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Karl-Heinz Biermann
Gezeitenstrom
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Inhaltsverzeichnis
Titel
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Impressum neobooks
„Als wenn jemand sie hier abgelegt hat.“ Kriminalmeister Wagner blickte von seiner gebeugten Position über der toten Frau auf. Er hockte auf der Treppe, die zur Tür des Leuchtturms führte, rücklings lag die Tote auf den Stufen vor ihm. „Sie hat eine anständige Kopfverletzung“, rief er seinem Vorgesetzten zu.
„So, so, anständig.“ Kommissar Brandt zog seine Mundwinkel in die Breite. Er sah an der eisernen, runden Wand des Bauwerks entlang bis ganz nach oben. Dessen Spitze, da wo das Leuchtfeuer seinen Platz hatte, konnte er von hier unten nicht sehen, er schätzte den Turm auf über dreißig Meter hoch.
Er sah hinüber zu dem kleinen Haus, das zum Gelände des Leuchtturms hier auf der Südseite der Insel Pellworm gehörte. Das Turmwärterhäuschen nebenan vermutete er aber unbewohnt, weil er irgendwann irgendwo gelesen hatte, dass die Leuchttürme im nordfriesischen Wattenmeer, von Brunsbüttel bis oben nach List auf Sylt, allesamt ferngesteuert wurden, vielleicht sogar von Kiel aus, glaubte er zu wissen. Von dort kam er her, zusammen mit seinem Assistenten, eingesprungen, um Amtshilfe für die Kollegen der Husumer Kripo zu leisten, die ausnahmslos wegen Krankheit oder
Quarantäne nicht einsatzbereit waren. Die Abteilung ihrer Ermittlungsbeamten war wegen der Covid-19-Pandemie geschlossen worden.
„Wissen wir schon, wer die Frau ist?“, fragte er.
„Noch nicht, sie hat keine Papiere bei sich.“ Der Kriminalmeister hantierte zaghaft nur mit den Spitzen zweier behandschuhter Finger an der Toten.
„Wo sind wir eigentlich untergekommen?“ Ohne den Blick von seinem jungen Kollegen über der
Frauenleiche abzuwenden, sprach Kommissar Brandt den neben ihm stehenden einheimischen Polizei-beamten an.
Der reagierte auch sofort. „In Klostermitteldeich.“
„Nicht in Ostersiel?“ Der Kommissar merkte auf. In dem Ort wusste er die Polizeiwache der Insel, auf der sie am späten Vormittag angekommen waren, er und dieser junge Hüpfer von einem Assistenten, in dem er seinen Amtskollegen sehen wollte. Er hatte es schon vor einiger Zeit geschluckt, dass ihm dieser Schnösel zur Seite gestellt worden war.
„Leider nicht, alle Hotels haben wegen Corona dichtgemacht. Sie haben Glück, dass Sie von Amts wegen in einer Pension unterkommen.“ Der Inselpolizist hob seine Schultern. „Aber Pellworm ist nicht groß, gleich da drüben“, zeigte er in eine Richtung, in der ein halb verfallenes, aber sehr hohes Gemäuer zu sehen war, „dort neben der alten Kirche ist die Pension. Zwei Zimmer gibt’s dort für Sie.“
„Besser als jedes Mal mit der Fähre hin und her“, bemerkte der junge Kriminalmeister.
„Was heißt hier jedes Mal? Wie lange gedenken Sie den Fall hier zu bearbeiten?“, grantelte der Kommissar.
„Na, das sieht doch wohl nach Mord aus.“
„Und woraus schließen Sie das?“
„Mein Gefühl.“ Der junge Wagner richtete sich von der Leiche auf. „Es sagt mir mein Gefühl, dass es Mord ist.“ Penibel wischte er über seine Kleidung, nachdem er sich seiner Handschuhe entledigt hatte.
