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»Genau wie Malu«, dachte Effel, »sagt etwas und raucht dann erst mal ein Pfeifchen.« Als wenn Perchafta seine Gedanken gelesen hätte, deutete er auf die Tabakspfeife: »Es ist erstklassige Elfenarbeit, du findest nirgendwo eine bessere, das kannst du mir glauben.«
Die Schnitzerei war wirklich schön. Die Pfeife war aus Kirschholz gefertigt und das Mundstück aus Bernstein. Effels Gedanken kreisten um den Schlüssel, den er haben sollte, um seinen Entschluss.
»Nun, was überlegst du?« Perchafta sprach etwas undeutlich, weil er gleichzeitig rauchte. Aus dem Tonfall der Stimme glaubte Effel etwas Drängendes zu hören.
»Das weiß ich selbst nicht genau«, erwiderte er, »vielleicht wäre es gut, wenn ich mehr über diese Anderen Welten wüsste, bevor ich mich auf das Abenteuer einlasse.« Gleichzeitig wunderte sich Effel, wie schnell er es gelernt hatte, Perchaftas Stimme zu verstehen.
»Das weiß niemand, der diese Welten betritt, denn es gibt keine Karten davon, und wenn, könntest du nichts damit anfangen, denn eine Karte ist nie die Landschaft, die sie versucht darzustellen.
Außerdem können sich Landschaften verändern, Karten aber nicht. Dir bleibt also nichts anderes übrig, als selbst nachzusehen und dir dein eigenes Bild zu machen.«
Es war zum Verzweifeln, aus diesem Krull war anscheinend nicht viel herauszubekommen. Was Effel da noch nicht wusste war, dass die Krulls zu den weisesten Geschöpfen auf dieser Erde gehören. Solche Leute sagen nie viel und vor allem nicht das, was man von ihnen erwartet.
»Eines kann ich dir versichern«, fuhr Perchafta fort, »wenn du einmal eine dieser Welten betreten hast, wirst du immer wieder hineingehen wollen und teilweise lange dort bleiben, zumindest wird es dir so vorkommen. Für den guten Ausgang deiner Mission wirst du es tun müssen. Diese Welten, die ihr die »Anderen Welten« nennt, haben ihre eigenen Dimensionen.
Das Einzige, was ich für dich tun kann und darf, ist, dich auf dem Weg zu begleiten.«
»Wenn du mitgehst, ist es für mich bestimmt viel einfacher.« Effel war begeistert, er wäre nicht alleine und er hätte Hilfe. Das konnte er jetzt schon ahnen.
»Halt, nicht so stürmisch«, wurde er gleich gebremst, »meine Hilfe wird ausschließlich die Begleitung sein, anders, als du es erwartest, aber nicht ganz unwesentlich, wie du noch bemerken wirst.« Perchafta stopfte sein Pfeifchen mit einem winzigen Stein.
»Es genügt mir vollkommen, wenn du bei mir bist«, beeilte sich Effel zu versichern. Ein wenig peinlich war es ihm, dass er scheinbar nicht kapierte, was der Krull meinte.
»Gut, dann komme morgen wieder hierher, genau an diese Stelle.«
»Warum erst morgen und nicht sofort?« Effel fühlte sich nun sehr bereit.
»Wichtige Entscheidungen sollte man immer erst einmal überschlafen, Effel, schreibe dir das in dein Tagebuch, wenn du eines hast.« Dabei lachten seine Augen.
»Außerdem habe ich noch einige Besorgungen zu machen. Schlaf gut, denn es ist wichtig, dass du deine Reise ausgeruht antrittst.«
Perchafta war verschwunden, wie ein Blatt, das der Wind wegweht. Die Geräusche des Waldes wurden wieder deutlicher und die Konturen klarer.
Schlagartig wurde es Effel bewusst, wie lange die Begegnung mit Perchafta gedauert hatte, denn die Sonne schickte ihre letzten Strahlen für den heutigen Tag auf die Wipfel der Bäume.
»Komisch«, dachte er, »wo ist die Zeit bloß geblieben?«
Es würde jetzt bald dunkel werden. Deswegen war es an der Zeit, sich nach einer Bleibe für die Nacht umzuschauen. Ein Dorf war weit und breit nicht in der Nähe, das wusste er.
