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»Bringen Sie uns die Kinder zurück, Mr. Stunks, ich flehe Sie an.«
»Nun mal langsam mit den Pferden, Maria, wir wissen weder, ob das der Entführer war, noch ob er den Brief in ihre Tasche getan hat. Es ist eine reine Vermutung, dass es dieser Mann war. Sind Sie sich sicher, dass Sie ansonsten mit niemandem Kontakt hatten? Bitte denken Sie noch einmal genau nach, das mit der Rempelei ist Ihnen ja auch nicht gleich eingefallen.«
Mike hatte innerlich dem Schicksal gedankt, dass Maria im Supermarkt nicht eingegriffen hatte. Nicht weil ihm der Überbringer des Briefes leid getan hätte, sondern weil er sich sicher gewesen war, dass es sich bei den Entführern um mindestens zwei Personen gehandelt hatte. Jemand musste das Auto gefahren haben, mit dem die Kinder abgeholt wurden, ein anderer hatte sicherstellen müssen, dass der richtige Chauffeur, der vielleicht ausgerechnet an diesem Tage früher dran war, lange genug beschäftigt war und eventuell nochmals aufgehalten werden konnte. Mit dieser Vermutung hatte Mike allerdings falsch gelegen.
»Nein«, hatte Maria stirnrunzelnd nach einer weiteren kurzen Pause gemeint, »ich bin nach dem Einkaufen direkt nach Hause gegangen, da war nichts mehr.«
»Na, jedenfalls danke ich Ihnen, Maria, Sie haben uns sehr geholfen.« Das hatte er zwar nicht wirklich so gemeint, hatte sich aber für den Fall, dass Maria eventuell doch noch etwas einfiele, eine Hintertür offen lassen wollen.
Mike Stunks hatte gesehen, dass in dem Moment nicht mehr aus der Frau herauszuholen war, und deshalb hatte er sich als Nächstes dem Umschlag gewidmet. Es war mit den Siskos ausgemacht worden, dass alles, was an Post eventuell ins Haus kam, zunächst von ihm untersucht werden würde. Mike hatte
nicht einen Moment daran geglaubt, dass eventuelle Forderungen auf dem sonst üblichen elektronischen Weg eintreffen würden, dazu waren sie zu leicht zurückzuverfolgen.
Die Entführer hatten bereits gezeigt, dass sie nicht auf den Kopf gefallen waren. Man würde ganz sicher auch keinen der staatlich geprüften Kurierdienste beauftragen, die auf schnellstem Weg kleinere Warensendungen oder wichtige Dokumente, die man nicht elektronisch übermitteln konnte, ihrem Empfänger zukommen ließen. Mit dieser Vermutung hatte er recht behalten.
Er hatte sich nach dem Verhör der Haushälterin in seinen Gästebereich zurückgezogen, in dem er ein kleines Labor aufgebaut hatte. Die Untersuchung auf Fingerabdrücke hatte nichts erbracht, worüber er auch nicht sonderlich erstaunt gewesen war.
Wer eine solche Entführung plant und durchführt, der tatscht nicht auf seinem Erpresserbrief herum, war ihm durch den Kopf gegangen. Er hatte das Kuvert dennoch fast so behutsam geöffnet wie ein Chirurg eine Herzkammer, weil er alles vorsichtshalber noch im großen Labor der NSPO hatte untersuchen lassen wollen.
Er hatte seine dünnen weißen Stoffhandschuhe getragen, die er routinemäßig immer dabeihatte. Man konnte letzten Endes nie vollkommen sicher sein. Er hatte in seiner kriminalistischen Laufbahn schon ›Pferde vor der Apotheke kotzen sehen‹, wie er gerade erst vor ein paar Tagen einem jungen Kollegen erklärt hatte, und zwar mehr als nur einmal.
Außerdem hatte man ihm an der Hochschule für Kriminalwissenschaften beigebracht, dass die meisten Verbrecher irgendwann, und sei es auch erst nach der Tat, einen Fehler machen – auch diejenigen, oder insbesondere diejenigen, die sich für besonders clever hielten. Dieses Sich-für-besonders-clever-Halten war genau ihr Schwachpunkt, ihre Hybris, die sie zu Fall brachte.
