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»Ja, das wird bei uns schon den Kindern beigebracht und es tut gut, es noch einmal so deutlich zu hören. Aber hat man das früher nicht auch schon gewusst? Und wenn ja, frage ich mich, wie es zu alldem kommen konnte, was schließlich in der großen Katastrophe endete.«
»Sicher, Effel, das hat man gewusst und zu Anbeginn der Zeiten hat man es auch befolgt. Doch als die Gier begann, die Mächtigen zu beherrschen, lag es in ihrem Interesse, die Menschen die Wahrheit vergessen zu lassen. Man redete ihnen ein, sie seien die Herrscher über die Welt und sie könnten mit der Erde machen, was sie wollten. Das taten sie dann auch, aber zu welch einem Preis, einen den die Schwachen bezahlen mussten! Glaube mir, einer bestimmten Clique wurde kein Haar gekrümmt, sie haben alle überlebt, oder fast alle. Aber das weißt du ja, du wärst ja sonst nicht hier.«
»Wenn dieses Wissen auch früher schon vorhanden war«, meinte Effel, »dann ist Wissen allein demnach keine Garantie für rechtes Handeln.«
»Schön wäre es, Effel, dann hätten wir jetzt jedenfalls Zeit und Muße für schönere Dinge. Ich wäre bei meiner Familie, könnte lesen und all die Dinge tun, die das Leben lebenswert machen.«
»Aber was ist mit dem Ewigen Vertrag, wurde der nicht geschlossen, um den Überlebenden die Möglichkeit zu geben, das Leben zu wählen, das sie für richtig hielten?«
»Effel, nichts was Menschen machen, ist ewig. Dieser Vertrag wurde geschlossen aus der Not der Stunde, also nicht ganz freiwillig. Man brauchte einfach Zeit, denn man hatte den Lauf der Dinge unterschätzt. Jetzt ging es erst einmal darum, sich zumindest einen Teil zu sichern. In der Geschichte der Menschheit sind die meisten Verträge gebrochen worden. Wir Krulls kennen zum Beispiel gar keine Verträge. Wenn ein Krull in etwas einwilligt, dann genügt sein Wort. Das ist dann für ihn und seinen Clan bindend. Aber ist es bei euch Kuffern inzwischen nicht ähnlich?«
»Doch, bei meinem Hausbau habe ich mit dem Nachbarn, der mir das Holz lieferte, auch alles per Handschlag erledigt. Und so wird es immer bei uns gemacht. So lange ich mich erinnern kann, war es nie anders.«
»Na siehst du, ein Teil der Menschheit hat etwas gelernt. Das Wort eines Mannes muss reichen, das ist doch Vertrag genug. Ich hoffe, dass die Menschen mehr gelernt haben, als das. Das, was ihr die Große Katastrophe nennt, war nicht die erste ihrer Art. Es kam damals einiges zusammen. Genauer gesagt kamen drei Gruppen zusammen. Einmal die Wirtschaftsmagnaten, deren Gier keine Grenzen kannte, dann eine gewisse politische Klasse, deren Heil in der militärischen Aufrüstung lag, und schließlich noch die religiösen Fanatiker, die es für ihre Aufgabe hielten, eine Weltordnung nach ihren Wertvorstellungen nötigenfalls herbeizubomben. Eine wahrhaft unselige Allianz. Schlimm war es dann, als die Politik religiosiert wurde. Man machte den Menschen weis, im Auftrag Gottes zu handeln. So kam es, wie es kommen musste.
Die Menschen hatten irgendwann einfach nur noch Angst. Die Attentate häuften sich, die Kriege mehrten sich und in solchen Zeiten wurde der Ruf nach einer starken Händen immer lauter.
Und die gab es ja auch. Man versprach Schutz vor den Attentätern und lenkte so von den wahren Problemen ab.
Angst manipuliert am besten. Wenn ein Mensch von Angst erfüllt ist, wird er leicht zum Opfer jeder Art von Beeinflussung, weil er in diesem Moment die Verbindung zu sich selbst verliert. Was nicht gesehen wurde, oder gesehen werden durfte, war die Tatsache, dass auch die Täter Opfer waren, denn auch sie hatten Angst.
