- -
- 100%
- +
Paul Ferrer konnte sich mit dieser lapidaren Antwort allerdings nicht abfinden.
Jetzt stehle ich mich schon vor meinem Aufpasser davon, das darf ich wirklich niemandem erzählen, dachte er, als er in seiner Rolls Royce-Replik saß. Auf der Fahrt beschlichen ihn wieder böse Ahnungen, die ihm fast schon zur lästigen Gewohnheit geworden waren, und er fragte sich nicht zum ersten Mal, ob er den Beginn einer Paranoia erlebte und schließlich sein Leben in einer Zwangsjacke beenden würde. Er ließ den Wagen zwei Straßenblöcke vor der Vilmerstreet stoppen und schaute sich um, bevor er ausstieg.
Verrückt ... welch ein Blödsinn, schalt er sich gleich darauf, als wenn mir jemand auf diese Weise folgen würde. Hab wohl zu viele alte Krimis geschaut. Das ist doch heute nicht mehr nötig, wenn man wissen will, wo sich jemand aufhält.
Nicht nur Regierungsfahrzeuge besaßen obligatorisch ein Ortungssystem. Wie er gelesen hatte, war es damals, vor einigen hundert Jahren, lächerlich einfach gewesen, den Leuten den Einbau aufzuschwatzen. Man musste ihnen nur klarmachen, dass man im Falle eines Diebstahls sein Auto innerhalb von Stunden zurückbekommen könne. So hatten die Leute auch noch für ihre eigene Überwachung bezahlt. Manchmal sind die Menschen wirklich dumm, hatte der Senator nicht nur in diesem Zusammenhang gedacht.
Auf seinem kurzen Weg bemerkte er, dass hier alles irgendwie gleich aussah, sogar die Vorgärten schienen sich gegen Abwechslung erfolgreich zur Wehr gesetzt zu haben. Alle zeigten kurz geschnittene Rasenflächen, die von akkuraten Blumenbeeten umrahmt wurden. Lediglich die Höhe der Buchsbaumhecke, die jedes Grundstück umschloss, gab Aufschluss über die Wohndauer der Besitzer.
»Wohl ein und derselbe Bauträger«, murmelte er, »es lebe der Individualismus.«
Als er auf das Haus von Dr. Manders zuging und es mit seinen Blicken abtastete, so als könne er von dem Gebäude einen wichtigen Hinweis über den Verbleib seiner Tochter erhalten, befand er, dass es ein sehr schmuckes Haus für einen jungen alleinstehenden Mann sei, der eher in dem Ruf stand, nur seine Forschungen im Sinn zu haben, und sicherlich die meiste Zeit in seinem Labor verbrachte. Passt eigentlich nicht zu ihm, zu dem jungen Abteilungsleiter bei BOSST, dachte er bei sich, während der weiße, feine Kies der Auffahrt leise unter den Ledersohlen seiner vornehmen, maßgefertigten Schuhe knirschte. Vielleicht hat er es ja geerbt, dachte der Senator noch, bevor er sich wieder dem Grund seines Kommens widmete. Auf sein zunächst zaghaftes, dann immer heftigeres Klingeln wurde allerdings nicht geöffnet. Was ist da bloß los?, fragte er sich, in der Firma ist er nicht, und hier ist er auch nicht.
Dr. Will Manders, der Kollege und schüchterne Verehrer seiner Tochter, der sich ebenfalls große Sorgen um Nikita gemacht hatte, hatte sich nach ihrer Abreise häufiger bei Paul Ferrer gemeldet. Er war eines Tages zu ihm ins Büro gekommen und hatte ihm sein Herz ausgeschüttet. Kurz darauf hatten sich die Männer bei einem geheimen Treffen im Clubhaus der Golfanlage weiter austauschen können. Schon nach ihrem ersten Kennenlernen hatte der Senator dem jungen Mann sein Vertrauen geschenkt und mit ihm alle Befürchtungen geteilt. Daher passte es so gar nicht, dass Will Manders auf einmal nichts mehr von sich hören ließ. Das konnte im Grunde nur Schlechtes bedeuten.
Jetzt war dem Senator klar, dass der junge Mann sich zu weit aus dem Fenster gelehnt haben musste. Er hatte wohl mit seinen düstersten Ahnungen recht behalten.