„Sie überraschen mich immer wieder.“ Kommissar Brandt wandte sich um. „Na denn, dann rufen Sie mal die Spurensicherung“, sprach er den Inselpolizisten an. „Das ganze Programm, Sie wissen schon, Sexualdelikt und so weiter. Wer hat die Tote eigentlich gefunden?“
„Ein Bauer von der Insel. Ich hab ihn dann gleich fortgeschickt, nachdem ich hier eintraf.“
„Sie haben aber doch schon den Namen und Adressen von ihm?“
Der Polizist nickte. „Sicher. Wo sollte er auch hin?“ Er zeigte einmal ringsum und dann auf die Leiche auf den Stufen des Leuchtturms. „Der war ganz schön geschockt.“
Der Kommissar und sein junger Kollege schauten sich für einen Moment stumm an.
„So, so“, brummte der Kommissar dann. „Und Sie, Wagner, erklären mir nachher gleich mal Ihr Gefühl. Aber zuerst sehen wir uns unsere Unterkunft näher an.“
2
„Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen.“ Genießerisch löffelte der junge Wagner von seinem gekochten Ei. „So kurz vor Ihrer Pensionierung müssten Sie doch total entspannt sein.“
Kommissar Brandt ließ ein knarziges „Ja, schon gut“ hören und schob ein paar Fotos über den Frühstückstisch hinüber.
„Die von der Spurensicherung waren aber flott“, bemerkte sein junger Kollege und schielte zwischen zwei Happen Ei auf die Fotos.
„Schmeckts Ihnen?“, fragte sein Vorgesetzter knapp. Er dachte daran, wie schlecht er geschlafen hatte; am liebsten wäre er gestern schon nach Kiel zurückge-fahren, heim in sein Haus, zu seiner Frau. Was soll’s, dachte er. Dies hier würde sein letzter Fall sein und sein Nachfolger saß ihm bereits gegenüber. Ganz sicher würden sie ihn zu seinem Nachfolger machen, auch wenn er ein paar Dienstgrade unter ihm stand.
„Zeigen Sie ihr die Fotos.“ Er deutete auf die Pensionswirtin, die gerade mit einer zweiten Kanne Kaffee den Frühstückstisch ansteuerte.
„Ist das die Tote vom Leuchtturm?“ Die Frau schien nicht sehr betroffen vom Anblick einer Leiche. Dann schaute sie noch mal auf eines der Fotos in ihren
Händen. „Das ist doch das junge Ding vom Bürgermeister.“
„Sie wissen, wer diese Frau auf dem Foto ist?“
Kriminalmeister Wagner schaute auf.
„Natürlich, das ist die Geliebte unseres Bürgermeisters.“
„Woher wissen Sie, dass der Bürgermeister eine Geliebte hat?“, fragte Kommissar Brandt und schnippte mit den Fingern nach den Fotos. Sein junger Kollege nahm sie ihm gleich wieder aus der Hand.
„Das weiß doch jeder hier auf der Insel“, sagte die Pensionswirtin spitz.
„Dann wissen Sie auch ihren Namen, wo sie wohnt.“
Die Pensionswirtin hob ihre Schultern an. „Eine Frau Nielsen, soviel ich weiß.“ Sie ließ ihre Schultern wieder fallen.
„Und … wo wohnt sie?“, fragte der Kommissar gelangweilt klingend noch einmal nach der Adresse der Toten.
„Sie kommt, soviel man hier weiß, aus Hamburg. Sie ist immer nur für ein paar Tage auf der Insel, dann fährt sie wieder aufs Festland zurück.“
„Der Bürgermeister – ist der verheiratet?“
„Selbstverständlich.“
„Weiß seine Frau von seinem Verhältnis?“
„Das müssen Sie Lina Olsen schon selber fragen“, reagierte die Pensionswirtin schroff.
„Lina Olsen? Ist das seine Frau? Ich nehme an, dass seine Geliebte nicht in seinem Haus wohnte, wenn Sie hierherkam?“
Die Pensionswirtin wischte mit einem Tuch über die Anrichte in der einen Ecke des Raumes.
„Sagen Sie nicht, sie wohnte hier in Ihrer Pension“, brachte sich Kriminalmeister Wagner dazwischen.
Kommissar Brandt schüttelte unwirsch mit dem Kopf. „Wo wohnt der Bürgermeister?“, fragte er die Frau.