Menschen fügen anderen Menschen Schmerzen zu, wenn sie Angst haben. Je mehr Schmerzen ein Mensch einem anderen zufügt, desto größer ist die Angst in seinem Inneren. Solche Ereignisse, ihr nennt sie Katastrophen, hat es andererseits aber immer wieder gegeben. In den Zivilisationen aller Zeiten. Nach einer rasanten Entwicklung in Wissenschaft und Technik wurden die Menschen überheblich und überschätzten sich und ihre Fähigkeiten. Sie gingen an dem Plan vorbei. So bekamen sie, oder gaben sich selbst, egal wie man es sieht, eine neue Chance. Es sollte dadurch wohl die Spreu vom Weizen getrennt werden.«
»Du meinst also, die Menschen hätten sich selbst unbewusst in solch schlimme Situationen gebracht? Und letztlich auch mit dem Risiko, ganz vernichtet zu werden? Ich bin bisher davon ausgegangen, dass dies ein Schöpfer tut, ein Gott, der uns alle geschaffen hat und deswegen auch das Recht hat, uns zu nehmen, was er gegeben hat.«
»Meinst du, dass du die Schöpfung vom Schöpfer trennen kannst?«, fragte Perchafta.
»So gesehen, nein. Aber hat dieser Schöpfer nicht auch durch die Natur gesprochen? Hat er uns nicht auch durch sie zahlreiche Warnungen geschickt, die letztlich doch alle überhört wurden?«
»Man nannte sie Naturkatastrophen«, erwiderte Perchafta, »aber für die Natur war es ja keine Katastrophe, nur für die Menschen. Für die Natur war es eine Reinigungsaktion und für die Erde begann damals eine Neuordnung, die Erde strukturierte sich um. Das hat sie übrigens immer mal wieder gemacht, in riesigen Zeitabständen. Und vor einigen hundert Jahren war es eben mal wieder so weit. Kannst du dir vorstellen, Effel, dass deine Heimat einmal eine Insel war, und weißt du, warum sie das heute nicht mehr ist?«
»Ja, ich weiß das von Mindevol, der es übrigens ähnlich erklärt hat wie du, Perchafta. Durch die Verschiebung von Erdplatten, stimmts?«
»Genau, Effel. Weißt du übrigens, dass bei solchen Phänomenen wie Erdbeben, Flutwellen oder Stürmen kaum wild lebende Tiere ums Leben kamen? Nur Tiere, die von Menschen an Leinen oder in Ställen gehalten wurden?
Die Tiere haben die Zeichen, die solchen Ereignissen immer vorausgehen, besser deuten können und sich in Sicherheit gebracht.
Wirklich gelitten haben nur die Menschen darunter. Ich glaube aber, dass wir gar nicht so differenzieren müssen, Effel, denn wenn es diesen Schöpfer gibt, wovon ich übrigens auch ausgehe, dann ist dieser Schöpfer ja in Allem und gleichzeitig ist er Alles, also auch in euch Menschen, auch in dir, in Sam, in jedem Blatt, das hier wächst, in jedem Vulkanausbruch, in jedem Erdbeben und in jeder Flutwelle.«
»Aber warum hat die größte Katastrophe, das Seebeben im früheren Asien, gerade die ärmsten Länder heimgesucht? Ist die Natur, oder der Schöpfer, nicht immer gerecht? Wo war denn Gott da?«
Effel war gespannt, ob der Krull auch darauf eine Antwort wüsste.
»Glaubst du wirklich, dass der Schöpfer sich mit solch menschlichen Wertmaßstäben wie gerecht oder ungerecht messen lässt? Sagt ihr nicht auch, dass Gott unermesslich ist? Und was ist schon gerecht? Ist das nicht Sache des Standpunktes? Nein, Effel, ich glaube, er hat den Menschen in seiner Güte und Liebe wieder einmal eine Chance gegeben, einen Wink. Auch damals in Asien. Wenn er auch einen Zaunpfahl dazu genommen hat.«
Perchafta hatte Effels erstaunten oder auch fragenden Gesichtsausdruck durchaus bemerkt.
