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Am liebsten hätte er den Leuten zugerufen: Hey, ich bin zwar mit Vincent befreundet, aber deswegen bin ich noch lange nicht für das verantwortlich, was er vielleicht getan hat, oder habt ihr etwa schon Beweise?
Ihn kotzte das Spießertum in seinem Heimatort an und er hatte auch aus diesem Grund schon oft seinem Vater vorgeschlagen, in eine der größeren Städte im Süden zu ziehen, in denen sie ebenfalls Geschäfte hatten. Aber der Vater hatte von einem Ortswechsel nie etwas wissen wollen.
»Hier sind unsere Wurzeln, Scotty, und hier bleiben wir. Winsget ist der Stammsitz unseres Unternehmens. Du wirst eines Tages deiner Reiselust frönen können, wenn du deinen Antrittsbesuch bei unseren Filialen machst, und die Reise wird länger dauern, als dir vielleicht lieb ist. Deine Freunde kannst du nämlich nicht mitnehmen«, hatte er ihm dann mit einem Augenzwinkern geantwortet. Dieses Augenzwinkern und die Art, wie sein Vater ihm das gesagt hatte, hatten ihm gezeigt, dass er ihn liebte und es gut meinte.
Scotty hatte es längst gedämmert, dass an dem Gerücht, das in Winsget die Runde machte, sehr viel dran war. Er hatte Vincent vor dessen sehr hastigem Aufbruch die halbe Speisekammer seines Elternhauses in den Rucksack gestopft und ihm versprochen nachzukommen, wenn der erste Sturm sich gelegt haben würde. Vincent war überhaupt nicht gelassen gewesen.
Vielmehr hatte im Blick des Freundes etwas gelegen, was er dort noch nie vorher gesehen hatte und deshalb auch nicht hatte einordnen können. Jetzt konnte er es. Es war Panik gewesen, reine Panik.
Sie hatten sich noch hastig an ihrem alten Platz an den oberen Wasserfällen der Agillen verabredet, bevor sich Vincent dann mit seinem Rucksack durch die Hintergärten davongeschlichen hatte. Seit ihrem vierzehnten Lebensjahr waren sie fast jeden Sommer für ein bis zwei Wochen mit ihren Freunden zum Baden und Jagen in das Gebirge gegangen, das von Gorg, einem majestätischen, aber erloschenen Vulkan, beherrscht wurde. In der wilden Berglandschaft hatten sie sich austoben können. Fernab von der Kontrolle durch Eltern oder Nachbarn.
Nicht, dass sie etwas Verbotenes getan hätten, das war dort gar nicht möglich, aber es tat einfach gut, wenigstens einmal im Jahr nur so in den Tag hineinzuleben und in zahlreichen Abenteuern seine erwachende Männlichkeit unter Beweis zu stellen. Außerdem bestand dort nie die Gefahr, von einem der Väter, die in ihrer Jugend das Gleiche getan hatten, zur Arbeit gerufen zu werden. Das galt für ihn ebenso wie für Vincent.
Die Familie Valeren betrieb seit vielen Generationen in Winsget eine Tuchweberei mit einem großen angeschlossenen Verkaufsgeschäft und dieser Betrieb gehörte zu dem Ort wie die Mühle zum Bach. Es gab in jeder Winsgeter Familie mindestens eine Person, die in der Weberei oder dem Geschäft arbeitete. Die Produkte der Firma wurden weit über die Grenzen des Landes hinaus verkauft. Der Ort hatte den Valerens sehr viel zu verdanken. Scotty hatte das Glück gehabt, mit drei älteren Schwestern und vielen Angestellten die Arbeit teilen zu können, wenn man von Arbeitsteilung überhaupt sprechen konnte. Er war der jüngste Spross der Familie und vor allem sein Vater setzte all seine Hoffnungen in ihn. An einem weinseligen Stammtischabend war diesem einmal die Bemerkung herausgerutscht, dass er auch noch öfter geübt hätte, aber es wären nur vier Versuche nötig gewesen. Irgendjemand, vielleicht die Bedienung, hatte Scottys Mutter dies zugetragen und das hatte zu einem mehrwöchigen eisigen Schweigen zwischen seinen Eltern geführt. Unter Zuhilfenahme eines großen Straußes roter Rosen und eines ehrlich gemeinten reumütigen Blickes hatte es schließlich beendet werden können.
