- -
- 100%
- +
Widersprechen reale Erscheinungen dabei den mathematisch gewonnenen Erkenntnissen, verliert dieser Teil unserer Realität gelegentlich seine Existenzberechtigung. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Erhält man Ergebnisse, die sich in der Natur so gar nicht wieder finden lassen, werden die mathematischen ›Rätsel‹ schlichtweg zum Bestandteil unserer Natur erklärt.«
Jetzt war Nikita in ihrem Element. Sie liebte philosophischwissenschaftliche Diskussionen.
»Haben sich nicht selbst schon Wissenschaftler der Antike Gedanken um den Äther gemacht? Und hat sich nicht sogar die Wissenschaft der Magie mit diesem Phänomen befasst? Was war mit dem fünften Element gemeint?«
»Das fünfte Element nannten manche Wissenschaftler, aber auch Philosophen, den Himmel, manche nannten es Licht, andere Äther.« Jetzt hatte auch der Professor Feuer gefangen und fuhr fort: »Im Äther finden wir die feinsten Eigenschafen der anderen Elemente ebenso wie das, was dem Äther selbst eigen ist. Dies ist auch der Grund dafür, dass in der so genannten niedrigen Magie oft der Äther überhaupt nicht erwähnt wird; man dachte, dass das Element selbst ohnehin auch die feinsten Essenzen in sich trägt. Dass aber der Äther auch Eigenständigkeit besitzt, erschien nur jenen, die sich in ihm verwirklichen konnten, erarbeitungswert.«
»Die Vier-Elemente-Lehre wurde doch auch von griechischen Philosophen weiterentwickelt. Platon ordnete meines Wissens jedem der vier Elemente einen regelmäßigen Körper zu.
Aristoteles wiederum gab den vier Elementen die Eigenschaften warm/kalt, trocken/feucht. Aristoteles fügte dann den Äther als fünftes Element, die so genannte Quintessenz, hinzu«, erinnerte sich Nikita jetzt wieder.
»Sicher«, bestätigte Professor Rhin, »vieles von dem, was wir heute wissen, verdanken wir der Vorarbeit mutiger Generationen von Wissenschaftlern. Dr. Wenstin war auf einer guten Spur, leider mit den erwähnten Nebenwirkungen. Inzwischen kann er nicht mehr angeben, denn er erlitt kurz darauf tragischerweise einen Herzinfarkt. Eine seltene Krankheit heutzutage.
Der Forschungsauftrag, den Ihre Universität so gerne bekommen hätte, kam von der Firma, für die Sie heute arbeiten, von BOSST. Sie können sich vielleicht vorstellen, dass es im Interesse eines Auftraggebers ist, solch ein Projekt geheim zu halten.«
Nikita konnte ihre Überraschung kaum verbergen.
»Oh ja, das glaube ich«, antwortete sie, »das Unternehmen, das ein Gerät oder eine Maschine entwickeln würde, mit deren Hilfe man Energie aus Myon-Neutrino-Feldern gewinnen kann, hätte wohl alles auf seiner Seite.«
»Das kann man so sagen«, Professor Rhin nickte, »und die Menschen, die sie bauen würden, auch. Es gibt in diesem Zusammenhang neue Erkenntnisse, Nikita, um die es in unserem Gespräch gehen wird.«
»Sie machen es spannend, Herr Professor, was soll ich bei dieser ganzen Angelegenheit für eine Rolle spielen? Wollen Sie mir etwa diesen Forschungsauftrag zutrauen?«
»Das ist nicht mehr nötig, Nikita. Das Verfahren gibt es nämlich schon. Es wurde bereits vor mehr als 1100 Jahren entwickelt.« Professor Rhin beobachtete Nikita hierbei genau.
Es kam nicht oft vor, dass Nikitas Mund vor Staunen offen blieb, jetzt aber war es so »Habe ich Sie richtig verstanden, dass es vor 1100 Jahren schon ein Verfahren gab, mit dem man einen Großteil der damaligen Probleme hätte lösen können? Und dass es dennoch nicht angewandt wurde?«
»Ja, das stimmt. Das kann aber mehrere Gründe haben. Ein Grund - man war technisch einfach noch nicht so weit, diese Maschine zu realisieren.