»Ja Güte, Effel, dadurch, dass er dieses Unglück dort hat geschehen lassen, wo es geschah, gab er den reichen Ländern Gelegenheit, sich zu besinnen und zu helfen. Das meine ich mit Güte. Das Seebeben geschah in einem der beliebtesten Urlaubsgebiete weltweit. Zu einer Zeit, da sehr viele Menschen aus allen erdenklichen Ländern dort ihren Urlaub verbrachten.
Er wählte für dieses Ereignis einen der höchsten religiösen Feiertage der Christen und die meisten Menschen der damaligen Industrienationen waren Christen. Durch diese Flut waren alle Länder durch ihre zahlreichen Opfer direkt betroffen.
Es entstand die größte weltweite Hilfsaktion aller Zeiten. Eine beispiellose Hilfe lief innerhalb weniger Stunden an. Auch logistisch eine Meisterleistung. Durch dieses Beben wurden die Menschen auf der Erde vereint, viele haben ihre Herzen geöffnet und viele wurden angeregt, über ihre Werte nachzudenken.
Außerdem bekamen Umweltschutz und Klimaerwärmung einen neuen Stellenwert. Die Welt war für einige Wochen vereint.
Was wäre wohl geschehen, Effel, wenn das gleiche Unglück in den reichen Ländern geschehen wäre? Der damalige Mittelmeerraum galt seit langem als besonders gefährdetes Gebiet, gerade für Erd- und Seebeben mit ihren furchtbaren Tsunamis.
Es hätte sich kaum jemand wundern können, wenn dort eine Flut gekommen wäre. Und Europa gehörte damals zu den reichen Gebieten der Welt. Ich sage dir, warum. Es wäre schon damals das Ende gewesen.
Denn die armen Länder hätten nicht in diesem Umfang helfen können, wenn überhaupt. Außerdem darfst du den religiösen Aspekt nicht vergessen. Die meisten Menschen in der Unglücksregion glaubten an ein Karma, also an eine Art Schicksal.
Dieser Glaube ermöglicht es einem viel eher, solche Dinge hinzunehmen, zu akzeptieren, als wenn man auf einen ungerechten Gott schimpft oder glaubt, für seine Sünden bestraft zu werden. Gott hat nie gestraft, das können die Menschen ganz gut selbst. Aber Religion ist ein Thema für sich, Effel, lass uns darüber ein anderes Mal sprechen, wenn du magst.«
»Ja gerne«, erwiderte Effel auf den Vorschlag, »lass uns darüber reden, auch über Schicksal, denn daran glaube ich auch.«
»Die Menschen haben dort gemeinsam alles wieder aufgebaut, schöner und sogar in relativ kurzer Zeit.«
»Ja, ich habe alles darüber gelesen, Perchafta. In unseren Geschichtsbüchern wird dies ja als größte Katastrophe der Menschheit ausführlich beschrieben. Es sollen weit mehr als 300000 Menschen den Tod gefunden haben.«
»Es waren mehr, aber viele wurden nie gefunden, weil das Meer sie mitgenommen hatte. Deswegen tauchten sie in keiner der offiziellen Listen auf, so steht es jedenfalls bei uns geschrieben. Der Schöpfer hat also auch damals ein Zeichen gesetzt und viele Menschen haben das auch verstanden. Sie haben gesehen und erkannt, dass die Welt eins ist, dass man sie gar nicht teilen kann. Sie hätten es auch ohne dieses Unglück wissen können, denn wenn sie aus ihren Satelliten auf die Erde geschaut haben, konnten sie keine Grenzen sehen.