Nach dem Willen seines Vaters sollte Scotty einmal das Familienunternehmen leiten, eine tüchtige Frau aus gutem Hause heiraten, Kinder bekommen – möglichst Söhne – und so den Fortbestand der Valerens sichern.
Seine Mutter und seine Schwestern hatten ihn verhätschelt, vor allem weil er zart gebaut war und als Kind oft gekränkelt hatte. Aber inzwischen war aus ihm ein zäher, ausdauernder und ausgesprochen intelligenter junger Mann geworden. Dies machte ihn bei seinen Freunden beliebt, die ihn fast alle um mehr als einen Kopf überragten. Mit seiner pfiffigen Schlagfertigkeit hatte er der Clique aus mancher Patsche geholfen, besonders wenn schlagende Argumente oder die Beziehungen eines Vaters nicht mehr weitergeholfen hatten. Er selber konnte sich des Schutzes seiner stärkeren Freunde sicher sein, vor allem aber der Tatsache, dass er der Sohn von Harie Valeren war. Wenn Scotty allerdings an die Zukunftspläne seines Vaters dachte, wurde ihm jedes Mal flau in der Magengegend.
Der Firmengründer und Scottys Namensgeber Scott Valeren, dessen strenges Konterfei aus einem schwarzem Rahmen, der im Eingang der Weberei hing, auf die Kunden und Mitarbeiter herunterblickte, hatte vor 700 Jahren die Seidenweberei nach Flaaland gebracht und Winsget zu seinem Hauptsitz auserkoren. Warum es ausgerechnet Winsget gewesen war, war sein Geheimnis geblieben. Bald schon hatte er mit der künstlichen Aufzucht der Raupe des Seidenspinners begonnen, was die Firma weitgehend von Importen unabhängig gemacht hatte. Später war man sogar in der Lage gewesen, selber Rohseide zu exportieren.
Neben dem Bild des ehrwürdigen Firmengründers hing eine Tafel, deren kunstvoll gestalteten Inhalt Scotty auswendig herbeten konnte und der von der Geschichte der Seide kündete.
Als die Gemahlin des Kaisers Huang Di, Lei Zu, an jenem ›glücklichen Tag‹ spazieren ging, sah sie zwischen Maulbeerzweigen hängende, sanft leuchtende Gebilde. Wohl dem Baum entwachsene! Doch nein, eines der Früchtchen dehnte plötzlich seine Eigestalt und ein mehlweißer Schmetterling, bräunlich gestreift, schwirrte hervor. Nicht Obst war es gewesen, vielmehr das abgelegte Kleid des Schwärmers.
Lei Zu, mit dem weiblichen Interesse für Mode und Bekleidung, betastete dieses verblüffende Gewand von zauberhafter Weiche. Mit geschickten Fingern gelang es der Kaiserin bald, den Anfang des Fadens zu erfühlen. Leuchtend, glatt und klar ließ er sich vom Kokon herunterspulen. In ihm hatte sie das herrlichste Naturgespinst auf Erden entdeckt.
Jeder in der Familie wusste, dass sie in diesem Teil der Welt die Seide zwei Mönchen zu verdanken hatten, die in ihren hohlen Wanderstöcken sowohl Samen des Maulbeerbaumes als auch Eier des Seidenspinners aus dem damaligen China herausgeschmuggelt und damit das Monopol des damals größten Landes der Erde beendet hatten. Seide war in frühen Zeiten so begehrt und teuer gewesen, dass der römische Kaiser Tiberius seinem überschuldeten Volk das Tragen von Seide verbieten musste. Ein Pfund Seide hatte damals ein Pfund Gold gekostet. Und als Scottys Vorfahren noch in Fellen herumgelaufen waren, hatten sich die chinesischen Edelleute bereits in dem wertvollen Stoff gekleidet.
Die Weberei Valeren hatte fünfzehn Filialen, die über das ganze Land verteilt waren, und bis weit in den Süden reichten.
Winsget aber war das Herz der Seide, während die Flachs- und Wollwebereien der Firma Valeren, die alle von Verwandten geführt wurden, in anderen Orten ansässig waren.
