Prozessmanual. Dialogisch-systemische Kindeswohlabklärung

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• Fachpersonen, die dem systemischen Ansatz verpflichtet sind, gestalten Abklärungsprozesse unter dem übergreifenden Ziel, Klärungen in Familien herbeizuführen und Veränderungen im Interesse des Kindeswohls zu ermöglichen. Sie sind sich darüber im Klaren, dass Abklärungen Ko-Produktionen sind und der aktiven Mitwirkung von Eltern und Kindern bedürfen. Sie reflektieren deshalb die Auswirkungen, die eine Abklärung auf Eltern und Kinder hat, und sind besonders sensibel für das Risiko, im Prozess der Abklärung in Familien «hineingezogen» zu werden. Sie fokussieren nicht nur auf Defizite und Probleme von Eltern und Kindern, sondern auch auf deren vorhandene bzw. verschüttete Stärken, Ressourcen und Lösungspotenziale. Es ist ihnen bewusst, dass Fragen des Kindeswohls untrennbar mit Fragen der sozialen Teilhabe von Eltern und Kindern verknüpft sind, und orientieren ihre Vorgehensweisen und Interventionen an der Maxime, Teilhabe und Verwirklichungschancen von Kindern und Eltern bestmöglich zu sichern und zu fördern (vgl. Hosemann/Geiling 2013, S. 29ff.)
Kindeswohlabklärung als wachsames Sorgen
Fachpersonen, die Abklärungen im Kindesschutz durchführen, übernehmen einen wichtigen Teil staatlicher Schutzpflichten gegenüber Kindern (vgl. Rosch/Hauri 2016b). Sie klären, ob Voraussetzungen vorliegen, die ein (staatliches) Eingreifen zur Sicherung des Kindeswohls erforderlich machen. Sie erarbeiten fallspezifische Antworten auf die Fragen, welche Leistungen erforderlich und geeignet sind, um das Kindeswohl zu sichern und zu fördern und ob zivilrechtliche Kindesschutzmassnahmen notwendig sind. Fachpersonen, die Abklärungen nach dem «Prozessmanual. Dialogisch-systemische Kindeswohlabklärung» vornehmen, werden diese Schutzfunktion, ihre Rolle und ihren Auftrag (z. B. im Rahmen der Zusammenarbeit zwischen Behörden und abklärendem Dienst) gegenüber den Eltern in einer für diese verständlichen Sprache klar zum Ausdruck bringen. Gleichzeitig werden sie alles dafür tun, die Eltern zur Zusammenarbeit im Interesse des Kindeswohls zu gewinnen.
Die Wahrnehmung, dass ein Kind oder ein/e Jugendliche/r vor Gefährdungen ihres/seines Wohls geschützt werden muss, darf nicht zum Abbruch der Arbeitsbeziehung mit den Eltern führen. Vielmehr sind Fachpersonen im Kindesschutz darauf verwiesen, eine möglichst tragfähige Arbeitsbeziehung zu den Eltern aufzubauen, um Veränderungen im Familiensystem anstossen zu können. Wenn diese keine Aussicht auf Erfolg haben und Eingriffe in Elternrechte zum Schutz des Kindes mittels zivilrechtlicher Kindesschutzmassnahmen erforderlich sind, zögern sie nicht, diese einzuleiten. In der Wahrnehmung des Schutzauftrags und durch das professionsethische Postulat der Aufrichtigkeit sind abklärende Fachpersonen dazu verpflichtet, Eingriffsschwellen und die normativen Positionen, die sie begründen, gegenüber den Eltern möglichst klar zu kommunizieren.
Eine Haltung, die den Schutzauftrag mit der Verpflichtung auf den Vorrang «freiwilliger», den Eltern angebotener und mit ihnen vereinbarter Leistungen verbindet und deshalb Kontakte und Gespräche im Rahmen eines Abklärungsprozesses am Ziel, eine möglichst tragfähige Arbeitsbeziehung herzustellen, orientiert, entspricht sowohl den im Recht verankerten Prinzipien der Subsidiarität, Komplementarität und Proportionalität (vgl. Rosch/Hauri 2016, S. 411f.) als auch anerkannten Theorien und Konzepten der Sozialen Arbeit (Dewe/Otto 2010; Thiersch 2014). Sie entspricht darüber hinaus zukunftsweisenden Kindesschutzmodellen, mit denen versucht wird, das Wohl von Kindern, Eltern/Familien und dem Gemeinwesen gleichermassen im Blick zu haben und mit Angeboten, Leistungen und Massnahmen in ihrem Wohl gefährdete Kinder und Jugendliche nicht nur zu schützen, sondern sie und ihre Eltern zu fördern und in ihrer Entwicklung partnerschaftlich zu begleiten (Gilbert/Parton/ Skivenes 2011b; Jugendamt der Stadt Dormagen 2011; Wolff et al. 2013, S. 27).