Leider hat es nicht sehr lange angehalten, dann setzten sich wieder die individuellen Machtinteressen der einzelnen Länder durch. Schon zwei Wochen später diskutierten die Politiker über die großzügigen Spenden und missbrauchten dies sogar für ihre Wahlkämpfe. Aber auch schon während des Unglücks zeigten einige Menschen ihr wahres Gesicht. Ohne Rücksicht und Respekt wurden die Toten beraubt, Häuser, soweit sie noch standen, wurden geplündert. Kannst du dir vorstellen, dass es Leute gab, die einige Tage nach dem Unglück wieder dort Urlaub machten und aus ihren Liegestühlen die Aufräumarbeiten beobachteten? Also es kann niemand sagen, die Menschen hätten ihre Chancen nicht gehabt. Du siehst, Effel es musste einfach so kommen, wie es dann gekommen ist.«
»Interessant, dass du das alles auch als Chance betrachtest. Ich kenne jemanden, der sieht es ähnlich. Aber von welchem Plan sprichst du da, Perchafta?«
»Wenn die Menschen so weit sind, wird sich dieser Plan ihnen offenbaren. Komm, lass uns weitergehen.«
Am Nachmittag kamen sie an Kirschbäumen vorbei. Die Äste bogen sich schwer von den reifen Früchten. Stare, die sich an den Kirschen gütlich getan hatten, flogen verärgert auf. Sie würden später wiederkommen.
Perchafta brauchte nur eine Handvoll davon zu essen, um satt und zufrieden dreinzuschauen. Aber auch für Effel war genug da. Nach diesem süßen Genuss setzten sie sich unter den größten Baum und Effel hatte wieder nur einen Blick für die zauberhafte Landschaft.
»Komm, lass uns weitergehen«, meinte Perchafta nach einer Weile, »und erzähle mir von diesem Schtoll, Effel. Du hast doch eine Zeit lang mit ihm verbracht?«
Effel wunderte sich nicht mehr über das, was dieser Krull alles zu wissen schien, und erzählte.
»Schtoll wohnte damals im Haus des Korbmachers Sendo und dessen Frau Balda. Die beiden hatten genügend Platz, denn sie haben keine Kinder bekommen. Das Besondere am Hause Sendos aber ist eigentlich der Garten, den müsstest du mal sehen, Perchafta. Bei schönem Wetter sitzt Sendo bei der Arbeit zwischen all den bunten Blumen und unterhält sich mit den Bienen und den Schmetterlingen, so wie du vorhin.
Manche Leute halten ihn ja für schrullig, ich aber glaube, dass er einfach besonders ist. Man kann sich mit ihm gut unterhalten.
Nach dem Vollmondfest, bei dem sie sich gleich angefreundet hatten, hatte Sendo Schtoll eingeladen bei ihnen zu wohnen, solange er wolle. Da ja Winter war, hat Schtoll zunächst nicht viel von dem Prachtstück um das Haus seiner Gastgeber gesehen, sondern erst später, denn er blieb bis zum Mai.
Ich war mit Schtoll viel unterwegs, um ihm die Heimat zu zeigen. Bei unseren Wanderungen oder bei der Jagd hatte ich Gelegenheit, ihn näher kennen zu lernen. Er wies mich auch in den Umgang mit seiner Armbrust ein und ich bin ein ganz guter Schütze geworden. Schtoll beneidete uns um den Wildreichtum der Wälder, er war ein guter Jäger, wenn er auch noch nie im Schnee gejagt hat. Er war ganz fasziniert, wie einfach es zum Beispiel im Schnee ist, die Spuren zu verfolgen. Er hatte auch noch nie Schneeschuhe gesehen und wünschte sich, sie schon bei seiner Hinreise gehabt zu haben. Es war sicher eine enorme Leistung, ohne diese hilfreichen Geräte zu uns zu gelangen.
Sein Heimatland weit unten im Süden muss, seinen Berichten nach, karger, schroffer und sehr unwirtlich sein. Raue Winde und die Glut der Sonne hätten das Gesicht seines Landes geformt, meinte er einmal. Vor vielen hundert Jahren sei sein Land von riesigen Regenwäldern bedeckt gewesen, wie er wusste. Man konnte merken, dass er seine Heimat liebte wie ich meine. Er erzählte mir von einer langen Trockenheit, die einem großen Teil seines Volkes das Leben gekostet hatte. Das muss schrecklich sein und ich hoffe, sie haben inzwischen auch wieder Regen gehabt. Irgendwann werde ich ihn dort besuchen.