Oder man hielt es aus irgendwelchen, heute nicht mehr nachvollziehbaren Gründen nicht für opportun. Vielleicht wurde dem Entwickler auch zu wenig Geld geboten.
Oder, ganz einfach, die Pläne wurden ihm gestohlen.
Es wäre übrigens nicht die erste Erfindung, die des Geldes wegen zurückgehalten wurde. Schon in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts zum Beispiel war ein Automobilantrieb erfunden, der nur mit Sonnenenergie lief. Die Ölmultis zahlten dem Erfinder zehn Millionen Dollar dafür, dass er seine Erfindung in der Schublade ließ. Er nahm das Geld.«
»Wenn es nicht mehr nötig ist, dieses Verfahren zu entwickeln, was soll ich dann bei der ganzen Angelegenheit noch machen? Lassen Sie uns dieses Ding bauen, Professor.«
»Schön, wenn es so einfach wäre, Nikita«, sagte der Professor und lächelte.
»Das Verfahren wurde zwar entwickelt, Nikita, aber bisher nur theoretisch. Es gibt bislang lediglich die Pläne, also die Unterlagen für den Bau dieser Maschine. Wir haben die Pläne nicht, noch nicht, aber Sie sollen sie beschaffen. Sie sind gescheit, Nikita, Sie sind ausdauernd und nach unserer Meinung die richtige Frau für diese Aufgabe. Von ganz oben ist man auf Sie aufmerksam geworden, vielleicht freut es Sie, das zu hören.«
Der Professor hatte Nikita immer noch sehr genau im Visier. Verriet sie etwas?
Nein, sie schien wirklich keine Ahnung zu haben. Noch nicht einmal aus ihrem Unbewussten kam eine Reaktion.
»Was soll daran so schwierig sein, diese Unterlagen zu bekommen, ist nicht alles in den Archiven gespeichert? Warum wusste Dr. Wenstin das nicht?«, fragte Nikita, ohne sich durch die offensichtliche Schmeichelei besonders beeindrucken zulassen.
»Die Dokumente und Baupläne, wahrscheinlich in Form von Schriftrollen, befinden sich in dem Teil der Welt, zu dem wir offiziell keinen Zugang haben.« Jetzt war die Katze aus dem Sack.
»Das ist der Haken an der Sache, Nikita. Wenn wir eine Art diplomatische Anfrage stellen würden, bekämen wir die Unterlagen nicht. Wir müssen sie uns also auf einem anderen Weg beschaffen. Und dieser Weg sind unserer Auffassung nach Sie, Nikita. Wir glauben an Sie. Ein Mensch, der sich drüben schnell anpassen kann, wird nicht auffallen. Außerdem haben Sie das Wissen, die Unterlagen zu erkennen, wenn sie vor Ihnen liegen. Wir werden Ihnen die Arbeiten von Dr. Wenstin zur Verfügung stellen, lesen Sie sich ein. Was wir noch haben, erhalten Sie auf elektronischem Weg. Uns ist natürlich bewusst, dass wir damit bestehende Verträge verletzen, aber bedenken Sie den Wert, den diese Unterlagen bedeuten, Nikita.«
Nikita brauchte für ihre nächste Frage länger als sonst.
»Das hieße für mich«, fasste sie zusammen, »eine Reise von unbestimmter Dauer in ein Land, das ich nicht kenne. Wo soll ich mit der Suche beginnen, wenn ich drüben bin? Wenn ich überhaupt so weit komme. Die Menschen dort werden mir nicht gerade wohl gesonnen sein, wenn sie entdecken, warum ich da bin. Wie gefährlich schätzen Sie das alles ein? Und was meinen Sie mit anpassen?«
»Wenn Sie nicht besonders auffallen und es schnell geht, dürften Sie ziemlich sicher sein. Kontakt zu den Anderen müssen Sie natürlich aufnehmen, denn wir sind überzeugt, dass man drüben auch irgendwelche Aufzeichnungen, zum Beispiel in alten Bibliotheken, finden kann. Wir können Ihnen allerdings nicht mit einer Armee zu Hilfe kommen, das müssen Sie verstehen. Zu viel steht auf dem Spiel. Es darf auch nie ein Verdacht aufkommen, dass die Firma etwas damit zu tun hat.