Adressiert war der Umschlag gewesen an ›Die Firmenleitung von Sisko ESS, zu Händen Herrn Herb Sisko, streng vertraulich‹. Mike hatte sich, wie ausgemacht, von dem Zusatz ›streng vertraulich‹ nicht beeindrucken lassen und zwei bedruckte DIN A4 Papierbögen aus dem Umschlag herausgezogen.
Dann hatte er in einem der schweren, komfortablen Ledersessel Platz genommen – Sessel, die denjenigen, der sich ihnen anvertraute, zu verschlucken schienen. Auch wenn Informatik in der Schule nicht zu seinen Lieblingsfächern gehört hatte und er diese Sprache nicht gut beherrschte, hatte er sofort gesehen, dass es sich bei der Menge an Nullen und Einsen, mit denen eines der Blätter beschrieben war, um ein Computerprogramm handelte.
Das zweite Blatt hatte Folgendes zum Inhalt – und für diese Sprache war er Experte:
»Wenn Ihnen Ihre Kinder am Herzen liegen, und davon gehen wir aus, bitten wir Sie, die nächste Produktion des ICD, die in einem Vierteljahr fertig sein soll, mit beiliegenden Programm zu versehen.«
»›Bitten wir Sie!‹... Sarkasmus gepaart mit Gewalt ist eine gefährliche Kombination ... ›ein Vierteljahr‹, die sind gut informiert«, hatte Mike kopfschüttelnd gemurmelt, bevor er weitergelesen hatte.
»Wir haben den Kleinen inzwischen den Prototyp implantiert. Sollten Sie unseren Forderungen nicht nachkommen – und wir können Ihnen versichern, dass wir die Möglichkeit haben, das zu überprüfen –, werden wir ein kleines Programm unserer Version des ICD im Körper Ihrer Kinder aktivieren. Sie können sich nicht vorstellen, wie unangenehm das sein wird.
Der Tod wäre in diesem Falle das kleinere Übel. Kommen Sie unseren Forderungen nach, werden Ihre Kinder ein ganz normales Leben führen, so als ob nichts passiert wäre. Was allerdings geschieht, wenn Sie zu irgendeinem späteren Zeitpunkt die Baupläne des ICD wieder ändern sollten oder Informationen über den Inhalt dieses Schreibens an die Öffentlichkeit dringen, überlassen wir Ihrer Fantasie. Das Gleiche gilt selbstverständlich für den Fall, dass Sie die ICDs Ihrer Söhne wieder austauschen oder den Versuch unternehmen sollten, sie anderweitig zu manipulieren. Seien Sie versichert, dass wir das bemerken würden. Sie werden verstehen, dass wir diesen Brief nicht unterzeichnen können, was bei Ihnen aber bitte keinen Zweifel an unserer Ernsthaftigkeit aufkommen lassen möge. P.S.: Wir werden es bei diesem einen Schreiben belassen. Betrachten Sie es bitte als einmalige Chance. Sie haben das Schicksal Ihrer Söhne in der Hand.«
Herb Sisko war eine Stunde später beim Lesen des Briefes noch blasser geworden, als er ohnehin schon gewesen war, und hatte ihn auf den kleinen, mit einem Schachmuster verzierten Tisch neben seinem Sessel gelegt. Mike Stunks hatte zunächst nur still dagesessen, war dann aufgestanden und im Raum hin- und hergegangen, wie er es gerne tat, wenn er nachdenken musste. Dabei war er in Gedanken bei möglichen Motiven und Täterprofilen gewesen. Er hasste es, im Dunkeln zu tappen, aber hier hatte er ein kleines Licht am Horizont gesehen, denn man hatte etwas in der Hand, wenn auch nur aus Papier. Die beiden Männer hatten sich in der Bibliothek des Hauses aufgehalten und Herb Sisko hatte gewiss einen oder zwei Brandys zu viel getrunken – wie an jedem Abend der letzten beiden Wochen. Trotzdem hatte er kaum Schlaf gefunden und nach diesem Brief würde sich sein Zustand sicher nicht verbessern, wie Mike vermutet hatte.