„Uthlandstraße in Ostersiel, bisschen weiter als die Polizeiwache, finden Sie leicht.“
Der Kommissar leerte seine Tasse Kaffee. „Na, dann nehmen wir uns mal den Bürgermeister vor.“
Kriminalmeister Wagner kam augenblicklich von seinem Stuhl hoch, wischte sich im Stehen seinen Mund ab und warf die Serviette auf den Tisch.
„Sind Sie denn auch genügend satt geworden?“, spöttelte sein Vorgesetzter. Der Kommissar ging hinaus zum Dienstauto, die schnellen Schritte des jungen Kollegen hörte er hinter sch. „Lassen Sie die Angaben der Wirtin über die Tote von den Hamburger Kollegen bestätigen.“ Wie gewohnt setzte er sich ans Steuer, Wagner nahm auf dem Beifahrersitz Platz. „Übrigens, die von der Spurensicherung stellten DNA von der Toten auch in dem Haus neben dem Leuchtturm fest.“
„Und die genaue Tatzeit?“, wollte der Kriminalmeister wissen. „Ich denke, die haben wir doch sicher auch in den Unterlagen der Spurensicherung.“
„Tatzeit? Die Frau ist schwer gestürzt, wieso sprechen Sie dann von einer Tat?“
„Vielleicht ist sie doch vom Leuchtturm gefallen, vielleicht hat jemand nachgeholfen.“
Kommissar Brandt schüttelte nur stumm seinen Kopf.
„Haben wir nun eine Tatzeit?“, beharrte Wagner.
„Vorgestern, abends“, brummte der Kommissar.
„Und wann genau?“
„Schauen Sie sich die Unterlagen an, da, in der Mappe.“ Er wies nach hinten auf die Rücksitze.
Um die Mittagszeit waren die Beamten der Kieler Kripo wieder vor den Leuchtturm im Süden Pellworms gefahren, jeder schritt mit suchenden Blicken in eine andere Richtung. Kriminalmeister Wagner ging bis an den Deich und dann hinauf. Der Kommissar beobachtete ihn, als er dort oben nach allen Seiten spähte. Alle gleich, diese gegelten Typen mit ihren Drei-Tage-Bärten, dachte er, weniger Erfahrung als die
Alten, aber verbreiteten nichts als chaotischen Aktionismus. Auch der da passte perfekt in die heutige
Gesellschaft. Er sah, wie sein junger Kollege den Deich wieder herab kam und setzte seinen eigenen Weg um den Turm herum fort. Vor dem kleinen Leuchtturm-wärterhaus, dessen Tür am Vortag von der Spuren-sicherung versiegelt worden war, stießen sie wieder aufeinander.
Kommissar Brandt schaute zu den heftig im Wind flatternden Absperrbändern, die großflächig den Fundort der toten Frau sichern sollten. „Alle hier auf der Insel wissen von dem Verhältnis des Bürgermeisters mit seiner jungen Geliebten“, lamentierte er. „Nur nicht seine Ehefrau? Und sie weiß nicht, wo sich ihr Mann aufhält, wo er zu finden ist? Andererseits weiß sie jetzt von der Liebschaft ihres Mannes, so wie Sie die Frau damit konfrontiert haben.“
„Wenn sie es nicht bereits wusste“, wehrte sich der junge Wagner.
Der Kommissar schüttelte mit dem Kopf. „Ohne jegliches Feingefühl“, fuhr er fort. „Eigentlich gut für ihn, dass er nicht anwesend war, sonst wäre sie ihm sofort an die Gurgel gegangen. Lernt man so etwas heutzu-tage auf der Akademie?“
„Sie haben ihr ja aufgetragen, dass er sich auf der Polizeiwache melden soll, sobald er wieder zu Hause auftaucht“, ging der Kriminalmeister darüber hinweg.
Zu Hause. Der Kommissar führte sich vor Augen, dass nur noch wenige Tage bis zu seinem Abschied von der Kripo verblieben. Zu Hause. Ihm fiel auf, dass es mit der Zeit schwerer geworden war, über seinen bevorstehenden Abschied nachzudenken. „Sie lügt! Sie weiß es“, sprach er aus.