Nichts darf von diesem Auftrag bekannt werden. Sie sind dort ganz alleine auf sich gestellt, Nikita, wir werden aber immer in Verbindung bleiben. Wir haben selbstverständlich Informationen über die Lebensweise in diesem Teil der Welt. Man kann sagen, sie ist so ziemlich das Gegenteil unserer eigenen.
Lesen Sie alles, was Sie über die Zeit vor der Industrialisierung bekommen können, dann wissen Sie in etwa, wie man dort lebt.«
»Also eine Reise in die Steinzeit?« Nikita konnte es kaum glauben. »Ich hoffe, Sie verstehen, Herr Professor, dass ich nicht gleich zusagen kann. Dazu brauche ich Bedenkzeit. Das muss ich mir erst einmal alles durch den Kopf gehen lassen.
Geben Sie mir wenigstens einen Tag Zeit, ich bitte Sie. Woher weiß man eigentlich, dass die Unterlagen drüben sind und nicht hier?«
»Weil sie nur drüben sein können. Unterschätzen Sie diese Zeit nicht, Nikita. Denken Sie doch nur an die griechischen Philosophen, die haben noch früher gelebt. In unserem Teil der Welt wurde zu der damaligen Zeit überhaupt noch nicht geforscht.
Einen Tag bekommen Sie, alles andere würde die Sache unnötig verzögern, Nikita. Ich gebe Ihnen heute frei. Gehen Sie Golf spielen und treffen Sie die richtige Entscheidung. Ich möchte es noch einmal betonen, dass die Zeit drängt. Wenn die andere Seite auf irgendeine Art und Weise gewarnt wäre, würde das für Sie nur zusätzliche Erschwernis bedeuten.«
Der Professor sagte Nikita nicht, was genau er damit meinte.
Nachdem Nikita gegangen war, betrat Professor Rhin den kleinen Raum, der unmittelbar an sein Büro anschloss und den keiner seiner Mitarbeiter kannte. Nachdem sich die Tür hinter im geschlossen hatte, betätigte er einen Knopf und der Raum setzte sich zunächst langsam, dann schneller in Bewegung. Er glitt nach unten in die Tiefe der Erde. Die leuchtenden Zahlen an einer der Wände verrieten ihm den Fortgang seiner Fahrt. Schon nach ca. einer Minute erschien die Zahl 20. Er war angekommen und die Tür glitt auf. Vor ihm lag ein großer, achteckiger Raum, der beherrscht wurde von einer riesigen Leinwand und einem ebenfalls achteckigen Pult mit einem Durchmesser von acht Metern in der Mitte des Bereichs.
Professor Rhin nahm auf einem der Stühle Platz und betätigte mit sicherer Hand einen der vielen Schalter. Der Raum dunkelte sich selbsttätig ab und die Leinwand wurde heller, als die Silhouetten von acht Menschen dort sichtbar wurden. Sie schienen sich irgendwo an einem runden Tisch zu befinden. Mehr konnte der Professor nicht erkennen.
»Ich hoffe, Sie können uns Positives berichten, Herr Professor. Sie wissen, dass die Zeit drängt.«
Den Eigentümer der Stimme, die aus dem Lautsprecher kam, kannte Professor Rhin als Einzigen aus der Runde, persönlich.
Von den anderen kam ab und zu eine Frage oder ein Kommentar.
Außer Mal Fisher hatte er noch niemanden aus dieser dunklen Runde zu Gesicht bekommen, immer nur ihre Schatten. Das Einzige, was er aus seinen Beobachtungen wusste, war, dass es sich neben Mal um weitere vier Männer und drei Frauen handelte. Natürlich war im klar, dass die Acht nicht wirklich am gleichen Tisch saßen, sondern sich, von wo auch immer auf der Welt, an diesen virtuellen Ort projizierten.