Das «Prozessmanual. Dialogisch-systemische Kindeswohlabklärung» will Haltungen und Handlungsweisen stärken, die es Fachpersonen ermöglichen, die Gleichzeitigkeit von Schutzauftrag und Hilfevorrang in den anspruchsvollen Alltagssituationen der Abklärungspraxis kohärent und wirkungsvoll umzusetzen. Nützliche Orientierungen dazu können aus dem Konzept der wachsamen Sorge (vgl. Omer 2015) bezogen werden. Das Konzept ist zwar für ratsuchende Eltern entwickelt worden, kann aber auch von Fachpersonen, die Abklärungen im Kindesschutz durchführen, mit Gewinn herangezogen werden. Es basiert auf der Annahme, dass Eltern eine Haltung wachsamer Sorge einnehmen sollten, um am Leben ihrer Kinder aktiv und respektvoll teilhaben zu können. Es geht davon aus, dass Eltern von ihren Kindern als Autoritäten wahrgenommen werden, wenn diese spüren, dass die Eltern bedingungslos für sie da sind und ihre Autorität nicht durch Strafen, Gewalt und Abwendung aufrechtzuerhalten suchen. Diese Form von Autorität durch Beziehung (vgl. Omer/von Schlippe 2015) kann als Modell für die Gestaltung der Beziehung zwischen abklärenden Fachpersonen und den Familienmitgliedern dienen: Auch Fachpersonen dürfen bei der Durchführung von Abklärungen nicht «mit der Brechstange» vorgehen, mit Drohungen, Ablehnungen und Abwertungen reagieren. Sie sind darauf angewiesen, von den Eltern und Kindern als Autoritäten wahr- und ernst genommen zu werden. So ist es zwar einerseits zwingend erforderlich, dass der Zugang zur Familie in der Absicht, abzuklären, ob Hinweise auf Gefährdungen des Kindeswohls begründet sind, durch das Recht gestützt ist. Eine durch das Recht gesicherte Legitimität eines Abklärungsprozesses ist eine unabdingbare Voraussetzung, sie garantiert aber keineswegs schon sein Gelingen. Abklärende Fachpersonen müssen von Eltern und Kindern aber auch als Vertrauenspersonen wahrgenommen werden, als Autoritäten, die mit Eltern und Kindern anerkennend, verantwortungsbewusst und respektvoll zusammenarbeiten – auch wenn sie Probleme, Versorgungsdefizite und Gefährdungslagen sehen. Autorität in dem hier verstandenen Sinn kann insofern nicht erworben werden, wenn Fachpersonen Eltern und Kinder im Rahmen von Abklärungen nur zum Objekt von Befragungen und Untersuchungen machen.
Formen wachsamer Sorge
Abklärungen im Kindesschutz im dialogisch-systemischen Sinn erfordern offene und flexible Herangehensweisen, die den Fachpersonen unterschiedliche Formen einer wachsamen Sorge ermöglichen – vom offenen Dialog bis zum eindeutigen Markieren von Grenzen (vgl. Omer 2015, S. 14ff.):
• Abklärende Fachpersonen lassen sich offen und neugierig auf die Lebenssituation von Eltern und Kindern ein und bringen ihnen Interesse entgegen. Sie nehmen Anteil an ihren Sorgen, Ängsten, Nöten, Hoffnungen und Träumen, ohne dabei ihren Abklärungsauftrag aus den Augen zu verlieren. Abklärende Fachpersonen legen ihren Auftrag, zu klären, ob das Wohl des Kindes gewährleistet ist, offen. Sie kommen mit Eltern und Kindern ins Gespräch über das Zusammenleben in der Familie, die Eltern-Kind-Beziehung und die Lebenssituation des Kindes. Sie zeigen Präsenz und Aufmerksamkeit (offene Aufmerksamkeit).