Gegessen hatte er heute auch noch nicht viel, das Abendessen würde wohl ausfallen. Er brauchte nicht lange zu suchen, denn er fand ganz in der Nähe einen geeigneten Platz unter einer mächtigen Ulme. Im nahen Bach wusch er sich und trank von dem klaren Wasser. Er war müde und hatte schnell sein Nachtlager bereitet. Dazu rollte er sein Schlaffell, in das er hinein kriechen konnte, auf dem weichen Waldboden aus. Aus dem Rucksack nahm er die Daunenjacke, die ihm als Kopfpolster diente, streichelte Sam noch einmal und war bald eingeschlummert.
Von gut schlafen konnte in dieser Nacht keine Rede sein.
Effels Traum war sehr lebhaft. Er träumte von Krulls, die einen roten Teppich ausrollten, um ihn in eine mysteriöse Welt zu locken. Alle rauchten schrecklich stinkende Pfeifen, die nichts anderes bezwecken sollten, als Effel zu betäuben, ihm seinen klaren Verstand zu rauben, ihm das Gefühl für die Realität zu nehmen. Und andauernd flüsterte ihm jemand ins Ohr, er müsse nur Vertrauen haben, alles andere käme dann von selbst. Als er hinschaute, war es sein kleiner Sam, der das sagte. Gleichzeitig hörte er sich aussprechen: »He, Sam, was machst du in meinem Traum?«
Fast im gleichen Moment verwandelte sich Sam in Malu, den Gaukler, der auf eine große Trommel schlug. Aus der Trommel kamen große, bunte Schmetterlinge, die alle in Richtung Sonne flogen.
Dann sah er eine Brücke, die über einen tosenden Wildbach führte. Am anderen Ufer war ein Tisch mit den herrlichsten Speisen gedeckt, an dem Krulls, Kobolde und Feen ein Fest feierten. Effel wurde hungrig und wollte gerade hinübergehen, als er einen alten einäugigen Mann am Anfang der Brücke sitzen sah, der ihn zu sich her winkte:
»Die Brücke ist nur für den Rückweg, der Hinweg ist schwieriger «, raunte der Alte ihm zu.
Was für ein Fest dort gefeiert werde, fragte Effel im Traum.
»Sie feiern die Ankunft Effels«, war die Antwort.
»Aber ich bin Effel und ich bin hier«, rief er laut ... und erwachte davon.
Er hatte den Eindruck, der Wald halle nach von seinen letzten Traumworten. Effel schaute aus seinem warmen Schlaffell in einen werdenden Morgen. Neben sich spürte er Sam. Er streckte seine Hand aus und streichelte den Hund, der ihm daraufhin mit seiner rauen Zunge die Hand leckte.
Er hatte sein Nachtlager unweit der Stelle eingerichtet, an der er Perchafta gestern begegnet war. Nun standen neben ihm ein Krug mit Milch, noch warmes, duftendes Brot, ein Stück Käse und zwei dicke, rotbackige Äpfel. Zu hungrig, um sich lange darüber zu wundern, warum die Ameisen sich nicht schon darüber hergemacht hatten, griff er zu und genoss gleichzeitig noch die Wärme seiner Schlafstätte. Dann stand er auf, entledigte sich seiner Kleidung und ging zum Bach, um sich dort zu waschen. Er nahm seine große Trinkmuschel, füllte sie mehrmals mit dem kalten Wasser und goss es sich über seinen Körper. Danach war er wach. Neben ihm stand der Hund und trank.
Auch er schien beschenkt worden zu sein, denn er sah satt und zufrieden aus.
Während Effel die paar Schritte zu dem vereinbarten Treffpunkt zurückkehrte, ging die Sonne auf und es versprach, wieder ein schöner Tag zu werden.
Perchafta erwartete ihn bereits und diesmal erkannte Effel ihn sofort. Er lehnte an einer Wurzel und lachte Effel entgegen:
»Aber ich bin Effel und ich bin hier«, imitierte er freundlich lachend die letzten Traumworte.
