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»Kneif mich, ich glaube, ich träume.« Er hatte sich die Augen gerieben, aber das Bild war geblieben. Nikita hatte mit großen Augen auf die Brigg geschaut, die mit drei leicht im lauen Wind flatternden, trapezförmigen, strahlend weißen Rahsegeln an beiden Masten und einem zusätzlichen rot-weiß gestreiften Briggsegel am Hauptmast auf mächtigen hölzernen Pfosten stand. So konnte weder Kiel noch Schwert durch die Last beschädigt werden. Sie hatte schnell das Schiff auf gut neunzig Fuß Länge und dreißig Fuß Breite geschätzt.
Über dem Oberbramsegel hatte eine hellblaue Fahne am Ende des sicherlich hundertzwanzig Fuß hohen Großmastes geflattert. Auf ihr waren drei fliegende Albatrosse abgebildet gewesen, ein roter, ein schwarzer und ein grüner. Knapp darunter hatte sich der Bootsmannstuhl leise knarrend träge im Wind gedreht. Der große Anker hatte auf dem Boden gelegen und die eiserne Ankerkette hatte matt in der Sonne geglänzt. Die Schäkel waren vorbildlich poliert gewesen und ihr Anblick hätte sicher dem strengsten Kapitän Freude bereitet. Fender aus Kork hatten über der Reling gehangen und die Fenderleinen waren locker darüber geworfen. Nikita hatte von unten durch die Klüsenöffnungen sogar zwei Poller aus Messing erkennen können.
Das Paar hatte langsam das Schiff umkreist, um es von allen Seiten betrachten zu können, und war sich neben der Brigg ziemlich klein vorgekommen. An beiden Bordseiten, auf denen in goldenen Lettern der Name ›Wandoo Ii‹ zu lesen war, hatten jeweils drei große Rettungsboote gehangen, deren Dollen ebenfalls matt schimmerten. Die Gangway war heruntergelassen, zwei dicke Taue hatten als Handläufe gedient. Aber es war nirgends eine Menschenseele zu sehen gewesen, die an Bord hätte gehen können. Den geschwungenen Steven hatte eine kunstvoll geschnitzte und bemalte Galionsfigur geziert. Sie hatte einen aus dem Wasser springenden Merlin dargestellt, der von einem fremdartigen Wesen harpuniert wurde.
»Schau«, hatte Nikita gesagt und dabei auf die Figur gedeutet, »ein Mensch ist das jedenfalls nicht.«
»Nein, dann müsste sich der Künstler schon sehr viele Freiheiten genommen haben«, hatte Effel geantwortet, »was ich aber nicht glaube, denn der Schwertfisch ist sehr naturgetreu nachgebildet.«
»Was glaubst du, was das ist? Eine Sagengestalt?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht treffen wir ja den Künstler hier irgendwo, dann können wir ihn fragen. Ich bin mir sicher, dass es Perchafta weiß.« Sie waren langsam weitergegangen.
Die gesamte Reling hatte ebenfalls von der Kunst der Holzschnitzer gezeugt, die hier am Werk gewesen sein mussten. Das mächtige eichene Ruderblatt war an seinen Rändern mit Metall beschlagen gewesen. Das ganze Schiff war auf Hochglanz gewienert und hätte an einem geeigneteren Ort sicher sofort in See stechen können. Gerade hatte der Wind ein wenig kräftiger geblasen und sofort hatten sich Brigg- und Rahsegel für einen Moment leicht aufgebläht. Die Fenderleinen waren langsam hin- und hergeschwungen und irgendwo an Deck hatte eine Glocke leise angeschlagen.
»Die Schiffsglocke«, hatte Effel geflüstert.
»Ja, der Wind muss sie bewegt haben«, hatte Nikita zurückgeflüstert, »denn ich sehe niemanden an Bord.«
»Ich glaube nicht, dass wir flüstern müssen«, hatte Effel grinsend gesagt, »denn wenn jemand hier wäre, hätte er uns längst entdeckt.«
Ein lautes, knarrendes Geräusch war plötzlich an ihre Ohren gedrungen, die Segel hatten sich in einem Windstoß gebläht und man hätte fast meinen können, das Schiff wolle sich aus seinem hölzernen Gerüst befreien. Aber es war offensichtlich gut befestigt gewesen.
