einmal mehr sehen.
Vielleicht wollte Marina das Ganze aber auch einfach nur überzeugend gestalten, damit ihre Großmutter keinen Verdacht schöpfte. Damit sie sich nicht aufregte.
Das wiederum wäre ausgesprochen nett von Marina gewesen. Ronja atmete innerlich auf. Nach den ganzen Aufregungen heute war Marina sicherlich rechtschaffen müde und wollte einfach nur früh schlafengehen. Damit das alles glaubwürdig erschien, hatte sie ihren Abgang so gestaltet, wie es die kleine improvisierte Hochzeitsgesellschaft hier von ihr erwartete, wofür Ronja nur dankbar sein konnte.
»Tatsächlich? Heute erst?«, hörte sie Sissys Stimme wie durch eine Wand aus Watte.
»Ja.« Ronja räusperte sich, weil dieses kleine Wort doch sehr kratzig geklungen hatte. »Heute.« Sie versuchte ein Lächeln in ihre Mundwinkel zu zwingen. »Marina wollte sofort herfahren und . . . alle überraschen. Deshalb –«
Justus lachte laut heraus. »Na, dass das nicht auf deinem Mist gewachsen ist, das hätte ich mir schon gedacht! Du hasst Überraschungen. Aber Marina . . .«, sein Gesicht nahm einen begeisterten Ausdruck an, »ist ganz offensichtlich anders. Völlig anders als du.«
»Gegensätze ziehen sich an«, fügte Sissy grimmig hinzu. »Bei euch trifft das wirklich zu.«
»Ja. Ja, könnte man so sagen.« Ronja runzelte die Stirn. Diese Komödie erforderte eine ganze Menge an Fantasie. Und das war nicht gerade ihre Stärke. Sie konnte nicht aus dem Stegreif Geschichten erfinden oder über eine Lüge nach der anderen den Überblick behalten. Deshalb blieb sie normalerweise am liebsten bei der Wahrheit. Und am liebsten allein. Da ergab sich dieses Problem nicht.
In was Marina sie da hineingedrängt hatte . . . Wenn sie so darüber nachdachte, konnte sie sich kaum vorstellen, wie das geschehen war. Heute Morgen hatte sie sie noch überhaupt nicht gekannt. Und nun . . .
»Und wie lange kanntet ihr euch schon?«, hakte Sissy nach. »Bevor ihr geheiratet habt?«
Oh Gott, warum ist Marina nicht mehr hier? Ronja brach der Schweiß aus. Anscheinend weiß sie immer, was man auf solche Fragen antwortet. Warum musste sie unbedingt gehen?
Justus rettete die Situation, indem er wieder sein lautes, herzliches Lachen von sich gab. »Aber Schwesterherz . . . Glaubst du, dass Ronja jetzt an der Vergangenheit interessiert ist? Ich glaube«, er zwinkerte heftig, »sie ist mit ihren Gedanken in der Zukunft. In der nahen Zukunft«, fügte er mit einem verständnisinnigen Blinzeln sehr betont hinzu.
»Wisst ihr was?« Ronja stand auf. »Unterhaltet ihr euch doch einfach noch ein bisschen über Vergangenheit oder Zukunft oder was ihr wollt. Ich gehe jetzt schlafen.« Sie beugte sich über ihre Großmutter und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. »Gute Nacht, Großmutter.«
Ihre Großmutter lächelte sie hintersinnig an. »Gute Nacht, mein Kind.«
Langsam hatte Ronja das Gefühl, sie musste ganz schnell diesen Raum verlassen, sonst würde sie einen Schreikrampf bekommen.
