Prozessmanual. Dialogisch-systemische Kindeswohlabklärung

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Neben konkreten Empfehlungen zur Prozessgestaltung von Kindeswohlabklärungen enthält das Prozessmanual auch Überlegungen zur Zusammenarbeit zwischen abklärenden Diensten und KESB während und nach der Durchführung von Abklärungen (Kapitel 4) und zur Dokumentation (Kapitel 5). Es wird abgerundet durch ein Glossar (Kapitel 6).
1.3 Adressatinnen und Adressaten des Prozessmanuals
Das «Prozessmanual. Dialogisch-systemische Kindeswohlabklärung» richtet sich an erfahrene Fachpersonen. Es soll Fachpersonen in Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (KESB), die für die Abklärung von Kindeswohlgefährdungen zuständig sind, ebenso unterstützen wie abklärende Fachpersonen in Fachdiensten (Sozialdienste, Kinder- und Jugenddienste). Es soll ihnen dabei helfen, unter Einbezug des Kindes, seiner Eltern, weiterer Familienmitglieder und fachlicher Partner zu klären, welche freiwilligen Leistungen und/oder zivilrechtlichen Kindesschutzmassnahmen zum Schutz des Kindes oder Jugendlichen vor Gefährdungen seines Wohls ergriffen bzw. der KESB empfohlen werden sollen. Als formale Mindestqualifikation für Fachpersonen, die Abklärungen im Kindesschutz im Sinne dieses Prozessmanuals durchführen, betrachten wir einen Bachelorabschluss in Sozialer Arbeit – oder einer verwandten und für die Aufgaben des Kindesschutzes relevanten Disziplin/Profession – plus eine qualifizierende Zusatzausbildung, die spezifische Kompetenzen und Wissensbestände für Kindesschutz, Kindeswohlabklärungen oder Beratung bzw. Gesprächsführung in Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit vermittelt. Multiprofessionelle Zusammenarbeit bei Abklärungsaufgaben sowie in spezialisierten Abklärungsteams hat sich in verschiedenen Kindesschutzsystemen und -organisationen bewährt.
1.4 Grenzen und Leistungsvermögen des Prozessmanuals
Das Prozessmanual basiert auf der Annahme, dass Abklärungen von Kindeswohlgefährdungen in kontingenten – also ungewissen, mehrdeutigen und widersprüchlichen – Praxiskontexten realisiert werden, die nicht vollständig beeinflussbar, steuerbar und vorhersehbar sind (vgl. Alberth/Bode/Bühler-Niederberger 2010; Biesel/ Wolff 2014, S. 21ff.). Abklärungen können daher nicht in der Form eines One-best-way-Verfahrens angeleitet werden. Dies würde eine Abklärungspraxis unterstützen, die der Komplexität und Einzigartigkeit der Lebenssituationen von Kindern und Jugendlichen nicht gerecht wird. Die in den Schlüsselprozessen aufgegriffenen Aufgaben- und Funktionsbeschreibungen, die fachlichen Herausforderungen sowie die vor diesem Hintergrund abgeleiteten Empfehlungen zur Prozessgestaltung stellen insofern den Versuch dar, Fachpersonen bei der Bewältigung von Abklärungsaufgaben Orientierung zu bieten und sie anzuleiten.
Es liegt in der Verantwortung der abklärenden Fachpersonen, die für den konkreten Abklärungsprozess jeweils geltenden verfahrensrechtlichen Vorgaben zu berücksichtigen, wenn sie die Empfehlungen und Vorschläge des Prozessmanuals nutzen. Das Prozessmanual rechnet mit Fachpersonen, die seine Vorschläge und Empfehlungen bewusst und selektiv nutzen. Dazu gehört es auch, dass sie sich darüber im Klaren sind, ob sie eine Abklärung durchführen, die von einer KESB angeordnet worden ist und bei der die Verfahrensvorschriften des ZGB gelten, oder ob sie eine Abklärung durchführen, die Teil des Leistungsauftrags eines kantonalen oder kommunalen Fachdienstes ist (Kinder- und Jugendhilfedienst; Sozialdienst) und somit die jeweiligen Verfahrensvorschriften und Rahmensetzungen der kantonalen oder kommunalen Ebene gelten.