• Nehmen abklärende Fachpersonen Anzeichen einer Gefährdung oder Beeinträchtigung des Kindeswohls wahr, reden sie mit den Eltern und den Kindern darüber und versuchen, mit diesen herauszufinden, was Ursachen und Hintergründe vergangener und eventuell drohender kindeswohlgefährdender Zustände und Ereignisse sind (fokussierte Aufmerksamkeit).
• Bei Hinweisen, die darauf schliessen lassen, dass die Grundversorgung und die Sicherheit des Kindes oder der/des Jugendlichen nicht gewährleistet sind und somit eine manifeste Gefährdung des Kindeswohls besteht, sprechen sie dies klar und verständlich gegenüber den Eltern an. Wenn es notwendig ist, greifen sie aktiv ein und leiten Sofortmassnahmen zum Schutz des Kindes oder der/des Jugendlichen ein. In diesem Fall erläutern sie ihnen die Gründe ihres Handelns (Sofortmassnahmen zum Schutz des Kindes oder der/des Jugendlichen).2
Fachpersonen, die sich bei ihrer Abklärungspraxis am «Prozessmanual. Dialogisch-systemische Kindeswohlabklärung» orientieren, nehmen einen Schutzauftrag wahr. Sie sind sich der Risiken und Gefahren bewusst, denen Kinder in Familien ausgesetzt sein können (vgl. Wolff 2007), und versuchen so lange wie möglich, den Dialog mit Eltern und Kindern bei der Gestaltung von Abklärungsprozessen im Kindesschutz zu suchen und Settings des sozialen Miteinanders zu entwerfen, die Eltern und Kinder dazu ermutigen, sich offen auf Abklärungsprozesse einzulassen. Sie scheuen aber auch nicht davor zurück, Sofortmassnahmen zum Schutz in ihrem Wohl akut gefährdeter Kinder und Jugendlicher einzuleiten.
Kindeswohlabklärung als diagnostisches Fallverstehen
Das «Prozessmanual. Dialogisch-systemische Kindeswohlabklärung» ist so aufgebaut, dass mit ihm Ansätze und Methoden des diagnostischen Fallverstehens (Heiner 2011) genutzt und auf das Handlungsfeld des Kindesschutzes übertragen werden können. In der Verbindung von «Diagnostik» und «Fallverstehen» kommt der Versuch zum Ausdruck, zwei Konzeptionen der Entscheide vorbereitender Abklärung miteinander zu verbinden, die sich in der Sozialen Arbeit lange Zeit unversöhnlich gegenüberstanden: den klassifikatorischen und den rekonstruktiven Ansatz. Der klassifikatorische Ansatz setzt auf standardisierte Erhebungs- und Auswertungsinstrumente und strebt eine möglichst eindeutige Zuordnung eines Falls unter allgemein anerkannte Kategorien an. Der rekonstruktive Ansatz setzt auf das Gespräch und den Dialog, will die subjektiven Wahrnehmungs- und Erlebensweisen von Eltern und Kindern und ihre biografische Einbettung erschliessen und sie in die Prozesse der Erarbeitung von Problembeschreibungen und darauf bezogenen Problemlösungen einbeziehen (vgl. Heiner 2011, S. 237).