Kaum hatte sie jedoch ein paar Schritte zur Tür hin gemacht, hielt Justus’ Lachen sie noch einmal auf. »Also wenn du heute Nacht zum Schlafen kommst«, prustete er vergnügt, »dann ist Marina nicht die Frau, für die ich sie halte.« Er stand ebenfalls auf. »Und außerdem wirst du natürlich von der Hochzeitsgesellschaft«, er blickte ausgelassen in die Runde, »wie klein sie auch sein mag, in das Hochzeitsgemach begleitet.«
Abwehrend hob Ronja die Hände, während Panik sie erfasste. »Nein, nein, das ist nicht nötig«, keuchte sie beinah. »Ich weiß ja, wo es ist.«
»Wir wollen aber nicht, dass du dich vor lauter . . .«, Justus genoss die Situation sichtlich, »Aufregung verläufst. Und zudem ist das ja wohl das Mindeste, was wir als deine ältesten Freunde für dich tun können. Nicht wahr, Sissy?«
Seine Schwester war bei weitem nicht so begeistert wie er, aber nun stimmte sie auch zu. »Natürlich«, sagte sie. »Wir sind ja . . .«, sie dehnte die Pause bedeutungsvoll, »praktisch eine Familie.«
»Bitte, bleibt doch hier . . .« Ronja warf einen beschwörenden Blick auf ihre Großmutter. »Ihr könnt Großmutter doch nicht so allein zurücklassen.«
»Ach, für mich«, sagte ihre Großmutter und streckte eine Hand nach Johann aus, damit er ihr beim Aufstehen half, »ist es eigentlich schon viel zu spät. Ich werde mich auch zur Ruhe begeben.«
Nicht auch das noch! Auf einmal wünschte Ronja sich, sie wäre tot. Tot oder ganz weit weg. Aber auf jeden Fall nicht hier.
So, wie sich die Situation entwickelt hatte, konnte sie jedoch nichts dagegen tun. Langsam – damit sie auch jede Sekunde dieser Folterqual auskosten konnte – schritten sie gemeinsam die Treppe hinauf, bis sie den obersten Absatz erreicht hatten, ihre Großmutter sich ein wenig ausruhte und dann mit Johann, der sie stützte, nach rechts in den Ostflügel abbog, in dem sie ihre separaten Gemächer bewohnte.
»Gute Nacht, Kinder«, verabschiedete sie sich noch einmal lächelnd. »Schlaft gut.« Aber selbst sie konnte sich anscheinend nicht zurückhalten, ein wenig zu blinzeln.
Oder bildete Ronja sich das nur ein? Wahrscheinlich sah sie im Moment in jedem einen potenziellen Blinzler, weil die ganze Situation sie verrückt machte. »Schlaf auch gut, Großmutter«, brachte sie mühsam hervor und wünschte sich, sie könnte der alten Baronin in den Ostflügel folgen.
»So, und jetzt«, verkündete Justus in allerbester Laune, während er Ronja unterhakte, »begleiten wir dich noch in das Brautgemach.«
»Vielleicht öffnet Marina uns aber gar nicht die Tür«, warf Sissy nonchalant ein. »Anscheinend gab es doch Probleme mit ihrem Gepäck. Also hat sie wohl auch kein Nachthemd.«
Auf einmal überwältigte Ronja das Gefühl, ihre Knie gaben nach. Aber mit Justus am Arm fiel es hoffentlich nicht so auf. Sissys Bemerkung hatte sofort das Bild einer nackten Marina vor ihrem inneren Auge erstehen lassen, die dort im Herrschaftszimmer auf sie wartete.
Und es schien ihr, als hätte Sissy genau diesen Effekt beabsichtigt, denn sie beobachtete Ronja mit einem geradezu durchdringenden Blick, der sie nicht aus den Augen ließ.
Mit letzter Kraft riss Ronja sich zusammen und straffte ihre Schultern. »So, jetzt«, sagte sie, als sie vor der Tür des Zimmers angekommen waren, »könnt ihr aber gehen. Ihr habt eure Schuldigkeit als beste Freunde getan. Gute Nacht.«
Sie wandte sich zur Tür, aber wenn sie erwartet hatte, dass Sissy und Justus sich jetzt verabschieden würden, sodass sie sich in ihr Zimmer schleichen konnte, hatte sie sich geschnitten.
»Ich glaube, du musst anklopfen«, grinste Justus.
Ronja seufzte innerlich. Es blieb ihr wohl nichts anderes übrig. Sie klopfte.
Als sie Schritte sich von innen der Tür nähern hörte, wappnete sie sich gegen alles, was da kommen mochte, sie verkrampfte sich geradezu. Aber Marina würde ihr doch nicht tatsächlich im Evaskostüm öffnen. Oder würde sie?