Scotty war sich inzwischen überhaupt nicht mehr sicher, ob er einmal das Geschäft übernehmen wollte, wie es die Tradition forderte. Bis zu seinem zwölften Lebensjahr hatte er noch nicht daran gezweifelt, er war ja sozusagen in Seide aufgewachsen und seine Spielplätze waren die Werkstätten und Geschäftsräume der Firma gewesen. Als er gerade drei Jahre alt gewesen war, wäre er fast in einen der kochend heißen Wassertröge gefallen, in denen die Arbeiterinnen die Larven in ihren wertvollen Kokons abtöteten, um dann die kostbaren Fäden zu gewinnen, die eine Länge von bis zu zweitausend Metern haben konnten. Es war nur dem reaktionsschnellen Zupacken einer Arbeiterin zu verdanken gewesen, dass Scotty lebte. Dafür hatte sie von Scottys Vater eine lebenslange Rente und vom Bürgermeister eine Urkunde sowie eine Ehrenmedaille erhalten.
Klara, die älteste seiner Schwestern, eignete sich seiner Meinung nach viel besser für das Webergeschäft. Sie kannte sich nicht nur in den Stoffen und Arten der Gestaltung bestens aus, sondern sie war auch ein Zahlengenie. In der Buchführung machte ihr niemand etwas vor. Während seine anderen Schwestern längst verheiratet waren und Kinder hatten, war Klara mit dem Geschäft verheiratet, wie sogar ihr Vater des Öfteren anmerkte.
Scottys heimliche Liebe, die er mit dreizehn Jahren entdeckt hatte, galt der Biologie und in seinen Träumen sah er sich auf einer Forschungsstation in einem unbekannten Land, und zwar sicher nicht auf einer, die sich mit Schmetterlingen, Faltern oder Raupen beschäftigte. Da Tradition in seiner Familie einen sehr hohen Stellenwert besaß, war ihm durchaus bewusst, dass er einen nicht unerheblichen Kampf würde austragen müssen, wenn er seiner heimlichen Berufung folgen wollte. Das letzte Quäntchen an Mut für diesen Kampf fehlte ihm jedoch noch.
Von dem um ein Jahr älteren Vincent war Scotty fasziniert.
Er bewunderte dessen lässige Art, die von anderen oft für Arroganz gehalten wurde. Scotty wusste, dass Vincent sich dadurch nur schützte. In Wirklichkeit war er nämlich sehr verletzlich, was er vor allem seinem Vater Jared nie gezeigt hätte, der seit seinem sechsten Lebensjahr unablässig bemüht war, aus ihm einen ›ganzen Mann‹ zu machen. Vielleicht hatte seine Mutter ihn zu sehr verwöhnt. Vincent würde als einziger Sohn einmal eine Farm übernehmen, die die größte im Umkreis von zweihundert Meilen war. Er konnte verstehen, dass sein Freund diesen Moment nicht gerade herbeisehnte und das Leben noch möglichst unbeschwert genießen wollte. Die Gesundheit Jareds verhieß ihm dabei gute Aussichten. Jeder wusste, was es bedeutete, eine Farm dieser Größenordnung zu leiten.
Vincent war frech und hatte keine Angst vor Autoritäten. Vor allem aber war er ein Lästermaul und es gab kaum jemanden im Ort, der von ihm nicht irgendwann schon einmal durch den Kakao gezogen worden war. Dass er nicht bei Saskia landen konnte, hatte Vincent schwer getroffen, wie schwer, das wusste nur Scotty, der eben auch hinter die lässige Fassade seines Freundes blicken konnte. Vielleicht hatte diese Mordattacke etwas mit Saskia zu tun, obwohl Scotty jetzt noch keine Verbindung zu der Seherin Brigit herstellen konnte. Er musste Saskia aufsuchen und mit ihr reden, und zwar möglichst bald.