Die Wirksamkeit des Prozessmanuals hängt stark davon ab, wie es Fachpersonen und ihren Organisationen gelingt, die darin enthaltenen Vorschläge auf bereits vorhandene (inter-)organisationale Strukturen, Abläufe und Prozesse zu übertragen und in der Gestalt von Kooperationsvereinbarungen, Arbeitsanweisungen und Richtlinien zu implementieren. Desgleichen wird es erforderlich sein, für Umfeldbedingungen zu sorgen, die ein Handeln im dialogisch-systemischen Sinne möglich machen (vgl. Kapitel 2).
Das Prozessmanual ist nicht dafür konzipiert worden, die professionelle Autonomie von Fachpersonen mit Abklärungsaufgaben im Kindesschutz zu beschneiden. Es kann und soll die reflektierte Erfahrung von Fachpersonen nicht ersetzen. Es ist kein Kochbuch, in dem man Patentrezepte finden kann. Es enthält zwar Empfehlungen zur Prozessgestaltung, an denen man sich orientieren kann. Ihnen sollte aber nicht einfach unreflektiert und bedingungslos gefolgt werden. Vielmehr sollen sie unter Berücksichtigung des jeweiligen Abklärungsauftrags und des tatsächlichen Verlaufs des Abklärungsprozesses reflektiert angewendet werden. Sie sollen primär Orientierung bieten, zum Nachdenken anregen, dazu beitragen, dass Wichtiges nicht vergessen wird, und Handlungsoptionen aufzeigen, die möglicherweise aus dem Blick geraten sind. Sie sollen eine Erinnerungsstütze sein, der Vor- und Nachbereitung von Abklärungen im Kindesschutz dienen und professionelles Handeln unter Ungewissheitsbedingungen unterstützen.
Damit das Prozessmanual sachgerecht genutzt und in der Praxis umgesetzt werden kann, müssen folgende Bedingungen und Voraussetzungen erfüllt sein:
1 Fachlichkeit
Abklärungen im Kindesschutz werden von kompetenten und erfahrenen Fachpersonen durchgeführt (vgl. oben). Diese suchen aktiv den Austausch mit anderen Fachpersonen und Professionen innerhalb und ausserhalb ihrer Organisation – sei dies in Form kollegialer Beratungen, der Arbeit in Tandems, von Fallreviews, spezialisierten Abklärungen etc.
2 Ausstattung
Abklärende Fachpersonen sind auf Organisationen angewiesen, in denen genügend Ressourcen und Kompetenzen für die Gestaltung von Kindeswohlabklärungen vorhanden sind. Ausstattung, Strukturen und Abläufe, aber auch die Kultur einer Organisation können dialogisch-systemische Vorgehensweisen bei Kindeswohlabklärungen nachhaltig fördern – aber auch behindern. Die praktische Umsetzung der konzeptionellen und praktischen Vorschläge des Prozessmanuals hängt entscheidend von den infrastrukturellen Bedingungen wie auch von Kulturen der Zusammenarbeit und der Qualität der Kommunikation unter Fachpersonen innerhalb und ausserhalb abklärender Dienste ab.
3 Partizipation
Abklärende Fachpersonen pflegen eine Abklärungspraxis, in welcher der Kontakt und die Begegnung mit dem Kind, seinen Eltern, weiteren Familienmitgliedern sowie fachlichen Partnern aktiv gestaltet werden. Das dem Prozessmanual zugrunde liegende dialogisch-systemische Verständnis von Abklärungen im Kindesschutz basiert auf der Annahme, dass abklärende Fachpersonen nur zu begründeten Einschätzungen darüber gelangen können, was zur Sicherung und Förderung des Kindeswohls getan werden muss, wenn sie das Kind, seine Eltern, weitere Familienmitglieder sowie fachliche Partner an der Gestaltung des Abklärungsprozesses aktiv beteiligen und an ihren Überlegungen teilhaben lassen. Konkret sollen sie gemeinsam mit dem Kind, seinen Eltern, weiteren Familienmitgliedern sowie fachlichen Partnern zu einem Verständnis darüber gelangen, wie es zur Gefährdung des Kindeswohls gekommen ist und was getan werden kann, um diese abzuwenden. Hierfür sollten sie dialogisch, beteiligungsfördernd und aushandlungs-orientiert vorgehen.