Endlich bildete sich ein Spalt, dann wurde die Tür weiter aufgezogen. Marina trug einen Bademantel.
Am liebsten hätte Ronja sich jetzt erst einmal gesetzt. Aber das konnte sie natürlich nicht tun.
»Was ist?« Justus schaute sie auffordernd an. »Also ich würde so eine«, er warf einen hingebungsvollen Blick auf Marina, »wunderschöne Braut nicht warten lassen.«
Marina lächelte. »Vorfreude ist die schönste Freude«, erwiderte sie. »Die will sich Ronja nicht nehmen lassen.« Sie streckte einen Arm aus. »Aber jetzt wird es Zeit, Liebling. Da hat Justus recht.«
Bewegungslos, wie sie war – sie hatte das Gefühl, sie konnte allein keinen Schritt mehr machen, sich überhaupt nicht rühren –, ließ Ronja sich von Marina kraftlos in das Zimmer hineinziehen.
»Gute Nacht, ihr beiden«, warf Marina noch lächelnd in den Gang hinaus, dann schloss sie die Tür.
»Oh mein Gott!« Ronja stützte sich keuchend an der Wand ab. »Ich dachte, die bestehen noch darauf, mich nackt neben dich ins Bett zu legen!«
»Wäre das so schlimm gewesen?« Marina lachte leise.
Ronja zuckte zusammen. »Ich finde das nicht witzig, Marina.« Sie richtete sich auf. »Und im Übrigen fand ich es auch gar nicht witzig, was du mit meiner Großmutter gemacht hast. Wie kannst du ihr so etwas versprechen?«
Marina zuckte die Schultern und ging zum Bett. »Sie wünscht es sich so sehr. Warum sollte ich ihr die Freude nicht machen?«
»Und wenn ich ihr dann sagen muss, dass es leider nichts wird?«, fragte Ronja mit wütend funkelnden Augen. »Glaubst du, das ist gut für ihr Herz?«
»Ja.« Marina lächelte weich. »Es ist gut für ihr Herz, weil es ein Herzenswunsch von ihr ist. Und ich . . .«, sie senkte den Blick und schaute Ronja von unten herauf an, »werde ihr bestimmt nicht sagen, dass es nichts wird. Das ist nicht nötig.«
»Das ist es ja nicht allein.« Ronja lief aufgebracht im Zimmer herum. »Sie müsste dann auch erfahren, dass wir nicht verheiratet sind – nie waren – und dass das alles hier ein Schwindel ist. Das bringt sie um.«
»Ich würde lieber nicht so laut sprechen«, warnte Marina und legte sich einen Finger auf die Lippen. »Ich könnte mir vorstellen, dass Sissy noch da draußen ist und lauscht.« Sie lachte leicht. »Sie mag mich nicht. Sie hat was gegen mich.«
»Aber nein. Das bildest du dir ein.« Ronja runzelte die Stirn. »Sie ist wie meine kleine Schwester.«
»Weiß sie das auch?« Marina schmunzelte. »Und klein ist sie nun wirklich nicht mehr. Sie ist älter als ich.«
Ronja lachte hohl auf. »Das ist nicht besonders schwer.«
»Bin ich dir zu jung?« Überrascht hob Marina die Augenbrauen. »Justus findet glaube ich, ich bin genau im richtigen Alter.«
Mit zusammengezogenen Augenbrauen starrte Ronja sie an. »Dann solltest du vielleicht Justus heiraten.«
»Das wäre Bigamie«, bemerkte Marina trocken.
Ronja schüttelte den Kopf. »Wir sind nicht verheiratet, hast du das schon vergessen?«, fragte sie geradezu entgeistert, denn sie hatte wirklich das Gefühl, dass Marina sich langsam so in ihre Rolle hineinsteigerte, dass sie noch anfing, daran zu glauben. »Das alles hier ist nichts als eine Komödie, die wir für meine Großmutter aufführen, damit sie sich nicht aufregt. Mehr steckt nicht dahinter.«
»Wirklich nicht?« Marinas blaue Augen wandten sich mit einem kindlich ungläubigen Blick an sie.
