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Doris Bewernitz
Der kleine Herr Lu Chi
Geschichten von der Weisheit des Lebens
Verlag am Eschbach
Der kleine Herr Lu Chi war von Geburt an ziemlich klein geraten. Schon früh war er deshalb oft von anderen Kindern gehänselt worden. Seine Frau Liu Xing, mit der er seit nun fünfzig Jahren verheiratet war, überragte ihn um Kopfeslänge. Darum wurde er von allen im Dorf nur der kleine Lu Chi genannt. Doch die Leute achteten ihn, weil er ein großzügiger und freundlicher Mensch war, der nicht mit seiner Weisheit geizte. Auch kamen oft Schüler von weit her zu ihm, die mit seiner Hilfe ebenfalls weise werden wollten.
Eines Tages hörte Lu Chi ein Klopfen an der Tür seiner Hütte. Er öffnete. Vor ihm stand ein junger Mann, der mindestens zwei Meter groß war.
Sie wünschen?, fragte Lu Chi.
Der junge Mann sah verächtlich auf ihn herunter. Führe mich umgehend zum großen Lu Chi, sagte er, ich will sein Schüler werden.
Wenn Sie auch mit dem kleinen Lu Chi vorlieb nehmen, sagte Lu Chi, ließe sich das einrichten. Aber keine Sorge, es ist derselbe.
Ein Morgen
Der kleine Herr Lu Chi trat aus seiner Hütte. Er sah sich um, und seine Augen begannen zu strahlen.
Das ist ja ein Baum, rief er. Er lief hin und umarmte den Baum.
Und das ist ja eine Blume, rief er, kniete nieder und hielt seine Nase an den Blütenkelch.
Und das ist eine Kuh, rief er, lief zu ihr
und streichelte sie.
Hinter dem Zaun stand sein Nachbar Min Yi.
Lu Chi, fragte er, geht es dir gut?
Mir geht es sehr gut, erwiderte Lu Chi.
Ich dachte, du bist vielleicht ein wenig durchgedreht, sagte Min Yi. Hast du noch nie einen Baum gesehen? Oder eine Blume? Oder eine Kuh? Du benimmst dich ja wie ein Kind.
Danke für das Kompliment, erwiderte Lu Chi. Wie ein Kind? So fühle ich mich auch. Ich sehe an jedem neuen Morgen alles zum ersten Mal.
Geht es dir denn nicht so?
Glaube und Zweifel
Einer seiner Schüler kam zu Lu Chi und fragte: Meister, glaubst du an Gott?
Ja, sagte Lu Chi. Warum diese Frage? Plagen dich Zweifel?
So ist es, erwiderte der Schüler. Früher war mein Glaube einfach. Doch nun wird er ausgerechnet von all den Theorien angefochten, die ihn stärken sollen. Mein Kopf beschäftigt sich mit den Dogmen, und davon wird mein Glaube krank.
Wie schade, sagte Lu Chi. Sag, glaubst du an die Schönheit?
Ja, sagte der Schüler.
Und an die Liebe?, fragte Lu Chi.
Ja, sagte der Schüler.
Und an die Vollkommenheit, die alles Menschliche übertrifft?
Ja, sagte der Schüler.
Lu Chi lächelte. Dann mach dir mal keine Sorgen, sagte er. Menschen brauchen oft Erklärungen, wenn sie die Leere zwischen sich und dem Höchsten ängstigt. Du nicht. Dein Glaube ist stark. Lass dir an ihm genügen.
Allein sein
Liu Xing, die Frau des kleinen Herrn Lu Chi, war für drei Wochen verreist. Sie besuchte eine Freundin.
Du Ärmster, sagte sein Nachbar zu ihm, als sie sich am Zaun trafen.
Warum sagst du das?, erwiderte Lu Chi. Ich bin nicht arm.
Aber nun bist du doch so schrecklich lange allein, entgegnete sein Nachbar, ganze drei Wochen lang.
Lu Chi überlegte.
Dann sagte er: Ich bin ganz gern allein.
Aber warum bist du dann verheiratet?, wollte sein Nachbar wissen.