Die Zwillinge Steve und Kay waren die Erfüllung seiner Wünsche gewesen. Die erste Ehe Herb Siskos war, trotz modernster Medizintechnik, kinderlos geblieben und wohl auch deswegen in die Brüche gegangen. Er wäre vor Freude und Stolz fast geplatzt, als seine zweite Frau Lara auf ganz natürlichem Wege, nur zwölf Monate nach der Hochzeit, die Kinder zur Welt gebracht hatte. Mit den Söhnen war die Nachfolge gesichert.
»Wer kann so was?«, hatte Mike Stunks gefragt. »Ich meine, wer hat die technischen Möglichkeiten, einen solchen Chip herzustellen?«
»Ich weiß es nicht«, war die müde Antwort gewesen, »wir haben zwar viele Verrückte in diesem Land, die es behaupten könnten, aber diese Programme sind außerordentlich kompliziert. Ich werde das hier sofort selbst untersuchen. Ich muss unbedingt wissen, wie wir den ICD verändern sollen. Ich habe schon viele Binärcodes gesehen, die meisten habe ich selbst geschrieben, aber diese Halunken haben einen komplementären BCD-Code verwendet ... egal, was es ist, wir werden es machen. Ich will meine Kinder wiederhaben ... Was immer diese Verbrecher auch programmiert haben wollen ... von mir wird niemand etwas erfahren. Meine Söhne sind mir wichtiger als alles andere auf der Welt.«
»Haben Sie Feinde, Mr. Sisko?« Er hatte in diesem Moment nicht darauf eingehen wollen, dass die NSPO es sicher nicht durchgehen lassen würde, dass Herb Sisko solch eine Sache für sich behielt, vor allem, wenn sie, wie man vermuten musste, nicht harmlos war. Mike würde alles sehr genau prüfen.
»Nein, aber das haben mich Ihre Kollegen schon tausendmal gefragt, ich habe keine Feinde, Mr. Stunks.« Herb Sisko hatte Mike aus müden Augen angeblickt und ihn für einen kurzen Moment an Blessie, seinen Cocker Spaniel erinnert, den er als Junge gehabt und über alles in der Welt geliebt hatte.
»Was ist mit Konkurrenten, Mr. Sisko?«
»Nein, die Claims sind abgesteckt, Mr. Stunks«, Sisko hatte abgewinkt. »Was den ICD anbetrifft, hatte unsere Firma damals nur zwei wirklich ernst zu nehmende Mitbewerber, als die Regierung den Auftrag für den Chip vergab. Natürlich wollten wir ihn alle haben. Das ist ein dicker Brocken und sichert einem die Zukunft. BOSST war mit dran und eine kleinere Firma, die es schon lange nicht mehr gibt, Fuertos LCD. Es hatte wohl damals ziemlichen Wirbel gegeben, wie mir mein Großvater erzählt hat. Aber das ist hundert Jahre her ... Schnee von gestern. Nein, wir haben weder Feinde noch Konkurrenten. Und, um Ihnen Arbeit zu ersparen, Mr. Stunks, Mal Fisher, der Vorstandsvorsitzende von BOSST, ist der Patenonkel von Steve, was ja wohl Beweis genug sein dürfte.«
»Und wie viele Personen wissen davon, dass eine neue Produktionsreihe des ICD in Kürze ausgeliefert wird?«, hatte Mike gefragt ohne sein Gehen zu unterbrechen. Dass Patenonkelsein kein Freifahrtschein war, behielt er für sich.
Herb Siskos Maß an Aufregungen war bereits mehr als voll, man musste es nicht noch zum Überlaufen bringen. »Das Datum wird nicht gerade in den Nachrichten gekommen sein, Mr. Sisko.«
»Nein, natürlich nicht. Davon wissen, außer den entsprechenden Regierungsstellen, nur die Geschäftsleitung, also ich ... und meine beiden Vorstandskollegen, Mr. Sahib und Mrs. Labarte, naja ... und natürlich die Leute, die den Chip programmieren. Aber für die lege ich meine Hand ins Feuer, Mr. Stunks.«
»Na, nichts für ungut, Mr. Sisko, aber Sie wären nicht der Erste, der sich dabei verbrennt.«
Von dem echten Erpresserbrief hatte Mike Stunks Eva Ferrer natürlich nichts erzählt. Nur drei Personen bei Sisko ESS und Mike Stunks kannten dessen Inhalt. Für die großen Anteil nehmende Öffentlichkeit, die erleichtert aufgeatmet hatte, als die Zwillinge wohlbehalten drei Tage nach Auslieferung der neuen ICD-Produktion wieder bei ihren überglücklichen Eltern waren, hatte es die Version eines enorm hohen Lösegeldes gegeben. Einen Täter hatte man den Medien auch präsentieren können, wenn auch dieser sich der irdischen Gerichtsbarkeit bereits mithilfe eines starken Stricks entzogen gehabt hatte.