»Also habe ich es doch laut gerufen und ich dachte, es sei nur im Traum gewesen.«
»Nun, jedenfalls so laut, dass ich es bis hierher hören konnte, aber verlegen zu sein brauchst du deswegen nicht, im Gegenteil. Es ist ein schönes Zeichen, sehr symbolisch. Es ist eine gute Voraussetzung für deine erste Reise in die Anderen Welten. Ich sehe es dir an, dass du bereit bist.«
Effel fühlte sich heute Morgen sehr gut. Er wusste nicht, ob das an seinem lebhaften Traum lag, an den er sich in allen Einzelheiten erinnern konnte, oder ob das Frühstück sein Wohlbefinden verursacht hatte. Vielleicht war es auch einfach das Gefühl, dass jetzt seine Reise wirklich begonnen hatte.
»Zunächst möchte ich mich für das wunderbare Frühstück bedanken, Perchafta, es war doch von dir?«
»Direkt von mir war es zwar nicht, aber ich werde deinen Dank gerne weiterleiten, doch nun lass uns aufbrechen, Effel, der Zeitpunkt ist günstig.«
»Und du wirst bei mir sein?«, Effel war immer noch ein wenig skeptisch.
»Ich werde bei dir sein, auch wenn du es manchmal vergessen wirst.«
»Wieder so eine rätselhafte Aussage«, dachte Effel.
»Darf Sam mitkommen?«, fragte er.
»Sam wird hier bleiben müssen, er hätte ohnehin nichts davon. Vielleicht geht er währenddessen auf seine eigene Reise. Jedenfalls wird er dich hier bestimmt wieder erwarten.«
Perchafta winkte mit seiner kleinen Hand den Hund zu sich und flüsterte ihm etwas ins Ohr, woraufhin Sam sich niederlegte.
Dann schickte Perchafta sich an, tiefer in den Wald zu gehen, für Effel ein unmissverständliches Zeichen, dem Krull zu folgen. Vorher kniete er aber noch nieder, um Sam zu streicheln und ihm Lebewohl zu sagen. Dann beeilte er sich.
Seine Augen gewöhnten sich immer besser an den Krull. Er konnte ihn mühelos erkennen, wie er dort vorne sehr zielstrebig seinen Weg durch den dichter werdenden Wald fand.
Er hatte ihn bald eingeholt, denn Perchafta blieb immer mal wieder stehen. Er schien dann und wann mit einem Käfer zu plaudern oder er hielt an, um Ameisen vorüberzulassen. Er schien sich hier bestens auszukennen. Jetzt liefen sie nebeneinanderher und bald darauf, sie waren vielleicht 15 Minuten gegangen, kamen sie auf einer kleinen Lichtung an. In der Nähe musste eine Quelle sein, denn Effel hörte das Plätschern von Wasser. Sonst war es angenehm still im Wald. Eine Taube flog vorüber, ihr Flügelschlag verhallte.
In der Nähe eines kleinen Teiches, der von der Quelle gespeist wurde, ließ Perchafta sich nieder und deutete Effel an, es ihm gleichzutun. Es war am Fuße einer uralten Eiche. Gleich neben dem Krull war ein sehr bequemer Platz, mit weichem Moos dick gepolstert. Effel setzte sich.
»Machen wir jetzt schon eine Rast?«, fragte Effel.
»Nein, wir sind angekommen, hier ist heute der Eingang zu einer Welt, die ihr die untere nennt. Man könnte sie allerdings auch die obere nennen, aber lass uns nicht mit Definitionen aufhalten.«
»Hier? Ich kann nichts Besonderes erkennen.« Effel schaute sich nach allen Seiten um. Er hatte sich den Eingang ganz anders vorgestellt, irgendwie geheimnisvoller, mystischer.
»Das Tor ist nicht außen, es ist innen.« Perchafta hatte sich vorgebeugt, seine Stimme klang ein wenig leiser als sonst.