Ich verstehe deine Frage nicht, erwiderte Lu Chi. Ist das denn ein Widerspruch?
Die Gerechtigkeit
Ein Mann kam zu Lu Chi und beschwerte sich. Die Reichen haben alles, sagte er. Und bekommen immer mehr. Ich aber kann mich abrackern, wie ich will, und habe von Jahr zu Jahr weniger. Wo bleibt da die Gerechtigkeit?
Sie ist zu schwach und zu klein, um allein zu kommen, sagte Lu Chi. Sie wartet, dass du ihr ans Licht hilfst.
Der beste Klassenraum
Manchmal hatte Lu Chi viele Schüler, manchmal wenige. Er hatte den Beruf des Lehrers nicht angestrebt. Die Schüler suchten ihn aus freien Stücken auf und blieben, solange sie wollten. Da ihm unklar war, was sie von ihm erwarteten, hatte er beschlossen, sich einmal am Tag ausgiebig mit ihnen zu unterhalten und auf ihre Fragen einzugehen. Zu diesem Zweck machten sie täglich eine Wanderung.
Einer seiner Schüler, der lieber saß als lief, wollte von ihm wissen, warum sie bei ihren Gesprächen immer herumlaufen müssten.
Weil ich faul bin, antwortete Lu Chi.
Wie soll ich das verstehen?, fragte der Schüler.
Nun, sagte Lu Chi, zum einen ist, wenn wir gehen, unser Geist wacher. Zum anderen ist die Natur der beste Klassenraum. Da gibt es mehr Platz für unsere Gedanken. Und sie bringt die Fragen und Antworten gleich mit. Sie lehrt uns alles.
Ideale
Einer seiner Schüler weckte Lu Chi vor Tagesanbruch und wollte wissen, welches denn nun das höchste Ideal sei, das es anzustreben gelte.
Oh, sagte der kleine Herr Lu Chi verschlafen, setzte sich auf und rieb sich die Augen. Eine gute Frage stellst du da. Was soll ich sagen. Es gibt sehr viele Ideale. Und öfter als man denkt sind diese abhängig von momentanen Bedürfnissen. Gerade jetzt zum Beispiel würde ich sagen, ideal wäre ein weiches Kissen, auf das ich meinen Kopf betten kann, dazu eine kühle, stille, sternklare Nacht, eine ungestörte Ruhe und ein friedlicher, ergiebiger Schlaf.
Der Acker
Es war Frühling. Lu Chi wollte Kürbisse anbauen. Er kaufte ein Stück Acker. Der war in einem üblen Zustand. Die Erde war hart wie Stein, nur einige Disteln und Nesseln wuchsen darauf. Wie willst du da etwas anbauen, sagten die Leute. Das wird eine elende Arbeit, den wieder urbar zu machen. Wartet ab, erwiderte Lu Chi. Er nahm eine Schubkarre, ging von Haus zu Haus und fragte, ob jemand Grasschnitt, altes Stroh, Eierschalen, Kaffeesatz, Laub oder sonstige Reste übrig habe. Seine Nachbarn freuten sich, dass er ihre Abfälle mitnahm. Schubkarre um Schubkarre schob er zum Acker und verteilte alles darauf. Bald war der ganze Acker mit Unrat bedeckt. Was wird das denn?, sagten die Leute. Wolltest du nicht Kürbisse anbauen? Da musst du dich beeilen, der Frühling ist bald vorbei. Wartet ab, sagte Lu Chi und fuhr weiter Abfälle auf seinen Acker. Die Leute lachten. Noch nicht mal umgegraben hast du!, riefen sie. Nun ist Sommer. Wir sehen keine Kürbispflanzen! Wartet ab, sagte Lu Chi und fuhr fort, Abfälle einzusammeln und auf seinen Acker zu werfen. Dort lag nun schon eine dicke Schicht. Die ersten Blätter fielen von den Bäumen und landeten auf dem Abfall. Lu Chi stand da und freute sich über die Blätter. Es ist Herbst, riefen die Leute. Wo sind denn nun deine Kürbisse? Ein schöner Bauer bist du!