So blieb der Hergang der Entführung weiterhin im Dunkeln, denn auch aus den Kindern, die man allerdings auf Bitten der Siskos nur kurz befragt hatte, war nicht mehr herauszubekommen gewesen, als dass sie mit einem meist schweigsamen Maskenmann, der aber gut kochen konnte, Spiele gespielt hätten und fast immer gewonnen hatten. Wie eine sehr aufgeregte Maria Gonzales im Leichenschauhaus der Gerichtsmedizin festgestellt hatte, hatte es sich bei dem Mann allerdings nicht um denjenigen gehandelt, der sie im Supermarkt angerempelt gehabt hatte, da war sie sich völlig sicher gewesen.
»Der hat ja eine Stupsnase, der war das ganz bestimmt nicht«, hatte sie nur gesagt und hatte den unwirtlichen Ort so schnell wieder verlassen, als wäre jede weitere Sekunde Aufenthalt ansteckend. Im Laufe der nächsten Monate war die Familie Sisko weitgehend zu ihrem normalen Leben zurückgekehrt.
Die Kinder besuchten wieder die Schule, jetzt mit zwei Leibwächtern und einem neuen Chauffeur.
Eva Ferrer stand auf und stellte das Kaffeegeschirr neben die Spüle.
»Paul«, sagte sie zu ihrem Mann, » ruh´ dich heute mal aus, bleib´ zu Hause, wenn du schon nicht auf den Golfplatz willst. Ich werde Manu bitten, uns etwas Leckeres zu kochen. Um acht gibt es Essen.«
»Hat sie heute nicht ihren freien Tag?«, fragte Paul Ferrer.
»Ach nein, der ist ja erst morgen, nicht wahr?«, korrigierte er sich. »Ja, das ist eine gute Idee, essen wir heute zu Hause. Ich habe mir etwas Schriftkram mitgebracht, den ich noch erledigen möchte ... nur wenig, versprochen ... und Mike Stunks werde ich anrufen.«
Um Punkt acht saßen die Ferrers an ihrem wie immer liebevoll gedeckten Tisch. Manu hatte sich wieder einmal selbst übertroffen. Nach zwanzig Jahren als Haushälterin bei den Ferrers kannte sie den Geschmack des Senators, den sie sehr verehrte, in- und auswendig. Heute gab es eines seiner Lieblingsgerichte, Curryhuhn. Dazu tranken die beiden einen leichten Weißwein. Manu hatte sich wieder in ihr hübsches Apartment zurückgezogen, das sich im Anbau des Hauses befand, und schaute sich im Fernsehen eine ihrer Lieblingstalkshows an. Später am Abend würde sie noch einmal hinübergehen und aufräumen, denn in der Nacht vor Vollmond konnte sie sowieso kaum schlafen und wurde höchstens von ihren Erinnerungen gequält.
Am nächsten Morgen wollte sie schon früh in die Stadt fahren, um einige Geschenke für ihren Jimmy zu kaufen, der bald Geburtstag hatte. Dreiundzwanzig Jahre wurde er und er war ihr Ein und Alles. Sie war so stolz gewesen, als er vor Kurzem einen Ausbildungsplatz in einem der besten Hotels der Stadt, direkt am Ufer des Potomac, bekommen hatte. Er hatte zwar mit Leichtigkeit seinen Schulabschluss gemacht, war dann aber orientierungslos gewesen, was seine Berufswahl anbetraf. Zuerst hatte er es in einer Computerfirma versucht, weil Mathematik und Informatik zu seinen Lieblingsfächern gehört hatten. Dort hatte er allerdings sehr schnell erkannt, dass ihm die Materie zu trocken war. Danach hatte er sich mit einigen Gelegenheitsjobs durchgeschlagen und seine Mutter, die sich immer besorgter gezeigt hatte, damit getröstet, dass dies lediglich seiner Berufsfindung diene. Ihm war inzwischen klar geworden, dass er ›irgendwas mit Menschen‹ machen wollte. Auf die Idee, es doch im Hotelfach zu versuchen, hatte ihn dann Eva Ferrer gebracht. Jim liebte seine Mutter, aber ihre ständigen Fragen nach seiner beruflichen Zukunft nervten ihn.