»Es tut mir Leid, Sir, aber sie hat sich noch Bedenkzeit ausgebeten. Ich denke aber, sie wird es machen, sie ist ehrgeizig und liebt Herausforderungen. Ihr Persönlichkeitsprofil prädestiniert sie geradezu, wenn sie nicht sowieso schon aus anderen Gründen die Richtige wäre.«
»Sie können ganz offen reden, Ted. Wir alle wissen, dass Frau Ferrer die Einzige ist, die eine Chance hat. Sie muss einfach zusagen. Der Tatsache, dass wir heute alle versammelt sind, entnehmen Sie bitte nochmals die Dringlichkeit der Angelegenheit, aber das brauche ich Ihnen sicherlich nicht noch einmal zu sagen.«
»Ich bin mir durchaus der Tragweite dieser Aufgabe bewusst, Sir, deswegen habe ich auch nur einer kurzen Bedenkzeit zugestimmt.«
»Nun, Sie wissen sicherlich, was Sie tun, aber allzu viel Zeit bleibt nicht. Wir haben Meldungen darüber, dass die andere Seite gewarnt ist und ihrerseits bereits Vorkehrungen trifft. Es darf nichts schief gehen.«
»Das wird es auch nicht, Sir«, Professor Rhin strahlte Ruhe aus.
»Ich bin mir sicher, dass es Frau Ferrer schaffen wird.«
Kapitel 7
Mit einer wohlklingenden, tiefen Stimme sagte der Fremde: »Guten Abend«, während er seinen grauen Umhang, der aus Wolfspelzen bestand, zurückschlug. Effel wunderte sich nicht mehr darüber, dass er auf der kleinen Lichtung, auf der er lag, sogar den Klang der Stimme genau erinnerte.
»Ich habe eine sehr lange Reise hinter mir, auf der Suche nach eurem Dorf. Mein Name ist Schtoll von Malewien«, stellte er sich Mindevols Gästen vor. Effel hatte noch niemals von einem Land oder Ort solchen Namens gehört, es musste sehr weit weg sein. Sam knurrte immer noch und Effel dachte bei sich, dass das Knurren seines Hundes etwas mit dem Wolfsmantel zu tun haben musste.
Mindevol war aufgestanden, um den Fremden zu begrüßen.
»Sei willkommen in meinem Haus, Schtoll, ich bin Mindevol. Ich hatte zwar erst morgen mit dir gerechnet, bin aber froh, dass du gut angekommen bist. Es ist gar nicht so einfach in dieser Jahreszeit, wo viel Schnee liegt und die Wälder oft unpassierbar sind, auch wegen der hungrigen Wölfe. Aber mit denen scheinst du dich ja auszukennen. Manchmal haben wir Schnee bis in den April und in diesem Jahr sieht es ganz danach aus.«
Dabei ging Mindevols Blick zwischen Mantel und Armbrust hin und her.
»Setz dich zu uns und trinke erst einmal einen warmen Tee, der wird dir gut tun. Essen bekommst du auch bald, denn wir feiern heute den Vollmond. Du musst hungrig sein. Komm ans Feuer, du bist ja ganz durchgefroren.«
Effel war verblüfft, denn Mindevol hatte nicht erwähnt, dass er einen Gast aus einem fremden Land erwartete. Er erinnerte sich aber auch jetzt, dass er schon damals gedacht hatte, dass Mindevol ihm ja nicht alles sagen musste.
»Vielen Dank für den freundlichen Empfang, dann hole ich erst noch meine Sachen herein, wenn du erlaubst.« Man merkte kaum, dass der Besucher nicht in seiner Muttersprache sprach.
Er hatte lediglich einen leichten gutturalen Akzent. Schtoll legte die Armbrust ab und lehnte sie an die Wand gleich neben der Tür. Dann ging er nach draußen und kam sofort darauf mit einem großen Rucksack und einem Köcher voller Pfeile zurück.
Effel fragte sich, wie schwer die Waffe wohl sein mochte und der Jäger in ihm hätte sie am liebsten gleich einmal ausprobiert.
Alles in allem schätzte er das Gewicht von Schtolls Ausrüstung auf ungefähr 50 kg.