Was die beiden jungen Männer am meisten verband, war ihre Leidenschaft für die Jagd und die Natur. Dabei ergänzten sie sich in einer geradezu perfekten Art und Weise. Scotty war sicher der beste Fährtenleser weit und breit, während Vincent ein hervorragender Schütze war. Diese Fähigkeiten, die sie auf den großen Treibjagden regelmäßig in den Dienst der Gemeinschaft stellten, hatten ihnen die Anerkennung der älteren Männer eingebracht, die im Gegenzug ein Auge zudrückten, wenn sie mit ihrer Clique wieder irgendetwas angestellt hatten.
Er fragte sich auf dem Weg zum Bürgermeisteramt, was wohl Vincent mit Brigit zu tun gehabt haben könnte. War er etwa doch bei ihr gewesen und hatte von ihr etwas Unangenehmes erfahren? Aber welche Mitteilung konnte eine einigermaßen plausible Erklärung für einen Mordversuch sein? Scotty schüttelte diese Gedanken gleich wieder ab – sie würden doch nirgendwohin führen. Sie hatten die Seherin nie wirklich ernst genommen, sondern sie sogar unter sich als ›durchgeknallte Hexe‹ bezeichnet. Oft genug hatten sie sich über sie lustig gemacht, besonders dann, wenn wieder irgendjemand in ihrem Beisein deren seherische Fähigkeiten gelobt hatte.
»Alles Unsinn«, hatten sie dann zum Beispiel gerufen, »ihr glaubt auch jeden Scheiß, den euch jemand aus einer Kristallkugel liest! Reine Verarschung ist das! Unglaublich, womit man alles Geschäfte machen kann. Ist doch klar, dass genau das eintritt, was sie euch voraussagt. Es geschieht, weil ihr es glaubt, nicht weil sie es weiß. Kommt Freunde, lasst uns auf die Dummheit trinken. Immerhin kann jeder mit seiner Kohle machen, was er will, hahaha.« Unter schallendem Gelächter hatten sie dann noch die eine oder andere, in ihren Augen witzige oder geistreiche Bemerkung fallen lassen, bevor sie sich dann wieder ihren Lieblingsthemen, Frauen und Jagd, widmeten, die besonders zu vorgerückter Stunde zu einem einzigen Thema verschmolzen und einem Autor fantastischer Literatur sicher alle Ehre gemacht hätten.
Was weder Scotty noch irgendjemand sonst aus Winsget, Onden oder Seringat zu diesem Zeitpunkt wusste, war, dass sein Freund Vincent nie die Farm seines Vaters übernehmen würde, nie wieder jagen würde und nie mehr irgendwelche Bemerkungen, weder witzige noch geistreiche, über andere Leute machen würde. Nicht, weil er sich über Nacht geändert hätte, sondern weil er tot war. Wären die Umstände seines Todes bekannt geworden, hätte es wohl auch dem Hartgesottensten einen Schauer über den Rücken gejagt.
Nachdem Scotty im Büro des Bürgermeisters auch nicht mehr erfahren hatte, war er mit einem festen Entschluss nach Hause zurückgekehrt. Er war gerade dabei, ein paar Sachen zu packen, als seine Mutter plötzlich im Zimmer stand. Er hatte sie gar nicht kommen gehört.
»Warum packst du, Scotty«, fragte sie ihren Sohn besorgt, »was hast du vor?«
»Ich muss Vincent suchen, Mutter, ich muss mit ihm reden und ihn dazu bringen, sich der Sache hier zu stellen, er macht mit seiner Flucht alles nur noch schlimmer. Ewig kann er sich sowieso nicht verstecken, sie werden ihn früher oder später finden. Ich glaube, er hat einfach den Kopf verloren, er war panisch.«
»Lass dich bitte von ihm nicht wieder in irgendeine seiner Geschichten reinziehen, Scotty, ich habe dir immer gesagt, dass Vincent kein guter Umgang für dich ist, und wie es aussieht, habe ich recht behalten.«
»Du hast ihn also auch schon vorverurteilt, Mutter, so wie alle anderen.« Ohne aufzuschauen, packte Scotty weiter seinen Rucksack.
»Nein, ich habe ihn nicht verurteilt, aber er hatte immer nur Flausen im Kopf, es ging ihm immer nur um sich selbst. Hat er sich auch nur einmal um dich gekümmert, wenn es dir schlecht ging? Ich habe einfach kein gutes Gefühl, wenn du ihn jetzt suchen gehst. Wo willst du ihn überhaupt finden, er kann überall sein.«
»Mach dir mal keine Sorgen, als Freund bin ich es ihm einfach schuldig, ich muss ihn finden, bevor die Suchtrupps kommen.«
»Du musst wissen, was du tust mein Sohn. Du bist schließlich alt genug«, seufzte seine Mutter und verließ resigniert den Raum.