Wartet ab, sagte Lu Chi.
Der Winter ging dahin. Der Frost fuhr in den Boden. Es schneite und regnete und hagelte. Der Frühling kam. Lu Chi ging zu seinem Acker. Von der Abfallschicht war kaum noch etwas übrig. Fröhlich harkte er die Reste zusammen, schaute die schwarze Erde an, die zum Vorschein kam und steckte seine Kürbissamen hinein.
Wer hat diesen Acker umgegraben?, fragten die Leute.
Ich nicht, sagte Lu Chi. Man muss im Leben nicht alles allein machen. Schließlich hat Gott den Regenwurm erschaffen.
Die Drossel
Der kleine Herr Lu Chi ging zu seinem Nachbarn Ao Yun, dem Vogelfänger des Dorfes.
Ich möchte einen deiner Vögel kaufen, sagte er. Was kosten sie?
Ao Yuns ganzer Hof stand voller Käfige. Jeden Morgen ging er aufs Feld, stellte Fallen auf und fing Singvögel, die er nachmittags auf verschiedenen Märkten in der Stadt an wohlhabende Bürger verkaufte.
Welcher soll es denn sein, fragte er.
Die Singdrossel dort, erwiderte Lu Chi.
Zwanzig, sagte sein Nachbar.
Warte bitte eine Woche, entgegnete Lu Chi. Dann habe ich die Zwanzig beisammen. Aber reserviere mir den Vogel bitte unbedingt. Verkaufe ihn niemand anderem.
Ao Yun versprach es.
Eine Woche später kam Lu Chi wieder.
Hier sind die Zwanzig, sagte er. Nun gib mir die Drossel.
Ich verkaufe die Vögel nur mit Käfig, sagte Ao Yun. Und der Käfig kostet nochmal Zwanzig.
Jeder Käfig?, fragte Lu Chi.
Jeder, sagte Ao Yun.
Ach, warte bitte eine Woche, entgegnete Lu Chi. Dann habe ich die Zwanzig auch noch beisammen. Aber verkaufe den Vogel bitte an niemand anderen.
Ao Yun versprach es.
Eine Woche später kam Lu Chi wieder.
Hier sind die anderen Zwanzig, sagte er. Nun gib mir die Drossel.
Aber du musst mir das Futter bezahlen, dass ich die ganze Zeit an sie verfüttert habe, als ich sie dir reservierte, sagte Ao Yun.
Das verstehe ich, sagte Lu Chi. Ich vermute, das Futter kostet auch zwanzig?
Wenn ich noch eine Woche darauf warten muss, kostet es Dreißig, sagte Ao Yun, genau Zehn für jede Woche.
Einverstanden, erwiderte Lu Chi, ich werde die Dreißig bis nächster Woche besorgen. Warte bitte solange, halte mir die Drossel gut und verkaufe sie niemand anderem.
Ao Yun versprach es.
Eine Woche später kam Lu Chi wieder.
Hier sind die Dreißig, sagte er, nun gib mir die Drossel.
Was ich dich schon die ganze Zeit fragen wollte, sagte Ao Yun, was willst du in deiner armseligen Hütte eigentlich mit einem Vogel? Normalerweise verkaufe ich meine Vögel an reiche Leute, die sie als Attraktion in ihrem Park oder im Salon aufstellen. Du aber hast weder einen Park noch einen Salon, oder?
Richtig, sagte Lu Chi. Weder Park noch Salon. Ich glaube auch nicht, dass eine Drossel das zwingend braucht. Und nun hätte ich sie gern.
Ao Yun reichte ihm den Käfig mit der Drossel.
Lu Chi öffnete die Käfigtür.
Die Drossel erhob sich in die Luft und flog davon.
Die Streithähne
Lu Chi arbeitete in seinem Garten. Da hörte er laute Stimmen. Es klang nach einer Auseinandersetzung. Er ging auf die Straße hinaus und sah zwei streitende Männer vor seiner Hütte stehen. Sie schrien sich an und gingen sogar schon mit den Fäusten aufeinander los. Der erste blutete bereits aus der Nase.