Malu nahm Schtoll den Umhang ab, um ihn zum Trocknen aufzuhängen. Wenn er über diesen Besuch überrascht war, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. Sam begleitete ihn, jetzt neugierig am Mantel schnuppernd, die Nackenhaare immer noch leicht aufgestellt. Der Gast ließ sich auf einem Stuhl neben dem Kamin nieder, nicht ohne einige beruhigende Worte an Sam in einer fremden Sprache zu richten. Es klang wie: »Wu echnar won.«
Der Hund beruhigte sich augenblicklich, kam zurück und legte sich unter den Tisch. Man konnte die Erleichterung des Mannes spüren, im Warmen zu sein. Stumm blickte er in die Runde und begrüßte die Anwesenden mit einem leichten Kopfnicken.
Effel gefiel der offene Blick, der Ruhe und Kraft ausstrahlte.
Dass der Blick des Besuchers besonders lange auf ihm ruhte, dem maß Effel keine Bedeutung zu. Mira brachte eine Tasse Tee, die Schtoll gerne annahm und er begann sofort, das heiße Getränk zu schlürfen. Dabei umschloss er die Tasse mit seinen Händen, um sie zu wärmen.
»Ich bringe euch Meldungen und Erkenntnisse, die uns alle betreffen«, sagte er. »Ich bin einer von denen, die vom Rat des Südens geschickt wurden, die Nachrichten zu möglichst vielen Menschen unserer Welt zu tragen.«
Effel dachte noch: »Ist das wirklich schon vier Monate her, es ist so, als sei es gestern gewesen?«, als er einen sanften Druck auf seiner Schulter spürte.
Es dauerte eine kleine Weile, bis er die Augen aufschlagen konnte und Perchafta neben sich sitzen sah. Es war dessen Hand, die ihn von seiner Reise in die Erinnerung zurückgeholt hatte.
»Das war merkwürdig, Perchafta, wie lange war ich weg?« Effels Stimme war ganz belegt, sie schien ebenfalls weit weg gewesen zu sein.
»Merkwürdig ist es nur das erste Mal und es ist wirklich würdig, dass du es dir merkst. Ich freue mich, dass es so gut geklappt hat. Deine Reise hat vielleicht eine Stunde gedauert.
Du hast viele Bilder gesehen. Gib dir noch einen Moment Zeit, ganz hierher zurückzukommen. Wenn du magst, kannst du mir gerne später erzählen, was du gesehen hast. Wir haben ja noch den ganzen Tag vor uns.«
Perchafta war aufgestanden, um sich ein wenig die Beine zu vertreten und sein Pfeifchen anzuzünden, dabei schüttelte er leicht seinen Kopf, was aber Effel nicht bemerkte.
»Es ist wie träumen und doch anders«, meinte Effel, »es ist bewusster, irgendwie klarer und alles kam mir vor, als sei es erst gestern geschehen.«
»Es freut mich, dass dir diese Art zu reisen gefallen hat. Hierbei spielt Zeit keine Rolle, Effel. Du hast damit den ersten und entscheidenden Schritt getan.« Perchafta hatte sich wieder hingesetzt.
»Den ersten entscheidenden Schritt, welches wird der zweite Schritt sein?«
Er fühlte sich noch ein wenig zwischen den beiden Welten.
»Langsam, kehre erst einmal ganz zurück hierher und dann sehen wir weiter, außerdem beantworte ich nicht gerne zwei Fragen auf einmal«, lächelte Perchafta ihn an. »Der erste Schritt ist immer der entscheidende, denn jede Reise beginnt damit. Der zweite und alle nächsten sind dann nur noch eine logische Folge. Komm, Sam wird sicher schon warten.«
»Ja, mein guter Sam. Er ist der anhänglichste Hund, den ich kenne. Ich bekam ihn vor fast zwei Jahren von unserer Nachbarin geschenkt, als er noch ein Welpe war. Ihre Hündin hatte einen großen Wurf. Da sie wusste, dass ich ein Hundenarr bin, durfte ich mir einen Welpen aussuchen. Aber eigentlich habe nicht ich ihn ausgesucht, sondern er mich. Er kam als Einziger sofort auf mich zugelaufen, als ich den Hof betrat.