Als Sohn eines alten Fürstengeschlechts fühlte er sich für sein Volk verantwortlich und machte sich eines Tages auf den Weg, die Ursache für diese lang anhaltende Dürre zu finden. So kam er durch viele Länder und lernte deren Völker kennen. Das, was er von seiner Reise berichtete, war für mich unendlich interessant und es erinnerte mich manchmal an die Erzählungen meines Großvaters. Ich selbst war ja bisher nie weiter aus meiner Heimat herausgekommen. Aber das soll ja vielleicht jetzt anders werden.«
Kapitel 8
Aufgrund der Nachrichten Schtolls hielten Mindevol und andere es für erforderlich, die Ältesten aus den anderen Dörfern zusammenzurufen, um gemeinsam zu beratschlagen, was zu tun sei. Die Kuffer lebten in vielen, teilweise weit verstreuten kleinen und großen Dorfgemeinschaften. Früher hatten auch sie in monströsen, anonymen Städten gewohnt, die die ganze Erde überzogen hatten. Der Ältestenrat war die oberste Instanz, wenn es um die Regelung übergeordneter Angelegenheiten ging. Dorfinterne Dinge waren jeweils Sache des Dorfältesten oder eines gewählten Bürgermeisters. Die Versammlungen fanden an wechselnden Orten statt und diesmal war Seringat an der Reihe.
Die Zusammenkunft wurde für den April einberufen, in der Hoffnung, dass dann der Winter langsam zu Ende gehen würde.
Die Bewohner von Seringat freuten sich, bei diesem Ereignis die Gastgeber zu sein, obwohl schnell durchgedrungen war, dass es sich um eine sehr ernste Angelegenheit handelte. Die Einberufung des Ältestenrates war immer ein großes Ereignis, diesmal ganz besonders. Obwohl der Rat »Ältestenrat« hieß, waren seine Mitglieder nicht alle alt. Es waren verdiente Mitbürger, die jeweils in ihren Dörfern von den Mitbewohnern für die Dauer von zwei Jahren gewählt wurden, aber auch wieder gewählt werden konnten. Seitdem Effel denken konnte, war Mindevol Mitglied dieses Rates. Der Ältestenrat bestand aus vier Männern und vier Frauen. Das älteste Mitglied war Jelena aus Gorken, eine Frau von 92 Jahren und schon 20 Jahre lang die Vorsitzende der Ratsversammlungen. Bei Abstimmungen zählte ihre Stimme nur bei Stimmengleichheit doppelt.
Gorken lag an der südlichen Grenze des Landes, das die Kuffer bewohnten und es war für die alte Frau sicher eine anstrengende Fahrt gewesen, weil ja immer noch Schnee lag.
Den Besprechungen des Ältestenrates ging jedes Mal eine große Versammlung voraus, damit sich jeder anhören konnte, über was später beraten wurde. Auch war es Brauch, dass jeder der Anwesenden zu den Dingen seine Meinung äußern konnte, wenn er die Regeln der Versammlung einhielt, auch Kinder konnten ihre Meinung sagen.
Es war eines der wenigen Male, soweit Effel sich erinnern konnte, dass das Gemeinschaftshaus auf dem Dorfplatz von Seringat aus den Nähten zu platzen drohte.
An diesem Tag wollte jeder einen guten Platz ergattern. Es waren nicht nur Seringater da, sondern auch viele Leute aus den anderen Dörfern der Nachbarschaft. Die Meldungen hatten sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen, auch weil fast jeder Dorfbewohner Verwandtschaft in den Nachbargemeinden hatte. Das Feuer im großen Kamin hätte gar nicht zu brennen brauchen, die Halle wurde schon durch die Körper der Menschen schnell erwärmt. Einige Jungen waren sogar nach oben auf die Deckenbalken geklettert, was normalerweise verboten war. Niemand dachte heute daran, sie zurechtzuweisen. Die Jungen waren so mit Festhalten und gespanntem Zuhören beschäftigt, dass sie nicht bemerkten, wer sonst noch dort oben saß.