Wenn die gemerkt haben, dass du ihnen nicht traust und eigene Nachforschungen angestellt hast, war dies dein Todesurteil. Besonders dann, wenn du herausgefunden haben solltest, wo Niki wirklich ist.
Eine letzte Möglichkeit, an die sich Paul Ferrer gerade klammerte, bestand darin, dass der junge Mann alleine losgezogen sein könnte. Diesen Gedanken verwarf er aber sofort, denn in dem Fall hätte er sich sicher vorher bei ihm gemeldet. Oder auch wieder nicht, wenn Will Manders befürchtete, dass er ihn von diesem Vorhaben abhalten würde. Der Senator war verwirrt und zunehmend unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, was für ihn äußerst ungewöhnlich war. Im Kongress war er für seinen scharfen Verstand bekannt und wurde von seinen politischen Gegnern gefürchtet, weil er seine Gedankengänge auch rhetorisch sehr gewandt zum Ausdruck bringen konnte. Jetzt ging es um das Wohl seiner Tochter und da waren Logik und Verstandesschärfe seinen väterlichen Emotionen zum Opfer gefallen.
Zu Hause wurde er von seiner Frau Eva, die ihm aus der Küche entgegenkam, erwartet. Sie brauchte keine Fragen zu stellen. Schon an der Art und Weise, wie er sein Jackett über einen Stuhl in der Eingangshalle warf, und natürlich an seinem Gesicht, sah sie ihm an, dass er nichts Neues über die Umstände der Reise ihrer Tochter erfahren hatte. Er war in den letzten Tagen älter geworden, wie ihr schien. Tiefe Sorgenfalten hatten sich um Mund und Nase eingegraben.
»Paul, du musst dich ausruhen ... denk an deine Gesundheit, du machst dich noch ganz fertig ... hast du mal in den Spiegel geschaut?«, ermahnte sie ihren Mann und stand jetzt dicht vor ihm. »Ich mache mir Sorgen um dich. Wenn du krank wirst, hilfst du damit niemandem. Überlasse ab jetzt bitte Frank die Nachforschungen, er verfügt über die richtigen Verbindungen. Wenn jemand etwas erfahren kann, was man eigentlich nicht wissen darf ... dann er.«
»Ich habe ihn selbstverständlich angerufen, Eva, er ist im Urlaub, wie mir seine Sekretärin sagte. Wusstest du das? Nun, er muss uns ja nicht alles erzählen.«
Frank Murner, Pauls Studienfreund und Leiter einer militärischen Sicherheitsabteilung, die der Regierung direkt unterstellt war, war Nikitas Patenonkel. Er selbst hatte Kapitän Franch auf persönliche Order des Präsidenten hin befohlen, mit der U46 auszulaufen. Er wusste allerdings damals noch nicht, dass Nikita an Bord sein würde, und als er es erfahren hatte, war es schon zu spät gewesen. Da war sie längst in Flaaland und hatte das größte Abenteuer ihres Lebens begonnen.
Der Senator ließ, ohne auf die Ermahnungen seiner Frau einzugehen – er wusste, dass sie recht hatte –, einen Kaffee aus der Maschine und setzte sich auf einen der hohen Hocker an der Küchentheke.
»Wie kann ich mich ausruhen, Eva ... in dieser Situation? Will Manders ist bestimmt tot«, sagte er fast tonlos und blickte wie ein meditierender Kaffeesatzleser in seine Tasse, als könne er dort eine Antwort finden. »Ich hatte es zwar geahnt, aber jetzt bin ich mir sicher. Dass diese Leute vor nichts zurückschrecken, ist ja nichts Neues. Ich möchte gerne wissen, was unsere Tochter da drüben soll, ausgerechnet unsere Tochter. Was kann so wichtig sein, dass wir die Ewigen Verträge brechen und alles aufs Spiel setzen, was wir uns aufgebaut haben? Ich weiß jedenfalls nichts von irgendwelchen Projekten, die das auch nur annähernd rechtfertigen würden. Das ist vollkommen absurd.«
Er erwartete keine Antwort, sondern stützte seinen Kopf mit beiden Händen und sah dabei aus wie der Denker von Hamangia.