4 Reflexivität
Abklärende Fachpersonen reflektieren und überprüfen ihre Vorgehensund Arbeitsweisen, ihre Eindrücke und Gefühle, ihre Vermutungen und Hypothesen fortlaufend. Hierfür nutzen sie unterschiedliche Reflexions-gefässe unter Beteiligung von Kolleg/innen sowie fachlichen Partnern, um neue Sichtweisen zu erhalten, Hypothesen zu korrigieren und auf Fehlinterpretationen aufmerksam gemacht zu werden. Sie sind offen für Kritik und offen für ein Lernen aus Fehlern; sie haben Interesse an alternativen Deutungen und Wahrnehmungen und sind dazu in der Lage, bereits geplante Vorgehensweisen und antizipierte Entscheidungen wieder infrage zu stellen, wenn neue Gesichtspunkte dies erfordern.
5 Verantwortung
Das Prozessmanual unterstützt abklärende Fachpersonen dabei, auf der Grundlage gesammelter Informationen und Eindrücke zu begründeten Einschätzungen darüber zu gelangen, welche Schritte notwendig sind, um das Kindeswohl zu sichern und zu fördern. Eine Bedingung für eine gelingende Anwendung des Prozessmanuals ist, dass geklärt und den abklärenden Fachpersonen während ihres Handelns im Abklärungsprozess stets präsent ist, wer in welchen Schlüsselprozessen wann und warum für die Realisierung welcher Abklärungsaufgaben verantwortlich bzw. zuständig ist und dass diesbezüglich aktiv die Verständigung mit anderen beteiligten Behörden und Diensten gesucht wird.
6 Dokumentation
Fachpersonen dokumentieren die Informationen, die sie im Abklärungsprozess in Erfahrung bringen bzw. einholen, zeitnah. Dabei unterscheiden sie zwischen eigenen Beobachtungen, Informationen des Kindes und der Familie, Informationen von Dritten, Interpretationen und Bewertungen. Sie gehen mit personenbezogenen Informationen sorgfältig und respektvoll um und dokumentieren nur solche Informationen und Einschätzungen, die für die Abklärungsaufgabe relevant sind. Dokumentationen sollen sicherstellen, dass Einschätzungen und Empfehlungen nicht willkürlich oder einseitig, sondern fundiert, nachvollziehbar und plausibel zustande kommen. Dazu ist es auch sinnvoll, festzuhalten, welche Informationen auf welchen Quellen basieren, zu welchen Schlussfolgerungen sie geführt und zu welchen Entscheidungen sie bei der Planung des Vorgehens veranlasst haben.
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Grundlagen und Praxisprinzipien
2.1 Grundlagen dialogisch-systemischer Kindeswohlabklärung
Von abklärenden Fachpersonen wird erwartet, dass sie zu zuverlässigen Einschätzungen des Kindeswohls und im Fall einer Kindeswohlgefährdung zu klaren Empfehlungen hinsichtlich angemessener Antworten kommen. Sie sollen gewissermassen Sicherheit und möglichst viel Eindeutigkeit herstellen – und dies in einem Feld, in das Ungewissheit und Unsicherheit unauflöslich eingeschrieben sind (vgl. Alberth et al. 2010). Ungewissheit ist für jede Abklärungspraxis im Kindesschutz kennzeichnend; zum einen, weil eine Gefährdung des Kindeswohls keine «beobachtbare Sache» ist, sondern die Bewertung eines komplexen Geschehens, das eingebettet ist in Eltern-Kind-Beziehungen und Familienbeziehungen; zum anderen, weil der Gegenstand der Beurteilung sich nicht in Handlungen oder Unterlassungen erschöpft, sondern deren in der Zukunft liegende Auswirkungen auf das Kind einschliesst (vgl. Kinderschutz-Zentrum Berlin 2009, S. 28ff.). Gleichwohl bleibt die Aufgabe bestehen, auf der Grundlage von Beobachtungen, Informationen und Deutungen plausible und nachvollziehbare Einschätzungen darüber vorzulegen, inwieweit das Wohl eines Kindes gesichert ist – und wie es nachhaltig gesichert werden kann.