»Ein Geisterschiff«, hatte Nikita gesagt, es aber nicht wirklich ernst gemeint. Sie hatte Effel zugezwinkert, auf dessen Gesicht sofort ein noch breiteres Grinsen erschienen war.
»Ja, gewiss, und wenn der Wind noch zunimmt, wird es einfach lossegeln«, hatte er ergänzt, »und schau ... gleich daneben ist das Geisterhaus.«
Ein niedriges, sicherlich fünfzig Fuß langes und dreißig Fuß breites Gebäude, halb aus Stein, halb aus Holz, hatte in einer Entfernung von vielleicht siebzig Schritten vor der Felswand gestanden. Zwischen dem Haus und dem Schiff hatte sich eine ebene, gepflegte Rasenfläche befunden, die so gar nicht zum Rest des wilden Tals passen wollte. Es musste viel Arbeit gewesen sein, diese Fläche so perfekt einzuebnen.
Von dem mit Holzschindeln gedeckten Dach des Hauses herab hatte die Fahne mit den Albatrossen geweht. Nur eines der vier mit schweren Holzläden gesicherten Fenster an der Vorderfront des Gebäudes war geöffnet gewesen. Jeder Holzladen war mit einem geschnitzten Anker verziert. Wenn sich jemand im Inneren des Hauses aufgehalten hatte, so war er wohl nicht erpicht darauf gewesen, die Bekanntschaft des Paares zu machen. Es war auch hier niemand zu sehen gewesen. Die einzigen Geräusche waren vom Schiff hergekommen, wenn die Segel sich an der übrigen Takelage rieben.
»Hallo?«, hatte Nikita in Richtung des Hauses gerufen. Das leise Schließen des offenen Fensters – und das war nicht der Wind – war die Antwort gewesen. Der Holzladen war von innen verriegelt worden. Sam hatte leise geknurrt.
»Das war deutlich«, hatte Effel gemeint.
»Vielleicht ist nicht aufgeräumt«, hatte Nikita gescherzt, »aber seltsam, seltsam. Wir scheinen hier nicht erwünscht zu sein.« Dann, mit dem Kopf in Richtung des Schiffes deutend, hatte sie stirnrunzelnd ergänzt: »Meinst du nicht, dass es selbst für ein Trockendock ein wenig weit weg vom Meer ist? Verstehst du den Sinn des Ganzen? Irgendwie ähnelt es dem Schiff, auf dem wir damals fliehen mussten. Unseres hatte aber drei Masten und es war irgendwie ... breiter«, hatte sie nach einer kleinen Pause hinzugefügt.
»Ja«, hatte Effel genickt und Nikitas Hand genommen, »das habe ich auch gesehen, aber findest du das hier nicht einfach alles sehr merkwürdig? Wer mag wohl dort in dem Haus sein?«
»Das ist in der Tat merkwürdig«, war eine vertraute Stimme hinter ihnen zu hören gewesen und sie hätten sich nicht umdrehen müssen, um zu wissen, dass es Perchaftas war. Er hatte neben Effel gestanden und auf das Schiff gedeutet.
»Das haben die Emurks gebaut, bald nach ihrer Ankunft in Angkar-Wat vor mehr als dreihundert Jahren. Und es ist ihr ganzer Stolz. Sie haben immer daran geglaubt, eines Tages wieder in ihre Heimat zurück kehren zu können. Hier in der Schule für Nautik haben sie ihre Nachkommen mit der Seefahrt vertraut gemacht. Hinter der nächsten Biegung haben sie ihre Hütten gebaut, sicherlich tausend Fuß lang an beiden Seiten des Tales. Bitte geht dort nicht hin, sie würden das sicherlich als aufdringlich empfinden und ich glaube, sie würden sich wegen der schäbigen Bauweise schämen. Sie sind ein stolzes Volk und haben das Tal stets nur als vorübergehende Bleibe betrachtet.«
Sowohl Effel als auch Nikita wussten, wer die Emurks waren, wenn sie auch selber noch nie einen zu Gesicht bekommen hatten.