Ein halbe Stunde später war Scotty auf dem Weg in die Agillen. Er hatte sich nicht von seinen Eltern verabschiedet, weil er eine weitere Diskussion vermeiden wollte. Außerdem war er sich sicher, dass er bald zurück sein würde.
* * *
Kapitel 4
Es war punkt neun. Officer Bob Mayer war gerade von seiner ersten frühen Streife durch die Delice Shopping Mall zurückgekehrt, Sergeant Fancy und Officer Ruler waren jetzt unterwegs auf ihrem Rundgang. Bob Mayer hatte an dem Doppelschreibtisch, der den Raum beherrschte, Platz genommen.
Er nahm seine dunkelblaue Mütze mit dem großen silbernen Abzeichen über ihrem breiten Schirm ab und hängte sie über die Schreibtischlampe. Dann ließ er sich auf seinem Sessel auf Rollen nieder, schob den Tablet-PC beiseite und wischte mit dem rechten Arm über die jetzt frei gewordene Stelle, was nicht nötig gewesen wäre. Er lockerte den Knoten seiner Krawatte, bückte sich und entnahm einer speckigen braunen Ledertasche, die neben ihm auf dem Fußboden stand, sein in einer schneeweißen Serviette eingeschlagenes Frühstück. Diese Tasche war, was Dinge anbetraf, sein ganzer Stolz und gleichzeitig immer mal wieder Zielscheibe für den Spott seiner Kollegen. Er wusste nicht genau, von welchem seiner Urgroßväter sie stammte, aber sie war alles, was von deren Hab und Gut übrig geblieben war, als dieser Urahn beschlossen hatte, in der Neuen Welt zu leben.
Dem Serviettenpäckchen folgte eine weiß etikettierte Flasche Blue Mountain-Mineralwasser mit zum Namen passender Schriftfarbe. Er drehte am Verschluss, der sich sofort leise zischend öffnete, wobei ihm etwas von dem heraussprudelnden Wasser über die Finger rann. Dann wickelte er ein großes, quadratisches Sandwich aus, strich die Serviette mit einer liebevollen, fast pedantischen Geste glatt und platzierte das Weißbrot darauf. Er klappte es vorsichtig auf, schnupperte und schaute sich den Belag an, wie ein Entomologe ein äußerst seltenes Exemplar betrachtet, das er gerade in einem seiner Schaukästen säuberlich mit einer Nadel aufgespießt hat. Auf einem über den Rand des Brotes ragenden Salatblatt, das noch erstaunlich frisch aussah, lag eine dicke Tranche gelben Käses und darüber zwei große, hauchdünn mit Mayonnaise bestrichene Tomatenscheiben. Sichtlich zufrieden mit dem, was er gesehen hatte, klappte Bob Mayer das Brot wieder zusammen und begann mit einem herzhaften Biss sein zweites Frühstück – eigentlich war es das erste, da er am frühen Morgen lediglich eine Tasse Kaffee getrunken hatte, so wie fast immer.
»Von ihr, dein ›Forschungsobjekt‹?«, kam die Frage des zweiten Mannes in dem kleinen Raum. Officer Richard Pease saß ihm gegenüber und in seinem Blick, der zwischen dem Sandwich und Bob hin- und herging, lag eine Mischung aus Amüsement und Ekel. Er hatte sich für seine Pause allerdings nicht die Mühe gemacht, die Mütze abzunehmen, sondern sie nur lässig in seinen Nacken geschoben, sodass sie eine seiner vollen, tiefschwarzen Locken freigab, die ihm nun keck über der Stirn hing. Wie üblich war er über den Sportteil seiner elektronischen Zeitung gebeugt. In seinem linken Ohr steckte außerdem ein kleiner Knopf, durch den er keine Sportübertragung verpasste, sein Lieblingssport war Baseball.