Auf diese komplexen und widersprüchlichen Handlungsanforderungen gilt es, konzeptionelle Antworten zu finden, die abklärenden Fachpersonen Orientierung bieten, indem sie Zielsetzungen und Vorgehensweisen in einen plausiblen Zusammenhang bringen. Das «Prozessmanual. Dialogisch-systemische Kindeswohlabklärung» steht in der Tradition solcher Konzeptualisierungen von Abklärungspraxis im Kindesschutz. Es versteht sich als zeitgemässer Entwurf, der die von Forschung und Praxis gleichermassen vorgetragene Kritik an früheren Konzeptualisierungen aufnimmt. Es grenzt sich von einem alten investigativen und bestrafenden Kindesschutz ebenso ab wie von einem prozeduralistisch oder technologisch verkürzten (Department for Education 2011; Gilbert/Parton/Skivenes 2011a). Das «Prozessmanual. Dialogisch-systemische Kindeswohlabklärung» ist vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen in der internationalen Fachdiskussion, die der Beziehung, der Kommunikation und der Zusammenarbeit im Kindesschutz neue und erweiterte Bedeutung zuweisen, entwickelt worden (Calder/Archer 2016; Department for Education 2011; Featherstone/White/Morris 2014). Solch neuere Ansätze plädieren darüber hinaus für eine stärker an der Eltern-Kind-Beziehung ansetzende Kindesschutzpraxis und grenzen sich von Abklärungspraxen ab, die sich entweder auf die Eltern oder auf das Kind konzentrieren (Barlow/Scott 2010). Eine wichtige Grundannahme des im Prozessmanual verankerten Konzepts dialogisch-systemischer Kindeswohlabklärung ist, dass Qualität und Wirksamkeit im Kindesschutz zu einem erheblichen Teil durch die Qualität der Zusammenarbeit bestimmt werden und zwar insbesondere durch
die Zusammenarbeit zwischen Fachpersonen, Eltern und Kindern sowie
die Zusammenarbeit zwischen Fachpersonen und verschiedenen im Kindesschutz tätigen Organisationen (vgl. Amt für Soziale Dienste Bremen 2009; Jugendamt der Stadt Dormagen 2011).
Vor diesem Hintergrund nehmen Prämissen und Konzepte des Dialogs, des systemischen Arbeitens, der wachsamen Sorge und des diagnostischen Fallverstehens im Prozessmanual Schlüsselpositionen ein.
Kindeswohlabklärung als dialogischer Prozess
Im Konzept der dialogisch-systemischen Kindeswohlabklärung wird unter einem Dialog eine Interaktionsform verstanden, die nicht als gegeben vorausgesetzt werden kann (vgl. Bohm 1998; Isaacs 2002). Ein Dialog entsteht in Gesprächen, die geprägt sind von gegenseitiger Wertschätzung und Respekt. Vereinfacht gesprochen soll der Dialog einen offenen Austausch zwischen abklärenden Fachpersonen sowie Eltern und Kindern begünstigen, wobei der gemeinsame Gegenstand und Referenzpunkt das Wohl des Kindes ist. Der Dialog wird hier als Möglichkeit betrachtet, auch kontroverse und konfliktreiche Themen offen zu bearbeiten, mit denen bei Abklärungsprozessen im Kindesschutz zu rechnen ist. Eine dialogische (Gesprächs-)Haltung unterstützt einen Prozess, in dem abklärende Fachpersonen sowie Eltern und Kinder sich trauen, offen anzusprechen, was sie wahrnehmen, denken und fühlen. Sie will die offene und konstruktive Thematisierung unterschiedlicher Ansichten und Meinungen ermöglichen. Der Dialog will zwischenmenschliche Begegnungen anregen, die auf Augenhöhe stattfinden und wechselseitiges Verstehen ermöglichen. In einem Dialog werden Differenzen als gegeben angenommen. Die eigenen und die Annahmen der anderen werden hinterfragt, ohne die andere Seite anzugreifen oder zu widerlegen. Er ist darauf angelegt, gemeinsame Denkprozesse anzuregen und zu ermöglichen (vgl. Isaacs 2002, S. 44ff.).