»Schaue nach innen, mein Freund, dort ist die Tür.«
Effel wurde ganz warm ums Herz. Perchafta hatte ihn »Freund« genannt und seine kleine Hand auf seine Schulter gelegt. Und da geschah etwas, was ihn vollkommen verblüffte. Der Krull strahlte eine solch lebendige Energie aus, die alles um ihn herum verblassen ließ. Eine wohlige Wärme floss zu ihm hinüber. Es war wie Magie, denn er entspannte sich auf eine unglaublich angenehme Art und Weise, sein Atem wurde ruhiger, die Augen fielen langsam zu, seine Muskeln schienen irgendwie weicher zu werden und er lehnte sich an den Stamm des Baumes an.
»Komisch«, dachte er, »ich bin noch nicht einmal müde, nur mein Körper scheint irgendwie willenlos zu werden. Was ist, wenn der Krull gar kein Freund ist?«, sprang es ihn aus seinem tiefsten Unbewussten an. Gleichzeitig war es ihm, als würde jemand in seinem Kopf über diesen Gedanken lachen. Dieses innere Zwiegespräch spielte sich jedoch nur am Rande seiner bewussten Wahrnehmung ab.
Das Plätschern der Quelle drang gedämpft in sein Bewusstsein und Perchaftas Stimme, sanft und weich, die ihm empfahl, sich einfach mehr zu entspannen, nach innen zu schauen, sich den Bildern hinzugeben, zu träumen - und dann war kein Denken mehr da. Er hatte sich inzwischen hingelegt, das hatte sein Körper irgendwie von ganz alleine gemacht.
Er sah sich, zunächst wie durch ein Kaleidoskop, in Mindevols Haus. Es war Winter. Das Feuer im Kamin verbreitete eine wohltuende Wärme in dem behaglichen Raum und an den kleinen Fenstern klebten Eisblumen. Effel saß am großen Ahorntisch, Hand in Hand mit Saskia, und rührte mit einem Löffel in seinem Tee.
Das Bild wurde klarer.
Vor ihnen auf dem Boden lag Sam und schlief, den Kopf auf Saskias Füssen. Effel liebte den würzigen Rauch des Tees. Mira, Mindevols Frau, war eine Meisterin im Zubereiten von Kräutertees und wohlschmeckenden Gewürzmischungen. Sie wusste, dass jeder Tee, jedes Gewürz und jedes Kraut auch Medizin waren, wenn sie zur richtigen Zeit in der genau bemessenen Menge eingenommen würden. Durch jahrelange Übungen hatte Mira sich das Wissen ihrer Großmutter, einer Zauberheilerin, angeeignet und inzwischen gab sie dieses Wissen in ihrer kleinen Heilkundeschule auch weiter. Das Auffälligste an Mira war ihr dickes, lockiges Haar, das sie immer mit einem farbigen, breiten Band zu bändigen versuchte.
Ihre Bewegungen waren geschmeidig und sie schien nie etwas unbewusst zu tun.
In der Runde um den Tisch befanden sich mehrere Dorfbewohner.
Soko, der Schmied, Sendo, der Korbmacher, Birja, die Lehrerin und Susa, Sokos alte Mutter.
All das sah Effel jetzt ganz genau, wie in einem Film. Mindevol saß in seinem behaglichen Ohrensessel und Minka, die wohlgenährte Lieblingskatze, schnurrte in seinem Schoß.
Ein Auge hatte sie immer wachsam auf Sam gerichtet, das andere geschlossen. So machte sie einen demonstrativ entspannten Eindruck, der sich in das Gegenteil verwandeln würde, wenn Sam ihr zu nahe käme. Sie traute einem Hundefrieden nie. Mindevol liebte das Gespräch mit Freunden um diese Zeit des Tages ganz besonders.
Obwohl Effel auf einer Waldlichtung lag und neben ihm ein Krull saß, konnte er sich in aller Ruhe die Bilder aus seiner Vergangenheit, die sich seinem inneren Auge zeigten, anschauen und gleichzeitig hörte er auch noch das gedämpfte Plätschern der Quelle, die in der Nähe war.
Neben Mindevol saß Malu auf einem Hocker und spielte bekannte Lieder auf seiner Gitarre, die er leise summend begleitete. Mira bediente ihre Gäste wie immer mit fröhlicher Gelassenheit. Mal goss sie Tee in eine der Tassen nach, mal brachte sie Gebäck. Sie wurde von den anderen mit der gleichen Dankbarkeit und Achtung behandelt wie ihr Mann. Es gab kaum jemanden in Seringat, dem sie nicht zumindest einmal durch ihre Heilkunst geholfen hatte.