Sicherlich hat er sich kaum von der Stelle gerührt, an der wir ihn verlassen hatten.«
»Nun, dann sollten wir nachschauen, oder?«
Der Hund freute sich, als sei Effel eine Ewigkeit weg gewesen und steckte seinen Herrn mit dieser Freude an. Perchafta war vorsichtshalber ein wenig zurückgeblieben, aber Sam kam sehr behutsam mit dem Schwanz wedelnd heran, um ihn zu beschnuppern.
Es sah fast respektvoll aus. Gleich darauf sprang er wieder an Effel hoch. Nach dieser stürmischen Begrüßung machten sich die drei auf den Weg und kamen bald aus dem Wald heraus. Effel wandte sich an seinen Begleiter:
»Wie geht es jetzt weiter, Perchafta, wirst du mitkommen oder soll ich eine Zeit lang hier bleiben?«
»Ich denke, es schadet nichts, wenn wir ein wenig beisammen bleiben, damit deine nächsten Reisen in die untere Welt, wie du sie nennst, mit Begleitung stattfinden können. Zum Üben ist es ganz gut so, später wirst du mich nicht mehr brauchen.«
»Du meinst, ich werde irgendwann diese Art von Reisen ganz alleine unternehmen können, ohne Hilfe eines anderen?«
»Es wäre schlimm, immer auf jemanden angewiesen zu sein, findest du nicht?«
»So betrachtet hast du Recht«, meinte Effel, »aber vorhin hat es mich irgendwie beruhigt, dich neben mir zu wissen.«
»Anfangs ist es sogar besser, einen erfahrenen Begleiter zu haben, aber du wirst bald ohne mich auskommen. Ob ich dennoch bei dir bleibe, wird sich zeigen, es kommt auf den weiteren Verlauf deiner Mission an. Wir haben nicht auf alles Einfluss.«
»Kannst du mir ungefähr sagen, wie lange es dauern wird, bis ich auch alleine weiter kann?«
»Du hast es wohl sehr eilig«, Perchafta musste schmunzeln.
»Du kennst den Grund meiner Reise und wirst daher bestimmt verstehen, dass ich möglichst schnell weiter möchte.«
»Vergiss den Grund deiner Reise zunächst einmal und Zeit, Effel, ist das geringste Problem in diesem Fall. Außerdem, woher willst du wissen, dass es weiter weg geht, vielleicht passiert ja alles ganz in der Nähe. Wenn du nicht optimal vorbereitet bist, egal wie lange das dauert, kannst du deine Mission in den Wind schreiben. Und glaube mir, das war wirklich erst der Anfang. Für die Erfüllung deiner Aufgabe wirst du eine Fähigkeit benötigen, auf die ich dich mit dieser Art von Reise vorbereite, und ohne die du nicht das erreichen wirst, was du erreichen sollst.
Bis jetzt hast du nur Zugang zu dem Wissen und den Erinnerungen, die dein jetziges Leben betreffen und nur dir selbst gehören. Aber es wird wesentlich mehr als das vonnöten sein. Es gibt viele Ebenen der Erinnerung. Bei diesen Gegnern wirst du alles brauchen.«
»Komisch«, meinte Effel, »manchmal habe ich den Eindruck, ich selbst wüsste am wenigsten, was mich erwarten wird.«
»Nein, meine Feststellung habe ich lediglich getroffen aus Erfahrung als Reisebegleiter und aus der Kenntnis eurer Widersacher.
An einem positiven Ausgang deiner Mission bin ich mehr interessiert, als du vielleicht glaubst, denn sie betrifft uns doch letztlich alle. Was geschehen wird, weiß ich genauso wenig wie du. Deine Leute scheinen mit dir die richtige Wahl getroffen zu haben, das sagt mir mein Gefühl.«
Die Luft war frisch und klar und sie kamen gut voran. Sam lief voraus und Effel ging neben dem Krull her. Dabei brauchte er gar nicht langsamer zu gehen. Wie Perchafta es machte, mit ihm Schritt zu halten, erkannte Effel allerdings nicht, es schien ihn auch nicht im Mindesten anzustrengen. Die beiden sprachen nun längere Zeit nicht miteinander, Effel war einerseits mit seinen Gedanken beschäftigt und wollte andererseits Perchafta keine Löcher in den Bauch fragen. Dem Krull schien das nur recht zu sein. Ein paar Mal schon hatte Effel für Momente den Eindruck, als sei sein kleiner Begleiter mit den Gedanken weit weg.