Leise fuhr er fort: »Ich werde niemanden mehr anrufen, das ist verschwendete Zeit. Die wissen jetzt sowieso, dass ich Will Manders suche. Das Haus wird selbstverständlich überwacht. Dass ich daran nicht gedacht habe ... ich bin bestimmt sehr gut zu erkennen ... ach, was soll´s.« Er lächelte bitter.
»Aber wenn du deine Nachforschungen einstellst«, entgegnete seine Frau besorgt, »wird man wissen, dass du Verdacht geschöpft hast. Wenn du irgendwie an der Sache dranbleiben möchtest, bitte einen Kollegen um eine offizielle Untersuchung. Rudolf zum Beispiel. Geh in die Offensive ... obwohl ich eine Ahnung habe, dass es Nikita gut geht. Ich kann mir nicht helfen, aber mein Bauchgefühl sagt es mir. Eine Mutter spürt so etwas.«
Frau Ferrer hatte sich ebenfalls einen Kaffee geholt und stellte sich jetzt ihrem Mann gegenüber an die Theke.
»Eva«, der Senator blickte seine Frau aus müden Augen an, »deine Ahnungen in allen Ehren, aber unsere Tochter ist einige Tausend Meilen weit weg in einem unbekannten, feindlichen Land, da hätte ich schon gerne mehr Sicherheiten als deine Ahnungen. Ich habe auch ein Bauchgefühl, ein väterliches, und das schlägt Alarm.«
»Wieso feindlich, Paul? Woher willst du wissen, dass die Menschen dort unsere Feinde sind?«
»Sie sind vielleicht noch keine Feinde, Eva, aber wenn sie merken, dass wir die Verträge verletzen, werden sie es ... da bin ich mir sicher. Eine offizielle Untersuchung durch den Senat wäre geradezu töricht. Da würden sich einige Medien freuen wie die Maus in der Backstube. Ich sehe schon die fette Schlagzeile: ›Durchgebrannt?‹ Und den Untertitel: ›Senator sucht jetzt offiziell nach dem Verehrer seiner erwachsenen Tochter, die ebenfalls verschwunden ist.‹ Ich sehe schon meine feixenden politischen Gegner vor mir ... nein, den Gefallen werde ich denen sicher nicht tun. Ich kann nur hoffen, dass diejenigen, die für all das verantwortlich sind, nie herausbekommen, dass wir wissen, wo Niki ist. Die Nachricht über den Verlust des U-Boots, mit dem sie gefahren ist, zeigt doch, dass etwas vertuscht werden sollte. Den armen Kapitän und seine Besatzung haben sie auch auf dem Gewissen. Er war so guter Dinge und hatte sich so auf das Wochenende mit seiner Familie gefreut. Frank und ich waren wahrscheinlich diejenigen, die ihn und seine Mannschaft zuletzt lebend gesehen haben.«
»Dann lass los, Paul. Vertraue darauf, dass alles gut geht. Eine Runde Golf würde dir mal wieder guttun«, versuchte Eva ihren Mann aufzuheitern. »Du kannst jetzt sowieso nichts tun, sie ist nun mal weg. Aber wenn sie wieder hier ist, wird sie vielleicht ihren Vater brauchen, was meinst du?«
»Golf, wie kann ich jetzt ans Golf spielen denken, wo unser Kind vielleicht in Gefahr ist! Und wie kommt es, Eva, dass du so gelassen sein kannst, weißt du irgendetwas? Verheimlichst du mir etwas?«
»Habe ich dir jemals etwas verheimlicht, Paul? Nein, wie gesagt, ich habe das Gefühl, dass es unserer Tochter gut geht. Halte mich für verrückt, aber ich weiß es einfach. Nenne es von mir aus ›Mutterinstinkt‹.«
»Eva, bitte! Du weißt es? Na gut ... ich weiß es aber nicht. Morgen werde ich in Nikis Wohnung fahren. Vielleicht entdecke ich doch noch einen Hinweis, irgendeine Botschaft, die sie oder jemand anderes dort gelassen hat und die wir bisher übersehen haben. Ich werde Mike Stunks bitten mitzukommen. Er ist mir noch einen Gefallen schuldig.«
»Was soll Mike denn ausrichten?«, Eva Ferrer runzelte die Augenbrauen. »Bringst du ihn damit nicht in eine ... na ja ... missliche Lage?« Sie dachte an den inzwischen etwas fülliger gewordenen Mike, der Leiter einer Spezialabteilung der NSPO war. Ferrers waren ihm im letzten Jahr bei einem offiziellen Anlass im Festsaal des Ministeriums für Sicherheit begegnet.