»Nachdem klar war, dass ihre Verbannung ein Ende gefunden hatte – du weißt warum, Nikita«, hatte der Krull gelächelt und die Frau freundschaftlich in die Seite geknufft, »dachte ich eigentlich, sie hätten nichts Besseres zu tun, als ihre Sachen zu packen. Ich wähnte sie schon weit weg, als sie mir berichteten, sie wollten sich gebührend von uns und dem Tal verabschieden. Wie geprügelte Hunde seien sie hier angekommen, meinten sie, und mit Pauken und Trompeten würden sie uns verlassen. Sie werden ein großes Fest feiern und haben alle Krulls eingeladen. Es wird etwas dauern, bis meine große Familie hier eingetroffen ist, und ich glaube, wir werden über die Mengen an Essen staunen. Die Getränke werden wir beisteuern, das haben wir ihnen versprochen. Ihr solltet sehen, was ein Emurk verdrücken kann – über das Wie kann man sich sicherlich streiten «, hatte er amüsiert hinzugefügt.
»Aber wo sind sie?«, hatten die beiden wie aus einem Munde gefragt.
»Ich zog es vor«, hatte Perchafta geantwortet, »sie darum zu bitten, diskret im Hintergrund zu bleiben.«
»Wir können sie uns jetzt ungefähr vorstellen«, hatte Effel gemeint und auf die Galionsfigur geschaut, »nicht wahr Leila, eh, Nikita. Ich werde wohl etwas Zeit brauchen, um mich an deinen neuen Namen zu gewöhnen.« Nikita hatte nur kurz zustimmend nicken können, weil Perchafta wieder das Wort ergriffen hatte.
»Ihr Schulschiff, die Brigg, die ihr hier seht, haben sie in nur drei Monaten gebaut, ihre besten Schiffsbauer hatten sich mächtig ins Zeug gelegt. Sie mussten zunächst das Holz weit unten im Tal schlagen und dann die ganze Strecke bis hier nach oben transportieren. Eine gewaltige Kraftanstrengung, selbst für Emurks. Und was ihr hier seht«, der Krull hatte auf das Gebäude gedeutet, »war ihre Schule für Nautik. Allerdings hat niemand – weder die Lehrer noch die Schüler – je das Meer gesehen, na ja, außer Vonzel vielleicht, als er bei dir in deiner Welt war, Nikita.
Der Kapitän, der das Volk hergeführt hatte, ist bald nach der Ankunft gestorben. Sein Grab befindet sich etwas weiter oberhalb den Berg hinauf, damit sein Geist immer das Schiff sehen kann. Mit der Zeit sind dann auch alle anderen gestorben, die mit ihm zusammen an der Küste Flaalands gelandet waren. Sie hatten unterwegs hohe Verluste gehabt, aber das ist eine andere Geschichte. Ich wünsche ihnen jedenfalls, dass sie genügend über die Seefahrt gelernt haben und wohlbehalten ihre alte Heimat erreichen. Das Meer ist ja doch noch mal etwas anderes als die Trockenübungen hier oben. Wir werden sie jedenfalls nach besten Kräften unterstützen und gegebenenfalls unsere Beziehungen spielen lassen«, hatte der Krull seine Ausführungen mit einem Augenzwinkern beendet.
Dies war ihr letzter Tag in Angkar-Wat gewesen. Früh am nächsten Morgen hatten sie ihre Heimreise angetreten. Allerdings hatten da beide noch nicht gewusst, dass sie sich nicht an den Zugang zu diesem Tal würden erinnern können. Perchafta war auf Nummer sicher gegangen.
Nikita schaute Effel zu, wie er sich anzog, und fuhr fort: »Fisher wird sagen, dass nichts ewig ist. Ich sehe ihn geradezu vor mir mit ... wie komisch ... einem süffisanten Lächeln. In der Regel ist er freundlich, ja verbindlich. Er lebt für die Firma. Von seinem Privatleben ist nichts bekannt, weder ob er verheiratet ist, noch ob er Kinder hat. Manche Kollegen behaupten sogar, er wohnt auch dort unten in seinem unterirdischen Reich. Eigene Interessen und die der Firma scheinen dasselbe zu sein. Jedenfalls schert er sich in diesem Fall nicht um irgendwelche Verträge, da bin ich mir sicher. Mal Fisher ist der geheimnisvollste Mann des gesamten Konzerns, manchmal ist er mir ein wenig unheimlich. Er scheint seine Augen und Ohren überall zu haben, jedenfalls ist er immer bestens informiert. Kannst du dir vorstellen, dass sein Büro zweihundert Fuß tief unter der Erde liegt?«
Was Nikita nicht wissen konnte, war, dass sie genau in diesem Moment und an dem von ihr beschriebenen Ort, Mittelpunkt eines Gesprächs von Mal Fisher war.