Effel war überrascht, wie viele Einzelheiten er sehen konnte, und auch darüber, wie schnell Gedankenverbindungen zu den Bildern kamen. Er erinnerte sich sogar an die Tageszeit. Es war später Nachmittag, die Stunde kurz vor der Dämmerung, für Effel die behaglichste des Tages. Er hatte gerade zu Saskia gesagt, dass er morgen früh gleich nach den Beeten schauen wolle, als es klopfte. Malu, der der Tür am nächsten saß, legte sein Instrument beiseite und stand auf, um zu öffnen. Die Katze war mit einem leisen Mauen von Mindevols Schoß herunter gesprungen und mit einem für ihre Körperfülle unglaublich eleganten Sprung auf der Fensterbank gelandet. Ihr Schwanz zuckte nervös. Gleichzeitig war Sam mit gesträubten Nackenhaaren, leise knurrend aufgestanden. Alle Anwesenden schauten gebannt zur Tür, denn es war ungewöhnlich, dass jetzt noch jemand aus dem Dorf kam. Normalerweise war man mit Vorbereitungen für das Nachtessen beschäftigt.
Heute war der dritte Vollmond des Jahres und es würde - wie in jedem Monat - ein Fest im Dorfhaus geben.
Als die Tür offen stand, war das Erste, das Effel bemerkte, wie dunkel es draußen bereits war. Nur das Dorfhaus war hell erleuchtet und sein Licht brachte den Schnee auf dem Platz davor zum Glitzern, da, wo er noch nicht niedergetrampelt war.
Es hatte Ende März noch einmal viel Schnee gegeben. Man konnte die Leute aus dem Dorf geschäftig umhergehen sehen, sogar die weißen Atemwolken waren zu erkennen. Fast jeder trug irgendetwas in Händen, seinen Beitrag zum Fest.
Eine in einen dunkelgrauen Mantel gehüllte Gestalt trat in die Tür und versperrte damit den Blick auf den Dorfplatz. Sie blieb auf der Schwelle stehen. Nachdem sie die Kapuze zurückgeschlagen hatte und eingetreten war, erkannte Effel, dass es ein Mann war. Über seiner linken Schulter hing eine mächtige Armbrust. Malu hatte auf einen kurzen Wink Mindevols hin den Weg freigegeben und seine Hand lag noch um die Türklinge. Sein Blick ging zwischen dem Besucher und Mindevol hin und her.
Jetzt, im Schein des Feuers und der Kerzen, konnte man den Fremden besser erkennen. Seine Haut war von bronzenem Schimmer, ganz anders als bei den Menschen, die Effel bisher gesehen hatte. Sein Gesicht konnte man schön nennen. Er war groß gewachsen, Malu wirkte klein neben ihm. Er mochte um die 40 Jahre alt sein. Das Eis an seinem mächtigen Schnurrbart begann zu schmelzen und unter ihm bildete sich bereits Tropfen für Tropfen eine kleine Wasserlache. Das Auffälligste an ihm aber war, dass er schwarze Augen hatte und der Kontrast brachte das Weiß der Augäpfel fast zum Leuchten.
Kapitel 6
Professor Rhin war aufgestanden um Nikita zu begrüßen, und ging dann wieder hinter seinen Schreibtisch, nicht jedoch ohne ihr den Platz davor anzubieten.
Nikita musste innerlich immer schmunzeln, wenn sie dabei zusah, wie der Professor seine zwei Meter Körpergröße in dem Schreibtischsessel zusammenfaltete.
»Nikita, ich hätte Sie nicht so schnell hergebeten, wenn es nicht außerordentlich wichtig wäre«, eröffnete er das Gespräch noch im Hinsetzen. »Wir brauchen jemanden für eine besondere Aufgabe und ich will direkt zur Sache kommen: Wir haben dabei an Sie gedacht.« Jetzt saß er.