Fachpersonen, die sich in der Abklärungspraxis am Dialog orientieren und versuchen, dessen Potenziale auszuschöpfen, wenden sich Kindern und Eltern zu, hören ihnen zu und interessieren sich für ihre Sichtweisen auf die Alltags-, Beziehungs- und Erziehungspraxis. Sie suchen aktiv das Gespräch mit ihnen und schaffen Gelegenheiten, die dazu geeignet sind, unterschiedliche Erlebens- und Sichtweisen, Bedürfnisse, Wünsche, Interessen und Motive der Beteiligten zur Sprache zu bringen. Sie gestalten Settings, die es möglich machen, unterschiedliche Wissensformen und Perspektiven (das Erleben des Kindes, die Erfahrungen und Glaubenssysteme der Eltern, das Fachwissen der Fachpersonen) und unterschiedliche Urteilsformen (subjektive Urteile, fachliche Urteile, normative Leitorientierungen, im Recht verankerte Normen) zu thematisieren und aufeinander zu beziehen. Sie gehen vorurteilsfrei, ergebnisoffen und risikoreflektiert vor, nehmen Differenzen und Meinungsverschiedenheiten wahr und gehen mit diesen produktiv um. Sie legen Rollen- und Machtunterschiede sowie Abhängigkeiten, Ängste und Sorgen offen, erkennen sie an und machen sie zum Bestandteil ihrer Arbeit. Sie ermöglichen Beteiligung und fordern diese ein und erhöhen damit die Chancen für Begegnung, Beziehung und Veränderung.
Dialogische Haltung
Das Konzept dialogisch-systemischer Kindeswohlabklärung plädiert für eine Gestaltung von Arbeitsbeziehungen auf Augenhöhe. Augenhöhe wird dabei verstanden als bildhafter Ausdruck für eine wertschätzende und von Respekt getragene Arbeitsbeziehung. Es ist Ausdruck einer dialogischen Haltung, wenn abklärende Fachpersonen normative Positionen in Bezug auf gewaltsame, verletzende und schädigende Erziehungspraxen und Beziehungsstile im Eltern-Kind-Verhältnis klar aufzeigen. Kommunikation auf Augenhöhe bedeutet in diesem Zusammenhang, dass über Grenzen des Tolerierbaren mit Respekt gegenüber der Person und Klarheit in der Sache gesprochen wird (wobei die Aufrichtigkeit und Transparenz als Ausdruck des Respekts gegenüber der Person verstanden werden kann). Mit dem Plädoyer für den Dialog wird also nicht einer Haltung das Wort geredet, die alles zur Disposition stellt und alles zum Gegenstand von Verhandlungen macht. Wenn abklärende Fachpersonen zu der Einschätzung kommen, dass das Wohl eines Kindes gefährdet ist, sagen sie dies den Eltern. Sie legen offen, auf welchen Beobachtungen ihre Einschätzung beruht, und erklären ihnen, inwiefern bestimmte Merkmale der kindlichen Lebenssituation für das Kind eine Beeinträchtigung oder Schädigung bedeuten. Sie laden sie dazu ein, gemeinsam mit den Fachpersonen über Hintergründe und Bedingungen der kindeswohlgefährdenden Zustände oder Ereignisse zu sprechen. Sie machen ihnen Mut, gemeinsam mit ihnen Schritte zur Veränderung zu überlegen, und unterstützen sie dabei. Sie erkennen an, dass es niemandem leichtfällt, Routinen oder Verhaltensweisen zu verändern. Sie erläutern den Eltern auch, welche Konsequenzen es haben kann, wenn sie sich gegen die Möglichkeit entscheiden, an den notwendigen Verbesserungen der Lebenssituation des Kindes mitzuwirken. Sie informieren Kinder und Eltern über ihre Rechte wie auch über die Kompetenzen und Handlungsmöglichkeiten von Fachdiensten und Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden. Sie informieren in einer verständlichen Sprache über die Voraussetzungen zur Beschränkung elterlicher Rechte und erörtern mit den Eltern deren Handlungsmöglichkeiten im Rahmen der durch das Recht definierten Grenzen (Restriktionen).