»Marina!« Ronja blitzte sie an. »Mach nicht mehr daraus, als es ist. Glaubst du jetzt schon unseren Schwindel?«
»Vielleicht will ich ihn glauben.« Marina trat vom Bett her nah an sie heran und blieb nur Zentimeter entfernt von ihr stehen. »Vielleicht möchte ich dich nur ein einziges Mal küssen.«
»Das hatten wir doch schon.« Ronja wandte sich ab. Ihr Herz klopfte schnell und so laut, dass sie meinte, es müsste von den Wänden widerhallen.
Marina lachte. »Das war kein Kuss! Du hast dich gewehrt, als wärst du eine Jungfrau, die ihre Unschuld verteidigen müsste.«
»Damit hattest du bestimmt nie Probleme«, warf Ronja ihr über die Schulter hinweg zu.
»Au«, sagte Marina. »Das tat weh.«
»Tut mir leid.« Ronja ging ein paar Schritte, drehte sich um und verschränkte ihre Hände ineinander. »Wir sollten uns einfach nicht mehr darüber unterhalten, was . . . was in meiner Wohnung war. Es war ja eigentlich auch nichts.«
»Nein, es war nichts«, bestätigte Marina, aber irgendwie mit einem merkwürdigen Unterton.
»Jetzt«, Ronja seufzte, »haben wir ein anderes Problem.« Sie wies mit dem Kinn zur Tür. »Ich muss da raus, um in mein Zimmer zu kommen.«
»Willst du das wirklich?«, fragte Marina und kam wieder auf sie zu. »Was ist so schlimm daran, hier zu übernachten, wie alle es von dir erwarten?«
»Was ist so schlimm?« Ronja blieb fast der Mund offenstehen. »Hier ist nur ein Bett!«
»Ein ziemlich großes«, stellte Marina fest und warf einen Blick darauf. »Ein wirklich hochherrschaftliches Ehebett.«
Ronjas Augenbrauen zogen sich zusammen. »Es war das Bett meiner Eltern!«
Marina lachte wieder leise. »Dann kennt es sich ja damit aus, was in so einem Ehebett zu geschehen hat. Vermutlich wurdest du hier gezeugt?« Sie sah Ronja ganz unschuldig blauäugig an.
»Hör auf!« Ronja verschränkte die Arme vor der Brust und verzog ihre Mundwinkel nach unten. »Du hast diese ganze Katastrophe hier angerichtet, und jetzt stehe ich da und muss die Folgen tragen. Findest du das so in Ordnung?«
Marina schien bei weitem nicht so viel an der Situation auszusetzen zu haben wie Ronja, aber das war ja auch nachvollziehbar. Sie würde wieder gehen, sie würde nicht mit den Konsequenzen zu kämpfen haben, wenn sie fort war. Für sie waren das nur ein paar anscheinend äußerst unterhaltsame Tage, wie ein Urlaub vom Alltag.
Und wenn man nach Hause kam, hatte man nichts mehr damit zu tun, was im Urlaub geschehen war. Urlaubsflirts, Telefonnummern – das verschwand in einem weit entfernten Teil der Erinnerung oder wurde höchstens in einem Urlaubsordner abgelegt wie all die Fotos, die man nie wieder anschaute.
»Ronja . . .« Marina hatte sie nun erneut erreicht und verringerte den Abstand zwischen ihnen noch mehr. »Gefalle ich dir denn überhaupt nicht? Findest du mich so . . . abstoßend?« Sie hob eine Hand und strich sanft mit einem Finger über Ronjas Wange.