»Das fällt mir schwer ... so wie vieles, was du von ... der Neuen Welt erzählst liegt außerhalb meiner Vorstellungskraft.« Beinahe wäre ihm ›von deiner Welt‹ herausgerutscht. Er wollte das aber vermeiden, denn sein tiefer Wunsch war es, dass sie bei ihm bliebe und irgendwann seine Welt als die ihre empfinden würde.
»Warum jemand sein Büro oder seine Wohnung unter der Erde haben sollte, ist mir wirklich ein Rätsel. Ist es wirklich so schlimm da drüben?«, meinte Effel mit einer kurzen Kopfbewegung in Richtung Westen. »Du hast mir neulich noch erzählt, wie du in den Ferien mit deinem Vater am See auf die Jagd gegangen bist ... und auch alles andere, was du von der Neuen Welt erzählst, hört sich nicht so an, als wenn es nur grässlich wäre.« Wenn man mal von dem ganzen Roboterzeug und euren Hochhäusern absieht ... von diesem Chip einmal ganz zu schweigen, fügte er im Stillen hinzu. Effel hatte sich inzwischen auf die Bettkante gesetzt und kraulte Sam, der jetzt mit dem Kopf auf seinem Schoß neben ihm saß, den Nacken.
»Ja, bei uns ist es schön«, sie sagte ›uns‹, »und es gibt auch noch Gegenden, die diese Bezeichnung sogar im Vergleich zu dem, was ich hier bis jetzt gesehen habe, verdienen. Sonst ist es wirklich völlig anders ... aber grässlich ist es sicher nicht. Man kann es überhaupt nicht vergleichen. Man sollte nie etwas vergleichen, meinst du nicht auch? Wenn man vergleicht, ist man nicht bei dem, was gerade ist. Nein ...«, sie wurde von Effels Lachen unterbrochen.
»Warum lachst du? Was ist daran so lustig?«
»Weil dein Satz über das Vergleichen von Mindevol stammen könnte, fast genauso hat er ihn zu mir auch gesagt ... und nicht nur einmal. ›Wer vergleicht kann nur verlieren‹, meint er.«
»Ein kluger Mann, dieser Mindevol«, schmunzelte Nikita und fuhr fort: »Aus Angst haben sie wichtige Gebäudeteile in die Tiefe der Erde verlegt, Effel, fast alle Firmen. Sie haben Angst, es könnten wieder Flugzeuge in ihre Hochhäuser stürzen, wie schon einmal, vor langer Zeit. Diese Angst ist wohl immer noch in ihren Köpfen, obwohl solch ein Anschlag heute nicht mehr möglich wäre.«
»Aber wenn sie glauben, unter der Erde wären sie sicher, haben sie sich gewaltig getäuscht. Es soll Wesen geben, die durch nichts und niemanden aufzuhalten sind, Nikita, und ich wünsche uns nicht, solche Geschöpfe zum Feind zu haben. Frag´ Mindevol oder Perchafta, die können dir sicher Genaueres sagen.«
»Ich glaube, das will ich gar nicht wissen. Außerdem habe ich schon zwei kennengelernt, nämlich Perchafta und auf meiner Herfahrt Andaro. – Warum, meinst du, hat Perchafta so ... so seltsam reagiert, als ich ihn nach den Siegeln fragte? Ich hab´ mir schon den Kopf zerbrochen, was ich mit meiner Frage da wohl losgetreten haben könnte. Er war ja fast ... erstarrt.«
»Ja, so habe ich ihn noch nicht erlebt, da hast du an etwas gerührt ... mmh, wie soll ich sagen ... na ich weiß nicht, jedenfalls ist dieses Myon-Projekt wohl ein kleiner Fisch dagegen. Er hat mir gegenüber auch nur Andeutungen gemacht. Die Siegel sind wohl auch nicht das, um was es wirklich geht, sondern es geht vielmehr um das, was die Siegel verschließen ... oder in diesem Fall ›bewachen‹. Das ist das eigentliche Geheimnis. Dazu hat Perchafta sich nie näher geäußert, außer dass es sich bei den Siegeln um etwas sehr Mächtiges handelt, an dem man angeblich nicht vorbeikommt und was dich das Leben kostet. Wie bist du überhaupt auf die Frage gekommen?«