Fachpersonen, die in ihrer Abklärungspraxis versuchen, die Potenziale des Dialogs zu nutzen, stehen dabei vor der Aufgabe, Kommunikationsformen zu finden, die dem Kind und den Eltern entsprechen. Auch wenn beim Dialog zunächst an bestimmte kultivierte Formen des Sprechens gedacht wird – eine am Dialog orientierte Abklärungspraxis ist nicht ausschliesslich auf die geschliffene Sprache verwiesen; sie wird andere, auch nicht sprachgebundene Formen nutzen, gerade dort, wo es darum geht, die Sichtweisen von Kindern einzubeziehen (vgl. Biesel 2013). Abklärende Fachpersonen, die den Dialog als besondere Form sozialer Interaktion gewinnbringend nutzen wollen, achten deshalb darauf, dass sie in einer Sprache sprechen, die möglichst verständlich, alltagsnah und respektvoll ist.
Kindeswohlabklärung als systemische Intervention
Wichtige Grundlagen, Haltungen und methodische Zugänge bezieht das «Prozessmanual. Dialogisch-systemische Kindeswohlabklärung» auch aus dem systemischen Ansatz. Dabei handelt es sich weniger um eine klar abgrenzbare Theorie oder Handlungslehre, sondern eher um eine Tradition von Konzepten und Handlungsmodellen, die von gemeinsamen Grundannahmen ausgehen und Antworten auf grundsätzliche Herausforderungen in Beratung und Therapie zu geben versuchen (Levold/ Wirsching 2014, S. 9ff.). Sie sind inzwischen vielfach auch auf Aufgabenstellungen in der Sozialen Arbeit und der Pädagogik übertragen worden, bei denen es – ähnlich wie bei Beratung und Therapie – ebenfalls um das Anstossen von Reflexionen und das Ermöglichen von Veränderungen geht. Wichtige Grundannahmen des systemischen Ansatzes sind (vgl. Schlippe/Schweitzer 2012; Schmidt 2010; Simon 2014):
Menschen konstruieren ihre (sozialen) Wirklichkeiten selbst, indem sie Beobachtungen und Unterscheidungen vornehmen, das Beobachtete mit Bezeichnungen (Begriffen) versehen und dadurch einordnen.
Auf diese Weise stellen sie subjektiven Sinn her; sie erklären sich die Welt, nehmen Bewertungen vor und lassen sich von diesen Erklärungen und Bewertungen leiten.
Wie Menschen denken, empfinden und handeln, wird vor allem durch ihre Aufmerksamkeits-, Deutungs- und Bewertungsmuster bestimmt.
Was für einen Menschen wirklich ist, was er fühlt, denkt und tut, hängt von seinem Standpunkt und seinen Wirklichkeitskonstruktionen ab.
Was für einen anderen Menschen Realität ist und Bedeutung hat, was sein Denken und Handeln anleitet, lässt sich nur in der Kommunikation mit diesem herausfinden und klären; in solchen kommunikativen Austauschprozessen können sich die Beteiligten ihre individuellen Aufmerksamkeits-, Deutungs- und Bewertungsmuster wechselseitig zugänglich machen.
Wo Menschen kontinuierlich in solche kommunikativen Austauschprozesse einbezogen sind (Familien, Gruppen), kommt es zur Herausbildung von Überzeugungen, Handlungsstilen, Regeln und Erwartungen (Selbstorganisation, Kontexte).