Lu Chi versuchte, mit ihnen zu reden, um sie zu beruhigen. Doch sie stritten weiter. Sie hörten ihm nicht zu.
Da stellte er sich zwischen die beiden.
Geh weg!, schrie der Erste.
Unser Streit geht dich gar nichts an!, schrie der Zweite.
Ihr irrt, sagte Lu Chi. Wenn sich zwei schlagen, wird die Erde traurig. Und das geht mich wohl etwas an. Ich möchte nicht auf einer traurigen Erde leben.
Das Kind
Der kleine Herr Lu Chi traf ein Kind, das sich verlaufen hatte.
Wo kommst du her?, fragte er.
Ich weiß es nicht, sagte das Kind.
Wo gehst du hin?, fragte Lu Chi.
Ich weiß es nicht, sagte das Kind.
Da beugte sich der kleine Herr Lu Chi herunter. Er hatte Tränen in den Augen. Sanft umarmte er das Kind. Ich weiß, wie du dich fühlst, sagte er. Mir geht es genauso.
Die Kuh
Lu Chi wollte eine Kuh kaufen. Er ging ins Nachbardorf zum Viehmarkt. Dort standen hunderte Kühe herum.
Welche ist denn die Beste?, fragte er den Händler.
Das kommt darauf an, sagte der.
Worauf?, fragte Lu Chi.
Ob Sie lieber Milch wollen oder Fleisch, sagte der Händler.
Ach, und ich dachte, es kommt auf etwas anderes an, sagte Lu Chi.
Worauf denn?, fragte der Händler.
Ob der Hof, auf dem sie leben wird, eher schattig oder sonnig ist, sagte Lu Chi. Und ob sie lieber Klee oder Gras frisst. Und ob sie Kinderlärm mag oder eher Ruhe braucht. Und vor allem, ob sie Herrengesellschaft wünscht oder ablehnt …
Heimat
Lu Chi saß mit seinen Schülern beim Essen, und sie unterhielten sich darüber, wo sie herkamen. Ein Schüler sagte: Meine Heimat ist das Laffi-Gebirge. Immer sehne ich mich nach seinen glitzernden, schneebedeckten Bergen. Ein anderer sagte: Meine Heimat ist die Ebene von Thun. Nur dort ist das Gras so zart wie Seide, und die gelben Margeriten duften den ganzen Sommer. Ein dritter sagte: Meine Heimat ist das Oari-Meer. An seinem Ufer bin ich aufgewachsen, und immer verzehre ich mich nach dem Schrei der Möwen und dieser Weite bis zum Horizont.
Und du Meister?, wurde Lu Chi gefragt, woher kommst du?
Wenn ich das wüsste, erwiderte Lu Chi. Bisher weiß ich nur, dass ich ein Staubkorn im Universum bin, das auf der Erde gelandet ist und mit ihr kreist.
Schmerz
Min Yi, dem Nachbarn von Lu Chi, war die kleine Tochter gestorben. Er war völlig verzweifelt. Viele Freunde, Verwandte und Leute aus dem Dorf kamen, um ihn zu trösten. Alle verließen ihn ratlos, denn Min Yi hörte ihnen gar nicht zu.
Nachdem Min Yi wochenlang sein Haus nicht mehr verlassen hatte, gingen seine Freunde zu Lu Chi. Du musst etwas tun, sagten sie. Er richtet sich noch zugrunde in seinem Schmerz. Wir versuchen, ihn abzulenken, wir laden ihn ein, wir trösten ihn, aber nichts hilft.
Gut, sagte Lu Chi. Ich gehe zu ihm.
Er ging zu Min Yi. Kaum sah er ihn an, musste er weinen. Min Yi bat ihn herein. Sie saßen zusammen, tranken Tee, schwiegen und weinten.
Als Lu Chi sich Stunden später von Min Yi verabschiedete, sagte dieser: Ich danke dir. Dein Besuch hat mir gut getan. Die anderen hatten immer nur Ratschläge.
Ja, sagte Lu Chi, reden ist leichter als weinen.
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