„Was weiß sie?“
„Na, wo ihr Mann hin ist. Auf dieser kleinen Insel wissen alle über alles Bescheid. Sie lügt!“
„Und woher nehmen Sie das?“
Der Kommissar stocherte mit seiner Fußspitze im Rasen vor dem Turm, als suchte er etwas. Er neigte sich leicht, schaute interessiert, als hätte er etwas gefunden, richtete sich dann wieder auf und ging ein paar Schritte weiter. „Das sagt mir mein Gefühl“, rief er seinem jungen Kollegen zu, der zurückgeblieben war. „Ich kann doch auch mal eins haben, oder?“
3
„Wussten Sie davon, dass der Bürgermeister eine Geliebte hat, oder besser gesagt, hatte.“
Der Inselpolizist schaute hinter seinem Schreibtisch auf. Kommissar Brandt und Kriminalmeister Wagner waren soeben in seine Dienststube gekommen. Er zuckte mit den Schultern. „Das ist kein Geheimnis, Herr Kommissar.“
„Und warum hatten Sie uns nicht gleich gesagt, dass die Tote seine Geliebte war, wenn Sie es denn wie alle anderen auch wussten, wie ich annehmen muss“, ging Kriminalmeister Wagner dazwischen.
„Ich hab sie erst gestern Abend anhand der Fotos, die mir die Spurensicherung daließ, als Frau Nielsen identifiziert.“ Der Inselpolizist schaute Beistand suchend nach dem Kommissar. „Ich hatte Ihnen die
Fotos ja gleich übergeben.“
„Und nicht gesagt, wer diese Frau war. Aber schon gut“, sagte dieser abwinkend. „Wo war Frau Nielsen untergekommen, wenn sie sich hier auf der Insel aufhielt?“
„Mal hier, mal da, sie bevorzugte keine bestimmte Ferienwohnung oder Pension. Sie war auch schon mal in der, in der Sie beide gerade sind“, sagte der Insel-polizist.
„Da lag ich heute Morgen mit meiner Vermutung
ja gar nicht so verkehrt“, griente der junge Kriminalmeister.
„Auf jeden Fall sollten wir jetzt endlich den Bürgermeister finden, er wird uns einige Fragen beantworten müssen“, befand Kommissar Brandt mit einem abfälligen Blick, mit dem er seinen Amtskollegen streifte.
„Und vielleicht auch Lina Olsen, seine Frau“, warf der Inselpolizist ein.
„Von ihr kommen wir gerade, wieso?“ Der Kommissar schaute irritiert.
„Weil auch sie einen Geliebten hat“, antwortete der einheimische Polizist süffisant.
„Wie bitte?“ Auch der junge Kriminalmeister sah ihn fragend an.
„Da tun sich aber Abgründe auf hier auf der Insel. Vielleicht wissen Sie, wo der Bürgermeister zu finden ist? Seine Frau konnte es uns nicht sagen. Hat der Bürgermeister neben seinem Amt noch einen Beruf? Geht er irgendeiner Arbeit nach?“, wollte Kommissar Brandt wissen.
„Nein, er macht das hauptamtlich. Er kommt zwar von einem Bauernhof hier, den betreibt aber immer noch sein Vater, Hinnerk Olsen.“
„Dann sollten wir dorthin fahren“, forderte Wagner. „Ich würde allerdings jetzt schon sagen, dass es Mord war, und wir haben eine Verdächtige.“
„Sie bleiben also bei einer Mordtat und haben die Frau des Bürgermeisters im Verdacht.“ Die beiden Beamten waren zusammen mit dem Inselpolizisten in den Dienstwagen gestiegen.