»Sie sind sowohl körperlich als auch geistig in Topform. Was für die Durchführung dieses Auftrages aber auch Grundvoraussetzung ist, Sie sind wissenschaftlich auf dem Laufenden wie kaum ein anderer. Ich versichere Ihnen, dass es wohl nie wieder eine solche Gelegenheit für Sie geben wird, einen gewaltigeren Schritt auf der Karriereleiter zu machen. Ja, ich darf sagen, wenn Sie Erfolg haben, werden Sie in die Geschichte der Wissenschaften eingehen.«
Seine stahlgrauen Augen fixierten sie, als wolle er testen, wie sie auf solch eine Ankündigung reagierte.
»Selbstverständlich testet er mich, aber warum? Und warum trägt er so dick auf?«, dachte Nikita bei sich. Er ist die Kapazität auf dem Gebiet der Verhaltensbiologie. Seine frühen Arbeiten handelten von Stressoren und den unbewussten menschlichen Reaktionen darauf. Seinen Forschungen war die Entwicklung vieler segensreicher Medikamente zu verdanken, so konnte zum Beispiel die biologische Halbwertszeit des Cortisols, des Hormons, das beruhigend auf den Hypothalamus wirkt, von 90 Minuten auf vier Stunden verlängert werden. Professor Rhin hatte drei Doktorate und 43 Ehrendoktorate. Er war Mitglied in mehreren Duzend der renommiertesten wissenschaftlichen Vereinigungen. Er hatte seinen internationalen Respekt nicht nur für seine wissenschaftlichen Errungenschaften erhalten, sondern auch durch seinen Einsatz im praktischen Umsetzen seiner Arbeiten. Seine Bücher waren Bestseller.
Komisch, dass sie sich jetzt in diesem Moment daran erinnerte. Aber Verhaltenspsychologie war auch ihr Lieblingsfach gewesen. So gelang es ihr, ihre Gesichtszüge entspannt aussehen zu lassen und den Professor auch weiterhin direkt anzublicken.
Ihre Füße konnte er von dort aus nicht sehen, sonst hätte er bemerkt, dass ihr linker übergeschlagener Fuß nach oben zuckte. Ihr selbst aber fiel es auf und sie fand im gleichen Moment die These bestätigt, dass der Körper nicht lügen kann.
Was er aber bemerkte war, dass sie immer noch hoch atmete, deshalb fuhr er fort, indem er sich zurücklehnte:
»Ich möchte Ihnen auch genauer erklären, warum unsere Wahl auf Sie gefallen ist. Möchten Sie etwas trinken?«
War er ihr anfangs ziemlich steif vorgekommen, so fand er jetzt zu seiner gewohnten Lockerheit und Umgänglichkeit zurück.
Genau das, was Nikita an ihrem Chef so zu schätzen gelernt hatte. In den letzten Monaten ihrer Zusammenarbeit war eine Vertrautheit zwischen ihnen entstanden, die Nikita bei niemand anderem im Team sonst beobachtet hatte.
»Danke, einen Kaffee vielleicht, ich werde Alma Bescheid sagen. Möchten Sie einen neuen, Ihrer sieht kalt aus?« Im Kaffeetrinken wäre der Professor sicher Weltmeister geworden, wenn es solche Meisterschaften gegeben hätte. Nikita erhob sich, um bei Alma, der Sekretärin, das Gebräu in Auftrag zu geben.
Der Professor gehörte, was seine Arbeit anbetraf, sicherlich zu den fortschrittlichsten Menschen auf diesem Planeten. Aber in puncto Sekretariat, und hier im Besonderen das Kaffeekochen, war er bestimmt der Altmodischste. Er hatte auf einer eigenen Sekretärin bestanden und diese natürlich auch genehmigt bekommen.
Das ganze Institut amüsierte sich über diese Marotte und Alma liebte ihren Chef abgöttisch, aber platonisch.
Als Nikita sich wieder setzte, blickte ihr Chef von seinen Unterlagen auf und legte seine Stirn in Falten.
»Es handelt sich um eine Reise«, nahm er den Faden wieder auf, »um eine weite Reise mit ungewissem Ausgang und auch nicht ganz ungefährlich. Das kann und möchte ich Ihnen nicht vorenthalten.« Nikita beugte sich interessiert nach vorne. Der Professor hatte es spannend genug gemacht.