In einer Hand hielt er einen Pappbecher dampfenden Kaffees, den er sich noch eben aus dem Automaten im Flur geholt hatte. Einem BOSST-Getränkeautomaten, der eine Auswahl von mehr als zwei Dutzend Getränken, heiße wie kalte, zur Auswahl bot, für die jeweils Diensthabenden kostenlos.
Mit der anderen Hand tippte er jetzt wieder konzentriert irgendwelche Zahlenreihen einer Sportwette ein. Vor einiger Zeit hatte er einen hübschen, aber viel zu kleinen Betrag gewonnen und er war sich seitdem ganz sicher, ja er spürte es regelrecht, irgendwann, und zwar in gar nicht ferner Zukunft, den ganz großen Coup zu landen. Dann könnten ihn alle mal den Buckel runterrutschen und auf die seiner Meinung nach längst fällige Beförderung zum Sergeant würde er auch dankend verzichten. Selbst wenn ihm einer seiner Kollegen die Wahrscheinlichkeit eines ganz großen Coups vorrechnete, hielt er an seiner Überzeugung fest wie ein frühchristlicher Märtyrer im alten Rom, weil er es einfach spürte. Und das hatte mit Mathematik nicht das Geringste zu tun.
Im Kollegenkreis wurde er wegen seines an Verrücktheit grenzenden Fanatismus zu dem gleichnamigen Sport, manche gebrauchten auch den umgekehrten Wortlaut, nur ›Base‹ genannt.
»Von ihr«, wiederholte Richard etwas lauter, aber jetzt ohne von seinen Glückszahlen aufzublicken, »oder etwa selbst gemacht?«
Mit ›ihr‹ war Bob Mayers Verlobte, Mia Sandmann, gemeint. Bob hatte Mia, die persönliche Assistentin von Mal Fisher, im letzten Jahr kennengelernt, als sie im Delice zum Einkaufen gewesen war. Sie hatte unterwegs irgendwo eine ihrer Einkaufstaschen stehen gelassen und war ins Sicherheitsbüro gekommen, um nachzufragen, ob sie vielleicht dort abgegeben worden war. Bob hatte gerade Bürodienst gehabt und sich auf den ersten Blick in sie verliebt. Noch nie im Leben hatte er solch wunderschöne Augen gesehen. Zum Glück hatte er den Stoffbeutel mit dem Karton unter dem Tresen hervorzaubern können, denn der war tatsächlich kurz vorher von einem ehrlichen Teenager abgegeben worden.
»Wie kann ich mich erkenntlich zeigen?«, hatte Mia mit einem Lächeln gefragt, das ihm den Rest gegeben hatte. Bob hatten schon den Finder nennen wollen, denn dessen Namen hatte er natürlich notiert. Er hätte später nicht mehr sagen können, was ihn geritten hatte, als er keck geantwortet hatte:
»Eine Kugel Eis im neuen Frozen würde durchaus genügen ... Frau Sandmann. Ich habe in zehn Minuten Dienstschluss. Kennen Sie das Frozen? Ich werde dort anrufen und einen besonders schönen Tisch reservieren.«
»Woher wissen Sie meinen Namen?«, hatte Mia erstaunt gefragt und ihn aus ihren großen blauen Augen angeschaut. Bob hatte auf die Einkaufstasche gezeigt. »Ein Kassenbeleg ... mit Ihrem Namen drauf. Ich musste doch nachschauen, was drin war. Hätte ja alles Mögliche sein können ... es sind im Übrigen ausgesprochen schöne Schuhe, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.« Seine Brust hatte zu zerspringen gedroht, so schnell hatte sein Herz geschlagen.
»Ich bin keine Terroristin, Officer«, hatte Mia charmant lächelnd geantwortet, »ich verdiene mein Geld mit ehrlicher Arbeit und genieße hier nur einen freien Tag, von denen es leider viel zu wenige gibt. Selbstverständlich kenne ich das Frozen ... und Eis mag ich auch.«
Sie hatten dann bis in den späten Abend hinein geredet und sehr viel gelacht. Obwohl sie inmitten einer weißen Landschaft mit Robben, Pinguinen, treibenden Eisschollen und Eisbären gesessen hatten, die von den Hologrammen perfekt in den Raum projiziert worden waren, war beiden immer wärmer ums Herz geworden. Irgendwann war Bobs Blick auf die Uhr neben dem Eingang gefallen und er hatte lachend festgestellt, dass er noch nie so lange für eine Kugel Eis gebraucht habe.