Der Ältestenrat residierte etwas erhöht auf einer kleinen Bühne auf Stühlen mit hohen Lehnen, die mit prachtvollen Schnitzereien verziert waren, und alle sahen sehr würdevoll aus.
Auch Schtoll saß dort oben.
»Zunächst einmal möchte ich mich bei unseren Gastgebern bedanken, die es ermöglicht haben, dass wir heute hier zusammentreffen können«, eröffnete Jelena die Sitzung. Dabei schaute sie zuerst Mindevol an und dann ließ sie ihren Blick lange über die anwesenden Zuhörer schweifen. Alle waren da, die meisten sogar in Ihren Festtagsgewändern. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können und jeder hatte das Gefühl, Jelena schaue nur ihn an. »Ich freue mich, dass ich bei euch sein kann, und ich freue mich auch, dass ihr in solch großer Zahl erschienen seid«, fuhr sie fort.
»Mein Dank gilt auch dir, Jussup«, sie deutete mit ihrer linken Hand auf einen Mann in der vorderen Reihe und lächelte ihm zu, »du hast mich in deinem schnellen Pferdeschlitten hierher gebracht. Zu Fuß hätte ich den Weg durch den Schnee wohl nicht mehr geschafft.«
Und dann an die Versammelten gerichtet: »Sehr warme Decken hatte er auch in seinem Schlitten.« Jussup lächelte verlegen, denn er wusste, dass jetzt alle Augen auf ihn gerichtet waren.
Jelena trug ein schlichtes, bis zu den Knöcheln reichendes, graues Wollkleid. Ihre schneeweißen Haare fielen über die Schultern wie ein Umhang. Ihr braun gegerbtes Gesicht verriet die Schönheit früherer Jahre und erzählte dem Betrachter von Freud und Leid eines erfüllten Lebens.
Der erste Redner war der Gast aus dem Süden. Schtoll berichtete den Versammelten, dass die Anderen sich ungeheurer Technologien bedienten, zu denen nach seinen Erkenntnissen auch die Beeinflussung des Klimas gehörte. So vermutete er, dass man seinem Volk den Regen regelrecht gestohlen und damit eine lange Dürre ausgelöst hatte. Das war zunächst einmal der Anlass gewesen, sich auf den Weg zu machen, um auch die Bewohner anderer Länder zu informieren.
Hier hörte er dann Ähnliches. Es war ihm schließlich gelungen, die Völker des Südens zu einem Rat zusammenzuschließen und dieser hatte ihn und andere mutige Männer auf die Reise geschickt, um andere zu warnen, aber auch um Mithilfe zu bitten.
»Wie ihr ja alle wisst«, legte Schtoll damals auf der Versammlung dar, »haben sich die Völker der Erde nach der Großen Katastrophe für zwei unterschiedliche Wege entschieden und dies in dem Ewigen Vertrag besiegelt. Der andere Teil der Menschheit geht weiterhin die Wege der Technik. 700 Jahre Entwicklung der Technik, man mag sich gar nicht vorstellen, was alles möglich geworden ist. Die Anderen sind davon überzeugt, dass ihr Weg zum Wohle aller ist. Das ist auch ihr Recht, so wie es unser Recht ist, auf unsere Art zu leben. Nun aber greifen sie nach mehr.« Unruhiges Raunen der Zuhörer erfüllte die große Halle.
Schtoll nannte den Weg der Anderen im Verlauf seiner Rede den »Machtweg«. Die Menschen in Effels Teil der Welt lebten mit der Natur in Einklang, so wie dies zu allen Zeiten von den Weisen empfohlen worden war. Schtoll, wie auch der Rat des Südens, befürchteten, dass alle Völker, die natürlich lebten, wieder unterdrückt und sogar vernichtet werden könnten.
Das alles hatte es schließlich schon einmal gegeben. Aber dann fuhr er fort: »Scheinbar überstürzen sich die Ereignisse, Freunde. Es geht nicht mehr nur um die Beeinflussung des Klimas, was ja an sich schon schlimm genug ist. Alles deutet darauf hin, dass die andere Seite dabei ist, den Ewigen Vertrag zu brechen. Wir müssen unsere Kräfte bündeln und uns auf unsere Stärken besinnen. Wir müssen zusammenhalten, denn unser aller Leben hängt vielleicht davon ab! Ich bin einer der Gesandten, die geschickt wurden, die Kunde zu allen Menschen unserer Welt zu tragen.