Und wenn sie ihn nicht danach fragte, so tischte sie ihm ihr zweites Lieblingsthema auf: Ehefrau und Enkelkinder.
»Mama«, wand er sich dann stets heraus, »du sagst doch selbst immer, dass ein Mann in der Lage sein muss, seiner Frau etwas zu bieten. Also erst der Beruf, dann die Familie. Pass auf, du wirst noch früh genug Großmutter, du bist doch gerade mal knapp über vierzig.«
Dann lachten beide und er hatte bis zum nächsten Mal seine Ruhe. Das waren nicht die einzigen Momente, in denen er sich einen Vater wünschte.
Nach dem Gespräch mit Tante Eva, wie er sie seit seinem vierten Lebensjahr nannte, hatte er sich in mehreren Hotels, von denen es eine Menge gab, beworben und schließlich hatte er einen Ausbildungsplatz im Vision Inn erhalten. Er war sehr froh darüber, denn eigentlich hatte er das Alter eines Auszubildenden schon überschritten. Dass der Chef dieses Luxushotels ein Freund der Ferrers war, wusste er nicht.
Es hatte gleich zu Beginn ganz danach ausgesehen, als könne er es mit seiner freundlichen und verbindlichen Art wirklich zu etwas bringen. Man hatte ihm gesagt, dass er als Praktikant erst einmal alle Stationen des Hotelbetriebs durchlaufen müsse, angefangen von der Küche und der Patisserie über den Zimmerservice, die Bar, die Restaurants bis zur Rezeption des Vision Inn. Auf die Küche hatte er sich besonders gefreut, denn für das Kochen hatte er sich schon als kleiner Junge interessiert. Oft war er seiner Mutter dabei zur Hand gegangen. Die Ausbildung selbst, wenn er sich dann dafür entscheiden sollte, und man ihn auch nähme, würde vier Jahre dauern. Danach war immer noch Zeit, eine Familie zugründen, wie er fand.
Die Personalabteilung des Vision Inn war ihm behilflich gewesen, eine kleine, bescheidene Wohnung in der Nähe seines neuen Arbeitsplatzes zu finden, sodass Manu ihr Apartment jetzt manchmal sehr groß vorkam. Sie hatte nur Jimmy, der seinen Vater nicht kannte. Eigentlich hieß er Jim, aber für sie war und blieb er ihr Jimmy. Manu war sich selbst nicht hundertprozentig sicher, welcher der beiden einzigen Männer, mit denen sie in ihrem Leben zusammen gewesen war, Jims Vater war. Aber wenn sie ganz ehrlich zu sich war, und das fiel ihr in diesem Fall schwer, weil es ihr überhaupt nicht gefiel, erkannte sie ihn in Jimmys Augen. Fast täglich schickte sie ein Stoßgebet zum Himmel, dass der Rest der Gene von ihr stammten.
Ihrem Sohn hatte sie auf dessen Fragen nach seinem Erzeuger, die in den letzten Jahren seltener geworden waren, immer nur erzählt, sein Vater sei kurz nach seiner Geburt gestorben. Und da ihr dabei jedes Mal Tränen in den Augen standen, hatte Jimmy auch nicht weiter nachgebohrt.
Zwei Männer waren in all den Jahren ihres Lebens die einzigen Beziehungen geblieben. Seit dem schrecklichen Ereignis vor fast vierundzwanzig Jahren und dem einige Monate darauf folgenden Selbstmord ihres zweiten Freundes, der den Rest seines Lebens nicht in einem Rollstuhl verbringen wollte, hatte sie sich an keinen Mann mehr gebunden.
Manchmal, wenn sie wieder einmal nicht schlafen konnte, hatte sie festgestellt, dass der Schock immer noch tief in ihrer Seele saß.