»Ich weiß es nicht, sie tauchte ganz plötzlich auf, wie aus ... den Tiefen irgendeiner Erinnerung. Komm, lass uns über etwas anderes reden – oder besser noch irgendwas unternehmen ... vielleicht fällt mir dann noch etwas dazu ein. Zeig´ mir mehr von deiner Heimat, Effel, ich will alles sehen. Mit jedem Stück lerne ich auch dich besser kennen. Sind wir heute Abend nicht bei deinen Eltern eingeladen? Ich bin gespannt, was es zu Essen gibt ... mein Gott, ich bin total verfressen, seit ich hier bin«, kicherte sie. Nikita sprang dann, so wie Gott sie erschaffen hatte, unternehmungslustig aus dem Bett und lief in das nebenan liegende Badezimmer. Während sie dort die Dusche aufdrehte, rief sie durch das Rauschen des Wassers: »Das alles hier müssten meine Eltern sehen, die würden staunen ... ich glaube, es würde ihnen gefallen. In jedem Fall werde ich mich gleich nach dem Duschen mit dem Professor in Verbindung setzen und ihn bitten, mit meinem Vater Kontakt aufzunehmen, damit sie wissen, dass es mir gut geht.«
»Dann werde ich mich inzwischen um unser Frühstück kümmern«, rief Effel, »oder soll ich unter die Dusche kommen?«
»Wenn du dich traust«, lachte sie.
»Nikita wie geht es Ihnen?«, rief ein aufgeregter Professor Rhin einige Zeit später. »Ist alles in Ordnung dort drüben? Sie haben sich lange nicht gemeldet. Warum tragen Sie die Brille nicht ständig? Ich hatte Sie darum ... gebeten ... es ist für unsere Operation wichtig. Ich habe mir schon Sorgen gemacht.«
Nikita hatte sich mit ihrer MFB auf die Fensterbank im Schlafzimmer gesetzt und dann hatte es nicht lange gedauert, bis die Verbindung aufgebaut war und sie ihren Chef hören konnte. Dass er statt ›gebeten‹ eigentlich ›befohlen‹ hatte sagen wollen, war ihr nicht entgangen und sie stellte fest, dass sie sich vor gar nicht langer Zeit noch darüber geärgert hätte. Heute reagierte sie darauf mit einem Lächeln.
»Ja, Herr Professor, bei mir ist alles in Ordnung, es ist so viel passiert, das werde ich Ihnen alles berichten, wenn ich zurück bin ... Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen.« Alles erzähle ich sicher nicht, dachte sie noch.
»Na, Sie haben Nerven, Nikita. Haben Sie sich zurechtgefunden? Hatten Sie ... ›Kontakt‹? Hatten Sie Schwierigkeiten? Brauchen Sie etwas?« Dann machte er eine kleine Pause. »Wo sind Sie da, Nikita, ist das ein ... Hotelzimmer?« Sein Erstaunen war dem Professor anzuhören.
»Nein, das ist kein Hotelzimmer, Herr Professor, aber das erzähle ich Ihnen auch später«, Nikita musste schmunzeln, ihr Chef überschlug sich ja fast am anderen Ende der Welt. »Obwohl das zu den für Sie eher unwichtigen Details gehören dürfte«, fuhr sie fort, dann: »Herr Professor, stellen Sie sich vor, ich habe gefunden, wonach ich suchen sollte ... aber so leicht ist das nicht gewesen und es ist auch immer noch nicht einfach. Ich weiß allerdings nicht, ob ich mit den Plänen zurückkommen kann. Aber eines kann ich Ihnen versprechen ... Sie werden aus dem Staunen nicht mehr herauskommen, wenn ich Ihnen alles erzählt habe.«
»Was soll das heißen, Nikita? Werden Sie bitte etwas deutlicher ... oder können Sie gerade nicht sprechen?«
»Nein, ich glaube, ich komme hier alleine besser klar. Hilfe von außen würde alles unnötig verkomplizieren. Ich kann die Brille auch nicht ständig tragen, ich muss wirklich vorsichtig sein, Herr Professor. Ich erkläre es Ihnen, wenn wir uns wiedersehen ... und ich kann sprechen, denn ich bin alleine, wie Sie sehen können.« Nikita drehte ihren Kopf nach allen Seiten.