Ich sage euch, das Damoklesschwert hängt über uns! Es hat eine Zeit lang gedauert, aber wir haben Informationen, denen zufolge etwas Großes in unserem Teil der Welt verborgen ist. Das werden sie suchen.
Madmut, der große, alte Seher des Südens, hat schreckliche Visionen davon gehabt, was passieren würde, wenn die Anderen es stehlen könnten. Unser aller Existenz ist in großer Gefahr. Wir sind uns sicher, Freunde, die Anderen werden den Ewigen Vertrag brechen. Sie werden nicht mit einer Armee kommen. Dazu wären sie zwar in der Lage, aber auf eine kriegerische Auseinandersetzung werden sie es zunächst einmal nicht ankommen lassen. Sie wissen, dass auch wir nicht wehrlos sind. Wir glauben, dass sie ein oder zwei Leute schicken, die hier zunächst einmal suchen und, wenn möglich, das Gesuchte auch gleich außer Landes schaffen sollen.«
Es sei höchste Zeit, so sein Schlussappell bei der Versammlung, dieser unheilvollen Entwicklung Einhalt zu gebieten.
Hier und da war ein »Richtig« aus dem Zuhörerraum zu vernehmen »Dann spüren wir sie auf und werfen sie aus unserem Land!«, rief Soko, der Schmied. Dabei wirbelte er seine riesige Faust wild in der Luft herum, so als würde er jeden Moment zuschlagen wollen. Einige der Umstehenden lachten.
»Das wird nicht einfach sein«, erwiderte Schtoll ganz ruhig.
»Diejenigen, die kommen, werden kein Schild um den Hals tragen und ich bin mir sicher, dass die Verantwortlichen keine Schlafmützen schicken.«
Damit beendete er seine Rede.
Die meisten Leute von Seringat waren erschüttert, einige schüttelten ungläubig den Kopf und ein paar Leute weinten sogar. Dann trat Schweigen ein. Man lebte hier so weit weg von allem in seiner eigenen kleinen, heilen Welt, dass das Wissen um eine mögliche Bedrohung leicht verdrängt wurde.
Jeder ermaß für sich selbst die Tragweite des eben Gehörten. Es war für viele unglaublich. Sollte es wirklich Menschen geben, die aus dem, was passiert war, scheinbar nichts gelernt hatten und sogar bereit waren, den Ewigen Vertrag zu brechen?
Die Große Katastrophe und die darauf folgende Umsiedelung waren zwar schon lange her, aber Schtolls aufrüttelnde Rede verfehlte ihre Wirkung nicht. Jedenfalls galt das für die Mehrzahl der Anwesenden. Die Geschichten, die schon die Kinder in der Schule lasen und hörten, handelten von ihr, und wie es dazu gekommen war. Nie mehr dürfe es geschehen und es müsse alles getan werden, das zu verhindern, endeten diese Erzählungen immer. Und jetzt sollte es wieder soweit sein?
Das Leben hier war zwar nicht immer leicht, aber es war lebenswert und niemand wollte sich das wieder nehmen lassen.
Deshalb bewerteten die meisten Leute die letzte Katastrophe auch nicht negativ, obwohl sie damals so vielen Menschen das Leben gekostet hatte und es weltweit zu solch großen Veränderungen gekommen war. Mindevol sagte immer, die Menschen hätten zu allen Zeiten nur durch Leid gelernt und deshalb hatte alles so passieren müssen.
»In der Tat ist der Anlass so wichtig«, ergriff Jelena erneut das Wort, »dass wir zu einem Entschluss darüber kommen sollten, was wir tun können. Ich möchte aber gleichzeitig auch zu bedenken geben, dass wir uns von der Heftigkeit der Nachrichten nicht zu übereilten Entscheidungen hinreißen lassen dürfen. Weiß man denn schon etwas über den Zeitpunkt? Wann werden sie kommen, Schtoll?«