„Sie sind beide verdächtig.“
„So? Gleich zwei?“ Der Kommissar schaute kurz mit hochmütigen Seitenblick nach seinem jungen Kollegen und dann in den Rückspiegel. „Und was sagen Sie, Peters?“ Damit meinte er den Inselpolizisten hinten auf dem Rücksitz. „War der Bürgermeister erpressbar?“
„Ja, und sind hier demnächst irgendwelche Wahlen?“, flocht Wagner ein und fing sich erneut einen geringschätzigen Blick seines älteren Kollegen ein. Der Kommissar steuerte den Wagen soeben durch Tammensiel.
Frank Peters, der Inselpolizist, zog die Schultern hoch.
„Aber Sie können doch sicher sagen, wo sich der Bürgermeister mit seiner Geliebten zu ihren Schäferstündchen trafen?“, forschte Kommissar Brandt weiter.
„Soviel ich weiß, benutzten sie dafür das Leuchtturmwärterhäuschen“, kam die Antwort von hinten.
Die Kieler Kriminalbeamten schauten sich kurz an.
„Sicher haben Sie auch schon das Motiv für einen Mord.“ Der Kommissar sah wieder geradeaus und meinte seinen neben ihm sitzenden jungen Kollegen.
Der Kriminalmeister schüttelte mit dem Kopf. „Dazu ist es zu früh. Lassen Sie mich den Bericht der Spurensicherung lesen, ob die etwas Interessantes in dem Häuschen gefunden haben.“
„Reichen Sie ihm die Mappe rüber.“ Kommissar Brandt sah im Rückspiegel nach dem Inselpolizisten.
„Es sollten nicht mehr als zwei DNA zu finden gewesen sein.“ Der junge Wagner blätterte in den Unterlagen auf seinem Schoß. „Hier sind aber viel mehr festgestellt worden. Ich dachte, das Leuchtturmwärterhaus sei nicht mehr in Betrieb.“
„Sie glaubten wohl nur die DNA des Liebespaares zu finden? Was ist, wenn die Ehefrau des Bürgermeisters die beiden dort überrascht hat? Sie selbst sagten doch, dass Sie die Frau im Verdacht haben.“
Der Kommissar hatte den Dienstwagen jetzt bis an den Deich auf der Nordseite der Insel gesteuert. Langsam ließ er das Auto weiterrollen, die Straße verlief nun wieder ins Inselinnere.
„Ich sagte ja bereits, Pellworm ist nicht so groß“, ging der einheimische Polizist auf die zögerliche Fahrweise des Kieler Beamten ein. „Die Hauptstraße führt nur einmal ringsum.“
„Und die Häuser dort hinten?“
„Bauernhöfe und Ferienwohnungen in den Kögen, nur über unbequeme Wirtschaftswege zu erreichen“, erklärte Frank Peters.
4
Entgegen der herbeigehofften Annahme der Beamten gab es auf dem väterlichen Hof des Bürgermeisters und offensichtlich auf der gesamten Insel nicht die geringste Spur desselben, selbst der einheimische Polizist konnte das ihm bekannte Auto des Inselvorstehers ringsum nirgends ausmachen und so beendete Kommissar Brandt die Rundfahrt, nicht ohne immer wieder bis zu den Deichen hin Ausschau gehalten zu haben, ob nicht doch noch irgendetwas Verdächtiges in seine Augen kommen sollte. Bald führte er sein Tun ad absurdum; seine in die Eintönigkeit dieser ihm fremden Inselwelt hinausgeworfenen Blicke erschienen ihm völlig ohne Sinn.
Er dachte daran, noch mal zur Ehefrau des Bürgermeisters zu fahren, allein schon, um sie zu vernehmen und von ihr eine Speichelprobe zum Zweck der DNA-Analyse zu entnehmen. Diese müsste dann wiederum zum Festland geschickt werden, dachte er, oder die Spurensicherung kam von dort erneut hierher. Alles umständlich, dachte er weiter, alles verlängerte nur seinen Aufenthalt hier auf dieser Insel.