Ronja begann zu zittern. Sie griff nach Marinas Handgelenk und hielt es fest. »Du weißt sehr gut, dass du nicht abstoßend bist. Du bist«, sie schluckte, »sehr attraktiv. Aber das hat hier jetzt keine Bedeutung. Wir geben etwas vor, das wir nicht sind, ein Ehepaar. Und das ist einfach nicht richtig.«
»Das macht dir wirklich Sorge, hm?« Marina biss sich nachdenklich auf die Unterlippe. »Das hätte ich nicht gedacht.« Sie warf einen Blick auf ihr Handgelenk. »Du kannst mich loslassen. Ich fasse dich nicht an, wenn du das nicht willst. Ich dachte nur . . .«, eindringlich musterte sie Ronjas Gesicht, »wo wir schon einmal hier sind . . .«
»Und dein Verlobter? Dein Bräutigam?«, fragte Ronja heftig. »Den scheinst du ja wohl völlig aus deinem Gedächtnis gestrichen zu haben. Dabei hast du heute Morgen noch mit ihm am Traualtar gestanden, und ihr wolltet euch das Jawort geben. Ist das alles so einfach für dich zu vergessen?«
»N-nein.« Diese Bemerkung schien Marina auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. »Das habe ich nicht vergessen.«
»Dann solltest du dich dementsprechend verhalten«, sagte Ronja. »Du bist immer noch seine Verlobte und nicht meine. Ganz zu schweigen von meiner Frau.« Sie verstummte und starrte blicklos in die Luft.
»Das stimmt. Das bin ich nicht.« Marina wirkte auf einmal erschöpft. »Du hast recht. Das alles hier ist nur . . . ein Witz.« Sie schaute sich in dem großen Zimmer mit der Stuckdecke und den uralten geschnitzten Wandtäfelungen aus dunklem Holz um. »Ich wusste gar nicht, dass es so etwas gibt.«
»Es ist eben kein Witz!« Ronja starrte sie wieder missvergnügt an. Für einen Moment hatte sie das Gefühl, es wäre wie in den wilden Tagen ihrer Kindheit. Sie fühlte all das wieder – aber sie wollte nicht fühlen! Sie ballte ihre Hände zu Fäusten und presste die Finger so sehr zusammen, dass sie wehtaten.
»Entschuldige.« Marina schaute sie auf einmal ziemlich erwachsen an. Als wäre sie schlagartig zehn Jahre älter geworden. »So war es nicht gemeint.« Sie lächelte besänftigend. »Aber in meinem ganzen Leben habe ich noch nie so ein fantastisches Himmelbett gesehen. So etwas sieht man sonst nur in Filmen.«
»Wenn es dir so gut gefällt, kannst du gern darin schlafen«, grummelte Ronja. »Aber ich nicht.«
»Nun gut.« Marina atmete tief durch. »Vielleicht hätte ich auch Probleme, im Bett meiner Eltern –« Sie brach ab. »Aber was machen wir jetzt? Offenbar gibt es hier keine Ausziehcouch für Gäste oder so etwas, nur diese zierlichen Sesselchen, die«, sie runzelte die Stirn, »nicht sehr bequem aussehen.«
»Sind sie auch nicht«, bestätigte Ronja. »Schon gar nicht zum Schlafen.« Sie blickte zur Tür. »Ich werde sehen, ob ich mich in mein eigenes Zimmer hinüberschleichen kann. Jetzt müssten eigentlich alle weg sein.«
»Und morgen früh?«, fragte Marina. »Ich meine, ich weiß ja nicht, wie das mit Dienstboten ist, ich hatte noch nie welche«, sie lachte etwas befremdet auf, »aber kommen die nicht morgens rein, ziehen die Vorhänge auf und bringen das Frühstück? Und erwarten das Brautpaar gemeinsam im Bett?«
»Ja . . .« Ronja legte nachdenklich einen Finger ans Kinn. »Johann macht das bestimmt. Für meine Eltern hat er das auch immer getan, und er wird es sich nicht nehmen lassen, die Tradition fortzuführen.«
»Dann solltest du morgen früh hier sein«, meinte Marina. »Sonst fliegt alles auf, und deine Großmutter –«
»Ach, verdammt!« Ronja fluchte. Fast hätte sie sich die Haare gerauft.
»Das Bett ist riesig.« Marina ließ überlegend ihren Blick darüber schweifen. »Wir könnten so eine Art Grenze vereinbaren«, schlug sie vor. »Jede bleibt auf ihrer Seite. Dann können wir beide im Bett schlafen, und morgen früh wird es so aussehen, als ob –«