* * *
Kapitel 3
Nach Vincents Flucht war Scotty Valeren zum Rathaus aufgebrochen, um sich dort möglichst unauffällig umzuhören. Er wollte nicht noch mehr Staub aufwirbeln. Wenn sich auch nur eine seiner Befürchtungen bewahrheitete, lag schon genug in der Luft. Unterwegs pfiffen es die Spatzen bereits von den Dächern, dass der künftige Herr von Raitjenland des Mordversuchs an der Seherin Brigit verdächtigt wurde und sich durch seine überstürzte Flucht selbst schwer belastet hatte. Seine Verfolger, Jobol und Jeroen, die ihm mit ihren Hunden so dicht auf den Fersen gewesen waren, hatten in seinem Zimmer lediglich das noch warme Bett vorgefunden und später einen verdutzten Jared Swensson zurückgelassen, der verzweifelt nach einer Erklärung für das plötzliche Verschwinden seines Sohnes gesucht hatte. Ihm war angst und bange geworden bei dem Gedanken, seiner Frau sagen zu müssen, was man ihrem über alles geliebten Sohn zutraute. Die Nachricht hatte sie dann wohl doch schneller erreicht, als ihm lieb sein konnte, denn plötzlich hatte Elisabeth, noch im Morgenmantel, kreidebleich und um Jahre gealtert in der Tür gestanden. Sie hatte sich mit einer Hand schwer auf die Klinke gestützt, so als wenn sie jeden Moment zusammenbrechen würde, und hatte mit Tränen in den Augen und mit gebrochener Stimme, die Jared augenblicklich einen Schauer über den Rücken jagte, geflüstert: »Wir werden unseren Sohn nie mehr wiedersehen, Jared, nie, nie mehr.«
Das sollten für lange Zeit ihre letzten Worte gewesen sein, die sie überhaupt zu irgendjemandem sprach. Mit einem tiefen Schluchzen hatte sie sich umgedreht und war mit schleppendem Gang in ihrem Schlafzimmer verschwunden. Die Tür hatte sie mit einem lauten Klicken hinter sich abgeschlossen. Dieses Geräusch war ein einziger Vorwurf gewesen und dieser hatte den Herrn von Raitjenland bis tief ins Mark getroffen.
Nachdem Elisabeth die Küche verlassen hatte, hatte Jared sich an den schweren Eichentisch gesetzt, sein Gesicht in die Hände gestützt und hemmungslos geweint. Auch wenn er die Visionen seiner Frau immer als weibliche Spinnereien abgetan hatte, hatte er jetzt instinktiv gespürt, dass sie dieses Mal recht haben könnte. Und er hatte jetzt selbst eine Vorahnung: Die letzten Minuten würden das Leben auf der Farm für immer verändert haben.
Wie oft hatten sie sich wegen der Erziehung ihres einzigen Sohnes gestritten! Jared hatte seiner Frau mehr als einmal vorgeworfen, Vincent zu verhätscheln, wenn sie sich wieder schützend vor ihren Sohn gestellt hatte, und sie dann Gegenvorwürfe an ihn gerichtet, dass er den Jungen zu hart anpacke und viel zu viel von ihm verlange. Ihre Gespräche über Vincent waren immer ähnlich verlaufen.
»Zu hart?«, hatte er dann zum Beispiel erwidert. »Glaubst du, diese Farm kann er einmal führen, wenn er nicht früh genug mit den Realitäten dieses Betriebes vertraut gemacht wird? Ich lasse ihm doch wirklich alle Freiheiten, er kann sich nicht beklagen. Lesen wir ihm nicht jeden Wunsch von den Augen ab? Dafür könnte er sich wirklich hin und wieder erkenntlich zeigen. Sogar seinen Freund Scotty kann man im elterlichen Betrieb öfter antreffen als unseren Sohn hier auf der Farm.«
»Du und deine sogenannten Realitäten, es gibt auch noch anderes im Leben, was er erfahren soll und worauf es eben auch ankommt. Es gibt mehr als immer nur die Arbeit.«
»Ach ja? Aber wir leben doch ganz gut von dieser Arbeit – oder etwa nicht? Man bekommt im Leben nichts geschenkt«, konterte er dann gereizt. Und so gab ein Wort das andere.