Aber so war es nun mal und mit einem knappen Blick sah er nach Wagner und stimmte insgeheim seinem jungen Kollegen zu. Es gab Motive zweier Verdächtiger: der Bürgermeister hatte sich seiner jungen Geliebten warum auch immer entledigt und war geflohen. Seine Ehefrau konnte aus Eifersucht gehandelt haben, obwohl sie selbst fremdging. Es konnte zu einem Streit gekommen sein, sie hatte dabei ihre Nebenbuhlerin auf der Treppe zum Leuchtturm zu Fall gebracht – dann wäre es immer noch Totschlag. Theorien, dachte er, alles Theorien, ein ganzes Berufsleben lang immer dieselbe Denkweise, bis die Fälle aufgeklärt waren – oder auch nicht. Er wollte nicht weiter darüber sinnieren, dass es auch solche gab, die bis dato nicht zu Ende gebracht worden waren.
Aber bald war sowieso Schluss. Er sah wieder nach seinem Amtskollegen. „Lassen Sie den Bürgermeister zur Fahndung ausschreiben“, brummte er.
„Das wollte ich eh vorschlagen.“ Der junge Kriminalmeister wandte sich nach hinten zum Inselpolizisten. „Das machen wir auf dem Computer in der Wache.“
„Vielleicht ist er auch nur mal rüber zum Festland.“ Der Kommissar stoppte den Wagen vor der Polizei-wache in Ostersiel. „Das lässt sich sehr leicht feststellen. Fragen Sie die Besatzung der Fähre, die erinnern sich bestimmt.“
„Falls er mit der Fähre rüber ist. Er könnte auch mit einem beliebigen Boot unbemerkt auf und davon sein“, entgegnete Wagner.
„So? Wie Sie meinen.“ Der Kommissar blieb am Steuer des Dienstautos, während die beiden anderen ausstiegen. Der Kriminalmeister schaute abwartend durch die noch geöffnete Beifahrertür nach seinem älteren Kollegen.
„Machen Sie das mal allein, da muss ich nicht dabei sein.“ Der Kommissar bedeutete ihm, die Tür zuzuwerfen. Dann wendete er den Wagen und während er die Straße befuhr, die rings um die Insel führte, nahm er den Hörer des Autotelefons und ließ sich mit dem Staatsanwalt in Husum verbinden, der daraufhin umgehend per Fax an die kleine Polizeistation auf Pellworm die Vornahme einer Speichelprobe bei Lina Olsen, der Frau des Bürgermeisters veranlasste. Ich brauche dafür keinen Computer, dachte Kommissar Brandt, und fuhr zurück zu seiner Pension in Klostermitteldeich, warf sich dort, so wie er war – nur die Schuhe hatte er vorher abgestreift – aufs Bett und gönnte sich einen Mittagsschlaf, wie er meinte, einen verdienten.
Am späten Nachmittag holte er Lina Olsen in Begleitung seines Kollegen Wagner und des Inselpoli-zisten ab und sie nahmen sie mit auf die örtliche Polizeiwache nur wenig weiter.
Eine Stunde später, nachdem ihr die Speichelprobe entnommen worden war, und zwar durch den jungen Kriminalmeister, der sich dazu förmlich aufgedrängt hatte – und Kommissar Brandt den Eifer seines Kollegen dabei kritisch beobachtete –, betrat ein Mann die Wache.
Ohne Umschweife stellte er sich als der Freund der Frau des Bürgermeisters vor und er sei als Vogelschutzwart tätig. Er wolle bezeugen, mit Lina Olsen den ganzen vorgestrigen Abend zusammen gewesen zu sein, bis kurz nach Mitternacht; zu diesem Zeitpunkt war nach Angaben der Spurensicherung die Geliebte des Bürgermeisters bereits tot.
Noch bevor der Kommissar darüber spekulieren wollte, wie der Mann da vor ihm so schnell an die
Information gekommen war, dass sie die Frau hier auf der Wache als Verdächtige hatten, fügte dieser hinzu, die komplette Stammgästeschaft des „Dorfkrugs“ in Tammensiel könne bezeugen, dass er und Lina Olsen den ganzen Abend über nicht ein einziges Mal die Wirtsstube verlassen hätten.