Diese können als System wahrgenommen werden, die sich von einer Umwelt unterscheiden.
Systeme stehen in einer dynamischen Spannung von Bewahren und Verändern.
Menschen können andere Menschen und Systeme nicht gezielt verändern, sondern ihnen allenfalls Anregungen geben und ihnen Gelegenheiten bereitstellen, sich selbst zu verändern und zu entwickeln.
Systemische Haltung
So abstrakt diese Grundannahmen klingen mögen – für die Abklärungspraxis im Kindesschutz bietet der systemische Ansatz Denkmodelle, die die Orientierung in anspruchsvollen Praxissituationen erleichtern, sowie bewährte methodische Konzepte und Werkzeuge (vgl. Schwing/Fryszer 2010). Diese können insbesondere zur Anbahnung und Gestaltung von Kontakten, zur Gesprächsführung und Prozessgestaltung mit Gewinn herangezogen werden. Der vielleicht entscheidende Beitrag des systemischen Ansatzes liegt jedoch in der Haltung und im professionellen Rollenverständnis, die aus den oben skizzierten Grundannahmen resultieren:
• Fachpersonen, die dem systemischen Ansatz verpflichtet sind, erkennen die Eigendynamik von Systemen (z. B. der Familie) an. Sie interessieren sich für die Komplexität und Wechselwirkungen innerhalb eines Familiensystems und in den Beziehungen zwischen dem Familiensystem und seinen Umwelten. Deshalb begegnen sie den Sichtweisen aller Beteiligten mit Neugier und interessieren sich dafür, wie diese die Wirklichkeit sehen und was für sie wichtig ist. Sie sind sich darüber im Klaren, dass Eltern und Kinder nicht losgelöst voneinander existieren, sondern in miteinander zusammenhängenden und voneinander abhängenden, sich gegenseitig beeinflussenden und nur schwer zu verändernden Systemzusammenhängen (vgl. Biesel/Wolff 2014, S. 17ff.). Sie wissen, dass kindeswohlgefährdende Handlungen und/oder Unterlassungen in Familien nicht auf einfache Ursachen zurückzuführen sind. Sie interessieren sich deshalb nicht allein für konkrete Vorkommnisse oder Handlungsweisen, die ein Gefährdungspotenzial aufweisen, sondern auch für die Kontextbedingungen, um von hier aus mit den Beteiligten Ansatzpunkte für Veränderungen zu erarbeiten. Sie gehen von der Annahme aus, dass Eltern mehrheitlich ein gutes Leben für ihre Kinder wollen. Deshalb thematisieren sie kindeswohlgefährdende Zustände und Ereignisse (so lange keine Fakten dagegen sprechen) unter der Hypothese, dass diese eher als Ausdruck von Momenten des Scheiterns in der Elternrolle zu verstehen sind denn als Ausfluss bewusster destruktiver Absichten oder Ausdruck individueller Pathologien. Sie ziehen in Betracht, dass Kindeswohlgefährdungen Ausdruck unbewältigter mehrgenerationaler, lebensgeschichtlicher Ereignisse und Erfahrungen sein können, die es im Kontakt und im Austausch mit Eltern und Kindern zu entziffern und zu deuten gilt (Blum-Maurice/Pfitzner 2014).1 Sie versuchen deshalb, nicht nur Eltern und Kinder an der Abklärung zu beteiligen, sondern das gesamte Familiensystem (auch die Ursprungsfamilien der Eltern), um kindeswohlgefährdende Beziehungs-, Konflikt- und Kommunikationsmuster bearbeiten zu können. Ihnen ist bewusst, dass sie Handlungsweisen und Haltungen von Eltern und Kindern nicht gezielt ändern können. Sie erkennen die Ambivalenz von Bewahren und Verändern als notwendiges Element von Veränderungen an und wissen, dass Menschen Sicherheit brauchen, um das Wagnis von Veränderungen einzugehen. Sie wissen, dass Widerstände und Rückfälle Teil aller Veränderungsprozesse sind, und versuchen, möglichst produktiv mit diesen umzugehen (vgl. Grabbe 2011).