Ein halbes Jahr später wohnten sie schon zusammen und Bob Mayer fühlte sich immer noch wie im siebten Himmel.
Nach zwei gescheiterten Beziehungen, die in einem Desaster geendet hatten, fühlte er sich diesmal angekommen.
»Ja, es ist von ihr«, beantwortete er die Frage seines Kollegen mit vollem Mund und sagte dann kauend: »Olgas Platz ist immer noch leer«, und als keine Reaktion kam, »ich sagte, Olgas Platz ist immer noch leer, Richie, hörst du mir mal zu?«
»Ab einem Pfund wird´s undeutlich, kau erst mal fertig. Ich weiß, dass es keine Pfannkuchen gibt. Als wenn das wichtig wäre ... Junge, Junge, Bob, es gibt in dieser Welt auch noch was anderes als Pfannekuchen«, er sprach das Wort jetzt eher wie ›Pfannnnekuchen‹ aus, »... jetzt mach aber mal ´nen Punkt ... wie ich gehört habe, ist ihr Platz auch schon wieder vermietet ... kein Wunder bei der Lage. Jeder latscht dran vorbei. Irgend so ein Pizzabäcker versucht sich jetzt dort, hab´ ich gehört ... na ja, Futter geht immer. Wer verteilt hier eigentlich die Lizenzen?
Der kann doch nicht mehr alle Latten am Zaun haben! Muss es wieder so ein fettes, altmodisches Zeug sein? Unsere Fooddesigner reißen sich den Arsch auf ... ich kann das gar nicht fassen ... was manche Menschen sich antun ... du eingeschlossen ... übrigens stinkt der Käse entsetzlich. Stammt wohl aus dem letzten Jahrhundert«, erwiderte der Angesprochene mit einer Miene, die wohl Abscheu ausdrücken sollte, und fuhr im gleichen Atemzug begeistert fort: »Hast du die scharfe Braut im Frozen schon gesehen? Bedient seit zwei Tagen da. Rote Haare ... und auch sonst genau meine Kragenweite, wenn du weißt was ich meine«, und übergangslos mit einem Blick auf seinen Bildschirm, auf dem gerade eine neue Schlagzeile erschienen war, »Mann, Wahnsinn, hast du das gelesen? Pete hatte schon wieder zwei Home Runs in einem Spiel, einem Auswärtsspiel wohlgemerkt ... und ich war nicht dabei, Scheißsonntagsdienst, verflucht! Ein richtiger Teufelskerl ist das ... und garantiert die beste Investition der Tiger seit Jahren. Die hundert Mille haben sich mal gelohnt. Der Mann hat einen Schwung, unglaublich, so was hab ich noch nicht gesehen ... und ich kenne sie alle. Ich schwör´s dir ... es geht wieder aufwärts, Bob ... wir werden uns die Meisterschaft zurückholen. Das ist jetzt schon so sicher, wie deine Olga im Knast sitzt.« Der Übergang von Ekel zu Begeisterung war ihm nahtlos gelungen.
»Sag mal, hast du eigentlich auch noch was anderes als Baseball und Weiber in deiner Birne?« Bob biss erneut ein Stück von seinem Sandwich ab. Er erwartete keine Antwort.
»Wozu?«, grinste Richard. »Sind nicht die schlechtesten Themen ... jedenfalls besser als die, über die du dir Gedanken machst. Du tust ja gerade so, als seiest du mit Olga verheiratet.
Hast einen richtigen Narren an ihr gefressen ... Mann, Mann, Mann. Wenn das deine Mia erfährt, hahaha ... Mensch, Bob, nun halte aber mal den Ball flach, sie hat Drogen vertickt, die gute Frau! Hat wohl doch nicht nur Mehl verwendet ... hahaha ... clevere Tarnung, das muss man ihr lassen. Na ja, von Pfannkuchen allein wird man auch keine großen Sprünge machen können ... mit denen deiner Olga allerdings schon«, er lachte über seinen eigenen Witz.