Nichts schien den wachsamen Augen dieses Mannes zu entgehen, auch nicht an einem Ort, an dem er eigentlich hätte feiern und sich entspannen können. Eva erinnerte sich, dass es sich um eine Jubiläumsfeier gehandelt hatte. Jemand, der vor lauter Orden schon nicht mehr gerade gehen konnte, hatte noch einen dazubekommen. Eva hasste solche Veranstaltungen wie die Pest, war aber ihrem Mann zuliebe und der Etikette wegen mitgegangen.
Als Eva das College besucht hatte, vor hundert Jahren wie ihr manchmal schien, war Mike Stunks einer ihrer Verehrer gewesen und sie hatte sogar einmal zugestimmt, ihn auf einen Ball zu begleiten. Er hatte sich als recht hartnäckig erwiesen und sie hatte, eher um ihre Ruhe zu haben, seinem freundlichen Drängen nachgegeben. Es war dann doch noch ein lustiger Abend geworden, an dem sich Mike als charmanter Unterhalter und passabler Tänzer gezeigt hatte. Danach hatten sie sich aus den Augen verloren, nachdem sie ihm klargemacht hatte – und zwar diesmal unmissverständlich –, dass es bei der einen Verabredung bleiben würde. Er war ein netter Kerl, der obendrein noch das Gespür dafür hatte, wann es eine Frau ernst meinte, aber als potenzieller Ehemann war er für sie von vornherein nicht in Frage gekommen. Sie hatte nämlich damals schon ein Auge auf Paul Ferrer geworfen, der zu dieser Zeit gerade mitten in seinem juristischen Examen stand. Dennoch hatte der sie, und dafür hatte sie gesorgt, in der Mensa schon einige Male bemerkt und ihr sogar ein Lächeln geschenkt, das sie nur noch mehr motiviert hatte.
»Mike ist einer der Besten«, wurde sie von ihrem Mann aus ihren Erinnerungen gerissen, »und gerade deshalb will ich ihn dabeihaben. Auf sein Konto gehen die meisten Aufklärungen von Verbrechen. Erinnerst du dich an den Entführungsfall der Sisko-Kinder? Das hat er praktisch im Alleingang erledigt, auch wenn, wie man munkelt, Freund Zufall zu Hilfe kam. Aber nur dem Fleißigen winkt auch das Glück. Ich möchte einfach nichts unversucht lassen. Wenn du mit ›misslicher Lage‹ meinst, er müsse das seiner Dienststelle melden, nun, ich werde es ihm erklären, warum es erst einmal besser ist, es nicht zu tun.«
Der Senator hatte seinen Kaffee ausgetrunken und stellte die Tasse scheppernd auf den Unterteller. Sein neuer Plan schien seine Lebensgeister geweckt zu haben.
Natürlich erinnerte sich Eva an die Sisko-Kinder, auch wenn es jetzt 15 Jahre her war. Sie erinnerte sich sogar an das Datum, an dem sie zum ersten Mal von der Entführung gehört hatte, weil es am siebzigsten Geburtstag ihrer Mutter gewesen war. Es war der 2.8.2851 gewesen. Mike hatte ihr die ganze Geschichte außerdem an jenem steifsten aller steifen Abende im letzten Jahr ausführlich erzählt, zumindest das, was er für die ganze Geschichte hielt. Sie waren darauf gekommen, weil Kay, der eine der beiden Sisko-Söhne, irgendeine Auszeichnung seiner Universität erhalten hatte, was just an dem Tag in den Medien berichtet wurde.
Die damals achtjährigen Zwillinge des bekannten Industriellenehepaares Sisko waren entführt und drei Monate lang gefangen gehalten worden. Sie waren offensichtlich wie immer mit dem Wagen von der Schule abgeholt worden. Mr. Doutes, der Hausmeister, und zwei Lehrer hatten dies bestätigt.