»Bitte, Nikita, spannen Sie mich nicht auf die Folter! Was soll das heißen, dass Sie nicht wissen, ob Sie mit den Plänen zurückkommen können?«
Nikita konnte sich gut vorstellen, wie der Professor am Schreibtisch saß und vor Ungeduld auf seinem Sessel hin- und herrutschte oder wie ein Zirkuslöwe in einem viel zu engen Käfig, der spürte, dass er gleich in die Manege musste, herumlief. Was sie nicht wissen konnte war, dass ihr Chef nicht alleine war und dieses Gespräch auch nicht von seinem eigenen Büro heraus führte.
»Haben Sie nun die Pläne oder nicht, Nikita?«
»Nein, es wurde mir verwehrt, sie von dem Ort, an dem ich sie gefunden habe, mitzunehmen ... bisher jedenfalls.«
»Verwehrt? Was soll das jetzt wieder heißen? Ich denke, Sie haben sie gefunden? Wer hat es Ihnen verwehrt?«
Nikita verdrehte die Augen und atmete tief durch. Wie sollte sie ihrem Chef erklären, dass ein Wesen, das zuweilen nicht viel größer war als seine Kaffeetasse, im Stande war zu verhindern, dass sie einfach mit den Plänen im Gepäck aus diesem Land herausspazieren konnte.
»Nun, Herr Professor, wie soll ich sagen, dass es hier anders ist als bei uns, das war uns ja klar, aber doch wissen wir nicht alles ... längst nicht alles. Ich melde mich wieder, wenn ich Ihnen sagen kann, wie es weitergeht. Es kann nicht mehr lange dauern, so viel steht fest.«
»Nikita, Sie sprechen in Rätseln, das ist mir alles zu hoch.«
Professor Rhin klang irgendwie merkwürdig förmlich, fand Nikita, fast beleidigt, nicht so verbindlich wie sonst. Eine Alarmglocke tief in ihrem Inneren meldete sich, verstummte aber augenblicklich, als sie ihren Blick nach draußen richtete und das Dorf unter inzwischen blauem Himmel so friedlich dort unten liegen sah. Dort war das morgendliche Leben jetzt in vollem Gang. Vielleicht tut dieser Blick ihm auch gut. Dann schenkte sie ihrem Chef wieder ihre Aufmerksamkeit.
»Herr Professor, ist irgendwas? Geht es Ihnen nicht gut? Wir sollten doch froh sein, so weit gekommen zu sein. Es gibt die Pläne! Ich habe das Gefühl, dass wir sie bekommen können, wenn das auch vielleicht mit ... Auflagen verbunden sein wird.«
»Auflagen? Bedingungen? Nikita wer sollte uns Auflagen machen?«
»Genau das werde ich Ihnen später erklären, Herr Professor. Ich habe noch eine Bitte, können Sie meinen Vater kontaktieren und ihm sagen, dass es mir gut geht?«
»Ja, Nikita, ja, das mache ich«, kam die etwas zögerliche Antwort vom Professor.
»Das ist sehr nett von Ihnen, Herr Professor«, antwortete Nikita, der das Zögern in der Stimme ihres Chefs nicht entgangen war. »Ich muss jetzt Schluss machen, ich melde mich bald wieder.«
Nikita setzte die MFB ab und verstaute sie wieder sorgfältig in ihrem kleinen Rucksack. Dann ging sie, nachdem sie einen kurzen Blick in die Küche geworfen hatte, hinaus in den Garten, wo Effel bereits den Tisch gedeckt hatte.
»Es ist ein so schöner Morgen, da dachte ich mir, wir nutzen das aus und frühstücken in der Sonne, mein Schatz ... schau mal diese wundervollen Farben des Waldes.« Er wies mit seinem Kopf in die Richtung.