Dieses angebliche Alibi bedeute nichts für die beiden, brummte der Kommissar ihm zu, aber er wusste, dass dieses Alibi erst einmal saß, wenngleich er auch die Möglichkeit in Betracht zog, all diese Stammgäste der Kneipe dazu einzeln zu vernehmen. Er kam aber dahin, dass es, außer einem noch längeren Aufenthalt hier auf Pellworm, letztlich zu nichts weiterem führen würde. Den Verdacht auf die Frau des Bürgermeisters musste er fallenlassen.
Auch der junge Wagner hatte bei den Ausführungen des Vogelschutzwarts einige Male bedächtig genickt, wie der Kommissar ärgerlich an ihm feststellen wollte.
„Bleibt noch die Frage nach Ihrem Ehemann“, ließ er dennoch nicht nach. „Solange Sie mir nicht sagen wollen, wo er ist oder wann er zurückkommt, muss ich annehmen, dass sie beide“, der Kommissar zeigte dabei abwechselnd auf Lina Olsen und ihren Freund, „irgendetwas mit seinem Verschwinden zu tun haben.“
„Und solange er verschwunden ist, können Sie uns gar nichts“, erwiderte der Vogelschutzwart. „Sie haben nicht mal ein Indiz, geschweige denn einen Beweis dafür, dass wir ihn aus dem Weg geräumt haben sollen. Darauf wollen Sie doch abzielen, oder?“
Ein ziemlich abgekochter Kerl, dachte der Kommissar, und ob es hier auf der Insel einen Rechtsanwalt gäbe, sann er weiter, oder ob man hierfür aufs Festland musste. Sicher musste man es, dachte er, auf dieser beschissenen kleinen Insel gab es bestimmt keinen Rechtsverdreher, von dem man sich mit solch frechen Sprüchen versorgen lassen konnte.
„Sagen Sie mal“, und damit wandte er sich an Lina Olsen, die mit ihrem Freund, diesem Vogelschutzwart, bereits in der Tür stand, „wann haben Sie Ihren Mann vor seinem Verschwinden zum letzten Mal gesehen?“
Die Frau hielt inne, es schien, als sei es ihr lästig, noch mal aufgehalten worden zu sein. Doch dann war es so, als dachte sie nach.
„Bevor ich mit ihm“, sie wies mit dem Kopf zu
ihrem Freund, „in den ,Dorfkrug’ gegangen bin. Da war er schon losgezogen, wahrscheinlich zu seiner Schlampe.“
„Also am Sonntagabend.“
Die Frau nickte.
„Wann genau?“, wollte der Kommissar wissen.
Lina Olsen sah ihren Freund an, beide sahen sich an. „Gegen acht?“
„Ja, so gegen acht, da hab ich sie abgeholt“, bestätigte der Vogelschutzwart.
„Bei ihr zu Hause, nehme ich an. Ihren Mann haben Sie nicht gesehen?“
„Ja, wie sie es schon sagte. Was soll die ganze Fragerei, wir haben mit dem Arsch nichts zu tun“, raunzte der Vogelschutzwart.
„Halten Sie sich zu unserer Verfügung“, rief Kommissar Brandt den beiden nach und er sah, wie sie gleich einem sich umsorgenden Paar umarmend durch die Tür nach draußen verschwanden.
„Auf der Fähre hat ihn keiner gesehen“, konstatierte Kriminalmeister Wagner, als sie wieder ihrer Unterkunft in Klostermitteldeich entgegenfuhren. „Und alle bekannten Boote sind an ihren Liegestellen geblieben“, fügte er an.
„Wann wollen Sie das denn alles recherchiert haben?“ Mit spöttischem Seitenblick sah der Kommissar nach dem Beifahrersitz.
„Heute Nachmittag noch.“
„In so kurzer Zeit?“
„Schade, dass wir die beiden haben laufenlassen müssen“, ging Wagner darüber hinweg.
Sein Vorgesetzter stimmte ihm in Gedanken zu, wenn auch gereizt. Ja, verflucht.
„Immerhin haben wir jetzt ihre DNA“, bemerkte der Kriminalmeister. „Und wir sollten auch wieder mehr
in Richtung der toten Frau, dieser Frau Nielsen er-mitteln.“