Zu diesem Zeitpunkt war der echte Chauffeur, ein gewisser Claude Robbins, allerdings mit Reifenwechseln beschäftigt gewesen. Als der ehemalige Profiboxer, der damals bereits seit fünf Jahren als Leibwächter und Fahrer bei den Siskos arbeitete, losfahren wollte, um die Kinder abzuholen, hatte er bemerkt, dass beide Hinterreifen der schweren gepanzerten Limousine fehlten. Der Wagen war aufgebockt worden. Ob fehlende Schlussfolgerungen das Ergebnis vieler schwerer Kopftreffer gewesen waren oder einen anderen Grund gehabt hatten, würde für immer im Dunkeln bleiben. Jedenfalls hatte sein Hirn die Überlegungen nicht weitergetrieben als bis zu einem ganz einfachen Reifendiebstahl. Einen Ersatzreifen hatte er vorrätig gehabt, aber für den zweiten hatte er einen Servicewagen aus der Werkstatt kommen lassen müssen. Das hatte ungefähr eine halbe Stunde gedauert, was überhaupt nicht tragisch gewesen war, da es wegen des dichten Verkehrs manchmal hatte vorkommen können, dass er sich verspätete. In einem solchen Fall hatten die Kinder einfach in der Halle der Schule auf ihn gewartet und sich die Zeit mit ihren geliebten Computerspielen vertrieben.
»Es war exakt der gleiche Wagen«, so hatte es der beflissene Hausmeister unterwürfig der Polizei, die mit großem Aufgebot angerückt gewesen war, versichert.
»Durch die getönten Scheiben konnte ich doch nicht sehen, wer da am Steuer saß. Ich ging davon aus, dass alles seine Richtigkeit hat. Die Kinder sind ja auch hinten eingestiegen, so wie immer ... sie haben noch gelacht und rumgealbert. Da dachte ich mir doch nichts Schlimmes. Kann ja keiner mit rechnen. Aber ihr könnt sie doch finden, sie haben doch den Chip«, jammerte er, als wenn es sich um seine eigenen Kinder gehandelt hätte. Der Chip hatte aber in diesem Fall nicht helfen können, obwohl Kindesentführungen das Hauptargument bei seiner Einführung gewesen waren. Jeder hatte die Sinnhaftigkeit leicht nachvollziehen können.
Wie sich in diesem Fall später herausgestellt hatte, war der ICD fachmännisch entfernt und ausgetauscht worden. Die Ironie war, dass die ICDs von der Firma Sisko hergestellt wurden. Hundertschaften der Polizei, die fast das ganze Land auf den Kopf gestellt hatten, hatten unverrichteter Dinge aufgeben müssen. Alle Hinweise aus der Bevölkerung waren ins Leere gelaufen und dann versickert wie Wellen an einem Sandstrand. In der ersten Woche waren über fünfhundert Zeugenmeldungen eingetroffen. Alle hatten die Kinder irgendwo gesehen und viele hatten sogar ihren Kopf darauf verwetten wollen. In der zweiten Woche waren es nur noch dreißig Meldungen gewesen, obwohl die Medien fast stündlich von dem Fall berichteten und dafür gesorgt hatten, dass jeder im Land wusste, wie die Zwillinge aussehen.
Drei wirklich dummdreiste Trittbrettfahrer, die alle ein hohes Lösegeld gefordert hatten, waren schnell dingfest gemacht worden – zwei von ihnen bei der Lösegeldübergabe, zu der sie pünktlich selbst erschienen waren. Die Dummheit war auch im 29sten Jahrhundert noch nicht ausgestorben. Der Dritte, der auf diese Weise reich werden wollte, hatte seine Gesinnungsbrüder sogar noch übertroffen. Er hatte es irgendwie geschafft, aus dem Gefängnis, in dem er einsaß, anzurufen, um seine Forderungen zu stellen. Das hatte den Gefängnisdirektor seinen Job gekostet und allen Mitgefangenen eine sehr genaue Untersuchung ihrer Zellen eingebracht. Der Anrufer war ja schon gewesen, wo er hingehörte. Von da an noch einmal zehn Jahre länger.
Die Kinder aber waren wie vom Erdboden verschwunden geblieben und auch die Entführer schienen sich in Luft aufgelöst zu haben. Man hatte das Schlimmste befürchtet.