»Das ist eine gute Idee«, sagte Nikita, »den Wald habe ich mir schon eben vom Schlafzimmerfenster aus angeschaut«, und ihn auch meinem Chef gezeigt, »er ist einfach herrlich ... so viele Farben«, und nach einer kurzen Pause, in der Effel ihr Tee einschenkte, fügte sie hinzu: »Er war irgendwie komisch, der Professor.«
»Was meinst du mit komisch?«
»Ich weiß nicht, er war ... reserviert, fast distanziert ... ja, so kann man es nennen. So als wenn er sich nicht hätte freuen dürfen, von mir zu hören. Ach egal, vielleicht hat er auch gedacht, ich serviere ihm die Pläne auf einem Silbertablett, und war einfach nur enttäuscht. Komm, lass uns mit dem Frühstück beginnen, ich habe einen Mordshunger.«
»Hey, dann müssen wir uns ja in Acht nehmen, was meinst du Sam?«, sagte Effel zu seinem Hund, der schon wieder bettelnd neben ihm saß, obwohl er sein Frühstück bereits hatte.
»Keine Angst ihr beiden«, lachte Nikita, »ich nehme erst einmal von dem frischen Brot hier.«
* * *
Kapitel 2
Senator Paul Ferrer, Nikitas Vater, hatte schon seit einigen Tagen versucht, Dr. Will Manders telefonisch zu erreichen – bisher allerdings ergebnislos. Er wollte ihm mitteilen, dass er inzwischen wusste, wo sich Nikita unglaublicherweise aufhielt, und dem jungen Mann dadurch weitere Nachforschungen ersparen, die er für sehr gefährlich hielt. Er hatte stets über eine abhörsichere Leitung – als solche war sie deklariert – aus seinem Senatsbüro telefoniert. Falls doch irgendjemand Fragen stellen sollte, wollte er erklären, dass es um beantragte Forschungsgelder gehe. In seiner väterlichen Sorge hatte er allerdings übersehen, dass einem zufälligen Zeugen auf der anderen Seite solch ein Gespräch wohl sehr merkwürdig vorgekommen wäre. Nicht Will Manders, sondern Professor Rhin, wahrscheinlich sogar Mal Fisher selbst wären für Gesprächsinhalte dieser Art die formell richtigen Ansprechpartner gewesen.
Die Ereignisse der letzten Tage hatten ihm mehr zugesetzt, als er es sich eingestehen wollte. Am wenigsten seiner Frau gegenüber, obwohl er genau wusste, dass gerade Eva der Mensch war, dem er nichts vormachen konnte. Wenn er abends nach Hause kam, genügte ihr ein Blick und sie schien dann genau zu wissen, was mit ihm los war. Nicht nur, dass sie seine Gemütsverfassung sofort erkannte – das konnte man nach mehr als fünfundzwanzig Ehejahren sicherlich erwarten –, sondern wie eine äußerst treffsichere Hellseherin nannte sie auch das Kind beim Namen.
Er hatte längst aufgegeben herauszufinden, wie sie das anstellte. Ihre einzige Tochter Nikita hatte das, was Frau Ferrer ›weibliche Intuition‹ nannte, ganz offensichtlich von ihrer Mutter geerbt und so war Paul Ferrer zu Hause ein offenes Buch. Da der Senator kein Mann war, der Geheimnisse vor seiner Frau hatte – außer denen, die ihm sein Amt auferlegten, und da konnte er stoisch sein wie eine Sphinx –, machte es ihm nichts aus, dass Eva die Gründe seiner Launen kannte.
Als er in seinem Büro die Ungewissheit nicht mehr aushalten konnte, fuhr er mit dem Wagen zu dem Haus des jungen Wissenschaftlers, der in seinen jungen Jahren schon akademische Preise gewonnen hatte. Er wohnte in der Vilmerstreet, einem der vornehmeren Stadtteile Bushtowns, der größtenteils von leitenden Angestellten und hohen Beamten bewohnt war. Vance, sein Bodyguard, war gerade in der Mittagspause, und so brauchte er sich keine Ausrede auszudenken, warum er alleine fuhr. Eigentlich waren seit Kurzem alle Senatoren aus Sicherheitsgründen dazu angehalten, nie ohne bewaffnete Begleitung zu fahren, egal wie kurz die Strecke auch sein mochte. Man hatte ihnen allerdings nicht die Gründe für diese Maßnahme mitgeteilt. Senator Ferrer hatte seinen Freund, den Innensenator Hennings, bei einem Arbeitsessen eher beiläufig danach gefragt und von diesem die Antwort bekommen: »Eine Sicherheitsübung, mehr nicht.«