Nach einer Weile gelang es ihm, sich mehr auf die Landschaft, durch die sie jetzt kamen, zu konzentrieren. Eine weich geschwungene Hügellandschaft lag vor ihnen, von mehreren kleinen Flüssen durchzogen. An den Ufern dieser Wasserläufe standen Pappeln, Birken und unterschiedlichste Sträucher, die weit über das Wasser ragten. Effel konnte Graureiher erkennen, die beinahe regungslos am Ufer standen und auf einen Fisch warteten. Das Gras wurde von einem leichten Wind bewegt, sodass es beinahe aussah wie die sanften Wellen des Meeres. In der Ebene weideten Pferde und Rinder. Auf einer Anhöhe lag wohl das Haus des Farmers.
Die beiden Wanderer blieben stehen, um den Blick, der sich ihnen bot, zu genießen. Nachdem Perchafta sich dann auf einen Grenzstein am Weg gesetzt hatte, meinte er:
»Welch eine Aussicht. Hörst du die Melodie des Windes und spürst du seinen Hauch auf deinem Gesicht? Riechst du den Duft der Gräser? Es ist wundervoll, nicht wahr? Dass es dies alles wieder gibt, zeugt von der Kraft der Natur. Kaum vorstellbar, dass es Menschen gab, die so etwas nicht achteten, ja sogar zerstörten. Und doch war es so.«
Perchafta hatte fast geflüstert, wurde nun aber wieder lauter:
»Dieser Blick ist das Einzige, was jetzt zählt. Weder Dein Auftrag ist in diesem Moment von Bedeutung noch das Ziel deiner Reise, das du sowieso nicht kennst. Nur das Jetzt ist wichtig und so ist es immer, nur das Hier und Jetzt ist wichtig. Das Leben findet im Hier und Jetzt statt, nirgend woanders. Die Menschen müssen alles in Zeit einteilen und sind mit ihren Gedanken dann entweder in der Vergangenheit oder in der Zukunft unterwegs, eine unsinnige Angewohnheit.«
»Warum«, fragte Effel, »ist es nicht wichtig, sich an die Vergangenheit zu erinnern? Die Gegenwart gäbe es doch gar nicht so wie sie ist, wenn nicht die Vergangenheit so gewesen wäre, wie sie war.«
»So meinte ich das nicht, Effel, mit dem was du sagst, hast du natürlich Recht. Was ich meinte, ist, dass die meisten Menschen mit ihren Gedanken in der Vergangenheit leben, vor allem dann, wenn sie dort schlechte Erfahrungen gemacht oder etwas Schönes verloren haben. Dann haben sie Angst davor, dass etwas Ähnliches noch mal passieren könnte. Und was passiert, wenn man Angst hat, das weißt du. Man ist nicht mehr offen, für das, was wirklich im Jetzt geschieht.«
»Das hat Malu auch oft gesagt, jedenfalls so ähnlich, und jetzt habe ich verstanden, was du meintest, Perchafta.«
»Genauso ist es mit der Zukunft«, fuhr der Krull fort. »Und das ist sogar noch viel blödsinniger, wenn man es genau betrachtet. Die Zukunft gibt es ja noch gar nicht und sie entsteht doch aus dem Hier und Jetzt. Wenn ich ganz bewusst im Hier und Jetzt lebe, nach den Naturgesetzen und in Harmonie mit mir und den anderen Geschöpfen, was kann da Schlimmes passieren? Wir erschaffen doch unsere Zukunft durch unsere Taten und Gedanken von heute. Es mag vielleicht etwas abgedroschen klingen, Effel, aber alle alten Schriften besagen, dass das Rezept für ein vollkommenes Leben ein Leben im Hier und Jetzt ist. Es gilt, mit dem anzufangen, was gerade vor einem ist, den Problemen beim Hausbau, einer Partnerschaft, den Sorgen um die Kinder, Krankheit der Großmutter oder Überwindung der Ängste.«