Zwei endlos lange Wochen waren weder Forderungen gestellt noch irgendwelche abgeschnittenen Ohren oder Finger geschickt worden – ein sehr beliebtes Druckmittel in ähnlich gelagerten Fällen – und Psychologen hatten die verzweifelten Eltern auf das Schlimmste vorbereitet. Mrs. Sisko hatte ergänzend dazu von ihrem Hausarzt starke Beruhigungsmittel bekommen, was dazu geführt hatte, dass sich die bedauernswerte Frau schlafwandlerisch und wie ein Schatten ihrer selbst durch das große Haus bewegt hatte, sofern sie einmal ihr Zimmer verließ. Keiner der Dienstboten hatte gewagt, auch nur ein lautes Wort zu sprechen, und alle waren nur mit gesenktem Blick umhergelaufen. Es hatte eine Grabesstimmung geherrscht, gerade so, als seien die Kinder bereits gestorben.
Als die Haushälterin der Siskos, Maria Gonzales, eine äußerst resolute Person und unter normalen Umständen nicht auf den Mund gefallen, in der dritten Woche der Entführung zum Einkaufen in einem nahe gelegenen Supermarkt gewesen war, war sie von jemandem im allgemeinen Gedränge an der Kasse angerempelt worden. Sie hatte dem leichten Rempler außer einem sehr kurzen bösen Blick aus ihren braunen Augen zunächst keine weitere Beachtung geschenkt. Erst als sie später beim Auspacken der Lebensmittel in ihrer Einkaufstasche einen Brief gefunden hatte – sie konnte sich nicht erinnern, jemals überhaupt einen in der Hand gehabt zu haben –, hatte die kleine Rempelei doch noch eine Bedeutung bekommen.
Von diesem Moment an hatte Mike Stunks Stunde geschlagen und bei den geplagten Siskos war neue Hoffnung aufgekeimt. Es war Mikes erster großer Fall bei der NSPO gewesen. Zuvor hatte er sich bereits bei der Kriminalpolizei, die ebenfalls an diesem Fall dran war, einen Namen gemacht und die Siskos wussten das. Er hatte sich in den Fall verbissen gehabt wie ein Terrier, dem man sein Lieblingsspielzeug wegnehmen wollte. Er war in das Gästehaus des Sisko-Anwesens eingezogen. Es war doppelt so groß wie sein eigenes Wohnhaus und es hatte zwei Wochen lang den Anschein gehabt, als würde er keinen Schlaf brauchen.
Als Erstes hatte er Maria Gonzales befragt, die kräftig gebaut und gut einen halben Kopf größer war als er. Jeder Angestellte des Hauses war selbstverständlich auf Herz und Nieren geprüft worden und alle hatten eine Weste, die so blütenweiß war wie frisch gefallener Schnee in den Rockys.
»Mrs. Gonzales, was genau haben Sie im Supermarkt gesehen? Bitte denken Sie genau nach. Jede noch so kleine Einzelheit ist wichtig ... ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, wenn ich unser Gespräch aufnehme«, hatte Mike das Verhör ganz ruhig begonnen und dabei auf sein kleines Aufnahmegerät gezeigt, das er vor sich auf den Tisch gelegt hatte. Er hatte die Frau dabei fixiert wie die Schlange das Kaninchen. Er wusste aus jahrelanger Erfahrung, dass jede noch so kleine Körperreaktion eines Zeugen einen Hinweis auf eine unbewusste Beobachtung geben konnte. Aus diesem Grund war er auch in die Küche, in ihr Reich, gekommen. Sie sollte möglichst entspannt sein.
»Mein Gott«, hatte die Haushälterin, mit einer Geste in Richtung des Aufnahmegeräts, die Mike als Zustimmung deutete, erwidert, »was soll ich schon gesehen haben? Ich war damit beschäftigt, die Kassiererin zu kontrollieren. Sie machen andauernd Fehler, komischerweise meist zu ihren Gunsten. Ich verstehe gar nicht, warum es wieder Geschäfte gibt, in denen Menschen an der Kasse sitzen. Aber der Laden ist nicht weit und ich wollte schnell wieder zu Hause sein ... Sie wissen doch ... die arme Mrs. Sisko, die ...« Von Entspanntheit war Mrs. Gonzales meilenweit entfernt gewesen, obwohl sie selbst vielleicht auf Nachfrage das Gegenteil behauptet hätte.