»Sagt ihnen das Projekt: Energie aus Myon-Neutrino-Feldern etwas?« Er hatte die Worte gedehnt ausgesprochen.
»Ja«, antwortete sie, »ich habe darüber gelesen. Es gab einen Forschungsauftrag, den meine Uni gerne bekommen hätte.
Wenn ich richtig informiert bin, geht es bei diesem Projekt um die Gewinnung von Strom und Licht direkt aus dem Äther. Aber das Projekt wurde doch wegen Undurchführbarkeit ad acta gelegt, obwohl es fast alle unsere Probleme lösen würde.
Ich war auf dem Jahreskongress meiner Universität und dort bei einem Vortrag von Dr. Wenstin, der sich wohl mehr als zehn Jahre lang mit dieser Materie beschäftigt hat, immerhin mit einem Stab von 15 fähigen Leuten und mächtigen Sponsoren im Rücken. Er meinte damals, man müsse dieses Projekt aufgeben, es würde nie möglich sein, eine solche Maschine zu bauen und man müsse sich jetzt wieder anderen Ideen zuwenden.
Ich erinnere mich noch ganz genau an seine Schlussworte: ››Weisheit kann auch bedeuten, zu erkennen, wann man auf dem
Holzweg ist‹.« Dabei ahmte Nikita Dr. Wenstins näselnde Stimme gekonnt nach. »Ich dachte damals noch: Eine teure Weisheit.«
»Das Projekt ›Myon-Neutrino‹ ist nicht gestorben und auch nicht ad acta gelegt, Nikita«, fuhr Professor Rhin fort.
»Man hat es Dr. Wenstin entzogen und es wurde ihm nahe gelegt, vor dem Kongress die Aussage zu machen, die Sie eben zitiert haben. Lediglich offiziell ist die Arbeit an diesem Projekt damit beendet worden, verstehen Sie?
Dr. Wenstin hatte ein Problem. Er konnte es nicht lassen, in seinem Bekanntenkreis und wer weiß noch wo mit seinen Forschungsergebnissen zu prahlen. Man musste befürchten, dass dadurch auch die Konkurrenz davon Wind bekommt. Wir waren also gezwungen, den Kongress einzuberufen, das Projekt öffentlich zu machen und im gleichen Atemzug auch zu begraben. Eine für uns sehr unangenehme Geschichte, obwohl er schon weit gekommen war.«
»Hatte Dr. Wenstin nicht erkannt, dass es falsch war, den Äthergedanken zu verdammen und durch das Prokrustesbett, einer für ruhende wie für bewegte Quellen und Beobachter gleich großen mathematisch konstanten Ein- und Zweiweglichtgeschwindigkeit zu ersetzen, nur weil man die Geschwindigkeit der Erde gegenüber dem Äther und die Einweglichtgeschwindigkeit nicht messen konnte?« Nikita erinnerte sich genau an die Veröffentlichung.
»Das stimmt, Nikita. In Analogie zu Luft und Schall«, dozierte Professor Rhin, »sah bereits die Äthertheorie des 19. Jahrhunderts in einem im Raum ruhenden Äther das Ausbreitungsmedium für elektromagnetische Wellen. Immerhin eine erstaunliche Leistung, wenn man bedenkt, unter welchen Bedingungen damals geforscht wurde. Auf den ersten Blick scheint der Äther, der kosmische Urstoff, mit dem Einzug der Relativitätstheorien Albert Einsteins in die Wissenschaft des 20. Jahrhunderts aus selbiger verbannt worden zu sein. Doch der Schein trügt. Denn bereits Einstein versuchte, den Äther über Quantenfelder wieder einzuführen. Früher beobachteten Philosophen zunächst die Natur und leiteten dann Gesetzmäßigkeiten aus den wahrgenommenen Phänomenen ab.
Soweit die Fortschritte in der Mathematik dies erlaubten, beschrieben sie als solche erkannte ›Naturgesetze‹ auch auf mathematische Weise. Seit Einstein gehen Naturwissenschaftler bei ihren Beobachtungen immer häufiger umgekehrt vor: Sie untersuchen die bereits formulierten Naturgesetze auf mathematische Weise, um aus ihnen ›Naturgeschehen‹ herzuleiten.