Innerlich verfluchte er sich jedes Mal dafür, denn er liebte seine Frau sehr. Dass man im Leben nichts geschenkt bekam, wusste sie genauso gut wie er. Elisabeth, er nannte seine Frau zärtlich Liz, war schließlich die Tochter des reichen Getreidefarmers Wayne Goddard, der mit Jareds Vater die gleiche Leidenschaft teilte, nämlich die Pferdezucht, und mit ihm auch in geschäftlicher Verbindung stand. Auf den Hengstparaden waren sie bei den Versteigerungen manches Mal auch schon Konkurrenten gewesen. Jared hatte seine Frau auf einem Heubodenfest in Onden kennengelernt, als er dreiundzwanzig Jahre alt war, und sich gleich in sie verliebt. Da dies auf Gegenseitigkeit beruhte und auch die Eltern die Verbindung befürwortet hatten, heiratete das junge Paar bereits nach einem halben Jahr. Der ersehnte Nachwuchs war allerdings lange ausgeblieben und erst, als die beiden sich schon schmerzlich damit abgefunden hatten, ohne Erben zu bleiben, war Vincent doch noch geboren und sogar von einem der Großväter als Geschenk Gottes bezeichnet worden.
Die ersten Jahre in Vincents Leben waren problemlos verlaufen und die Großeltern Swensson und Goddard schienen eine Art Wettkampf im Verwöhnen auszutragen, der manchmal merkwürdige Blüten trieb. Im Alter von zwei Jahren besaß Vincent bereits zwei Ponys, ein braun-weiß geschecktes von den Swenssons und ein schwarzes mit einer weißen Blesse auf der Stirn von den Goddards. Immerhin war aus Vincent ein guter Reiter geworden und in den Regalen seines Zimmers standen zahlreiche Pokale, die er auf Turnieren gewonnen hatte. Da Vincent auf Raitjenland aufwuchs, war es selbstverständlich, dass er alle Feiertage und später auch seine Schulferien auf der Goddardschen Farm verbrachte. Jared hatte seinen eigenen Vater nicht wiedererkannt, denn er selbst war von diesem nie verwöhnt worden. So betrachtete er das Ganze eher skeptisch, weil er befürchtete, dass sein Sohn, den er liebte, zu sehr verweichlichen würde.
In der Pubertät dann hatte der Spross von Raitjenland Verhaltensweisen an den Tag gelegt, die erst selten, dann immer öfter zu Beschwerden der Lehrer oder anderer Leute führten, und auch seine Besuche auf der Goddardschen Farm nahmen ab. Vincent hing lieber mit seinen Freunden ab, das war wesentlich lustiger, als bei Großeltern den braven Enkel zu spielen.
Immer hatten sich Elisabeth und Jared nur wegen Vincent gestritten, wobei es beide ja nur gut meinten. Jared wäre seiner Frau am liebsten nachgeeilt, hätte sie in den Arm genommen und mit ihr gemeinsam geweint. Aber sein Trotz oder sein Stolz – er wusste es selber nicht – oder vielleicht beides, hatten ihn am Küchentisch festgehalten.
Zehn Minuten später war er mit einem festen Entschluss aufgestanden, wobei er fast den Stuhl umgeworfen hätte. Dann hatte er die Sachen zusammengepackt, die er sonst für einen längeren Jagdausflug mitnahm, hatte draußen seinen besten Jagdhund zu sich gerufen und die Farm verlassen, ohne sich noch einmal umzudrehen. Der Rest der Hundemeute hatte beleidigt hinter ihnen her geheult.
Auf dem Küchentisch würde seine Frau später einen Zettel vorfinden und lesen: »Ich werde unseren Jungen suchen und zurückbringen. Vorher komme ich nicht zurück. Es tut mir so leid. Ich liebe dich. Jared«
Wie ein Lauffeuer war die Nachricht von Vincents vermeintlicher Tat bis in den letzten Winkel von Winsget gedrungen. Manch einer, dem Scotty begegnete, schaute ihn an, als hätte er selber den Anschlag auf die Seherin verübt. Jeder wusste natürlich, dass Vincent sein bester Freund war, und aus den Augen einiger Mitbürger sprach unverhohlene Schadenfreude. Endlich hatten die reichen Jungs auch mal ein Problem, konnte ja auf die Dauer nicht gut gehen, mochte manch einer von ihnen denken.