»Mrs. Gonzales«, hatte Mike den beginnenden Redeschwall unterbrochen, »ist Ihnen vielleicht vorher etwas aufgefallen, wurden Sie verfolgt oder hat Sie jemand beobachtet?«
»Hören Sie, Sir, ich war damit beschäftigt, alles was auf meinem Display stand, einzukaufen, da schaue ich nicht nach anderen Leuten. Wissen Sie, wie viele Menschen in Supermärkten rumlaufen? Da hätte ich viel zu tun ... aber sagen Sie doch Maria zu mir, das machen alle hier.« Maria war aufgestanden und hatte begonnen, in der Küche herumzuhantieren, was eher planlos ausgesehen und wohl dem Abbau ihrer Nervosität gedient hatte. Mike hatte sich aber nicht so schnell abschütteln lassen.
»Danke, Frau Gonzales, ... äh, Maria, bitte setzen Sie sich doch«, sein Ton war um eine Nuance schärfer geworden. »Ich weiß, wie viele Leute sich in Geschäften aufhalten ... ich gehe hin und wieder selber einkaufen. Aber manchmal kann man fühlen, dass man beobachtet oder verfolgt wird, kennen Sie das nicht? Es ist wie ein sechster Sinn.«
»Doch, klar kenne ich das«, in Marias Stimme hatte jetzt leichter Trotz gelegen und daran hatte Mike erkannt, dass seine kleine Stresserhöhung funktioniert hatte, »aber neulich war es nicht so ... bestimmt, glauben Sie mir, Sir, Mr. Stunks. Was soll ich sagen, ich hab´ nix gesehen.« Sie hatte sich auf einen Stuhl fallen lassen, ihre Schultern waren herabgesunken und sie hatte ihre Hände in den Schoß gelegt, als ihr linkes Augenlid auf einmal wild zu zucken begonnen hatte, als ob ihr etwas ins Auge geflogen wäre, was Mike nicht entgangen war. Er hatte den Atem angehalten, um einer möglichen Erinnerung Zeit zu geben. Und diese war gekommen, wenn es auch nicht viel gewesen war. Maria hatte für einen Moment die Augen geschlossen. Das Zucken hatte so plötzlich aufgehört, wie es begonnen hatte.
»Jetzt ... ich erinnere mich doch!«, hatte Maria dann gerufen.
»Da war ein Mann, der hat sich an allen vorbeigedrängt! Er hatte nichts eingekauft, hatte keinen Korb, keine Tasche ... nichts. Der hat mich angerempelt und so komisch geschaut! Jesus!«, es klang wie ›Jesses‹. »Meinen Sie, das war das Monster, das unsere Engelchen entführt hat? Ich weiß noch ... in diesem Moment hatte ich so ein Gefühl wie ... kennen Sie das? Als wenn die Welt für einen Moment aufgehört hätte sich zu drehen. Mein Gott! Wie konnte ich den Kerl vergessen, Sir? Es ist wohl alles ein bisschen viel für mich, es ist so schrecklich!« Marias Augen waren vor Entsetzen ganz groß geworden und sie hatte sich mit der flachen Hand an die Stirn geschlagen, dass es leise, aber unüberhörbar geklatscht hatte.
»Sehr gut. Können Sie ihn beschreiben, Mrs. Gonzales, äh ... Maria?« Mikes Stimme war ganz ruhig gewesen. »Jede noch so kleine Einzelheit ist wichtig.«
»Nein ... es ging ja schnell ... oder ... warten Sie, es gibt doch etwas, nur eine Einzelheit, an die ich mich erinnere, und die ist nicht klein, ich sehe sie gerade förmlich vor mir. Eine Raubvogelnase, ja, eine ziemlich große, gebogene Nase. Irgendwie passte sie nicht zu dem Typ, das dachte ich noch. Und, ja, Augen wie aus Stahl, er hatte einen Blick wie aus Eis. Aber dann war er auch schon weg und ich musste meine Sachen einpacken, weil von hinten wieder gedrängelt wurde.« Maria hatte laut geseufzt. »Mehr weiß ich nicht, es tut mir so leid, wenn ich geahnt hätte, dass das der Entführer der Kleinen ist, glauben Sie mir, ich hätte ihn nicht einfach gehen lassen«, hatte sie gejammert.