Im Kindesschutz haben Verfahren und Instrumente, die dem klassifikatorischen Ansatz verpflichtet sind, (insbesondere in den englischsprachigen Ländern) über viele Jahre eine wichtige, bisweilen auch dominante Rolle gespielt. Dies gilt in besonderem Masse für Verfahren und Instrumente der Risiko- und Kindeswohleinschätzung. Dabei lassen sich zwei Typen unterscheiden: Konsensbasierte Verfahren und Instrumente operieren auf der Basis wissenschaftlichen Wissens und Erfahrungswissens zu den Risiken und Hintergründen von Vernachlässigung und Misshandlung und bereiten diese in Checklisten oder Diagnosebögen auf. Actuari-alistische Verfahren und Instrumente stützen sich auf empirische Studien, die Zusammenhänge zwischen Vernachlässigung und/oder Misshandlung einerseits und bestimmten Merkmalen bzw. Ereignissen andererseits gezeigt haben (Risikofaktoren). Solche Risikoinventare ermöglichen ein statistisch begründetes Urteil darüber, wie hoch die Wahrscheinlichkeit kindeswohlgefährdender Ereignisse in der Zukunft ist (niedriges, mittleres, hohes Risiko). Empirische Studien haben gezeigt, dass actuarialistische Verfahren und Instrumente eine deutlich bessere Voraussagevalidität erzielen als konsensbasierte Verfahren (Baird/Wagner 2000; Bastian 2012, S. 253). Gleichzeitig wurde zunehmend deutlich, dass Verfahren und Instrumente der Risiko- und Kindeswohleinschätzung konstruktionsbedingte, immanente Grenzen aufweisen. Eine sichere Vorhersage in Bezug auf den Einzelfall ermöglichen auch die besten Risikoinventare nicht (Goldbeck 2008). Aufgrund ihrer Konzentration auf einzelne, empirisch begründete Risikoindikatoren ist ihr Nutzen zur Erfassung der Komplexität von Lebenslagen begrenzt. Schliesslich geben Risikoinstrumente kaum Hinweise darauf, welche Interventionen oder Leistungen notwendig und geeignet sind, um in einem individuellen Fall das Kindeswohl sofort und nachhaltig zu sichern. Dazu müssen weitere und andere Informationen und Gesichtspunkte in die Urteilsbildung aufgenommen werden, die nur im Rahmen einer vertieften Auseinandersetzung mit den Gegebenheiten des konkreten Falls gewonnen werden können (Schrapper 2008b; Schrapper 2008a). Weil Handlungen und Unterlassungen, die das Wohl von Kindern gefährden können, typischerweise mit den Wertvorstellungen, Bedeutungszuschreibungen und Erlebensweisen der beteiligten Akteure verbunden sind (z. B. Bilder guter Elternschaft, Erwartungen an das Kind, Erwartungen an die Wirksamkeit bestimmter Erziehungsmethoden), können sie nur in einem kommunikativen Prozess zugänglich werden und in das Gesamtbild einfliessen.
Für die Klärung der zuletzt angesprochenen Fragen sind Abklärungen im Kindesschutz zwingend auf Vorgehensweisen aus dem rekonstruktiven Ansatz angewiesen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass wissenschaftsbasierte Verfahren und Instrumente zur Sicherheits- und Risikoeinschätzung bei Abklärungen im Kindesschutz überflüssig wären. Sie können die Wahrnehmung gezielt auf solche Aspekte lenken, die sich nach vorliegendem Wissen als bedeutsam erwiesen haben, und können dabei helfen, kindeswohlgefährdende Zustände, Handlungen und/oder Unterlassungen differenziert und wissenschaftsbasiert wahrzunehmen, zu beschreiben und zu dokumentieren. Damit erweitern sie die Informationsbasis für die im Kontext von Kindeswohlabklärungen vorzunehmenden Einschätzungen und leisten einen spezifischen Beitrag zu einem Gesamtbild (vgl. Schone 2012, S. 271).
Klassifikation – im Sinne einer Einordnung des Einzelfalls in allgemeine Kategorien – ist auch aus anderen Gründen unverzichtbar. Der Abklärungsprozess mündet in der Regel in einen Bericht mit Empfehlungen über die Notwendigkeit und Angemessenheit von Leistungen und/oder zivilrechtlichen Kindesschutzmassnahmen. Typischerweise geht es dabei um die schlüssige Verknüpfung von anerkannten Bedarfslagen mit bekannten Leistungsarten – oder von Merkmalen einer Lebenssituation mit den rechtlich gerahmten Voraussetzungen für zivilrechtliche Massnahmen. Klassifikationen als «diskursabkürzende» Einordnung von Zuständen sind diesem Kontext unverzichtbar.
Fachpersonen, die Kindeswohlabklärungen durchführen, sind insofern auf beide Ansätze angewiesen: auf rekonstruktive und auf klassifikatorische. Sie müssen einerseits Informationen über Beobachtbares zusammentragen und auswerten. Zugleich müssen sie im Gespräch und im Austausch die Sinn- und Lebenszusammenhänge von Eltern und Kindern erschliessen (Bilder guter Elternschaft, Erwartungen an das Kind, intergenerationale Aufträge; das Familienleben aus der Sicht des Kindes; soziale und materielle Problemlagen und Nöte), um zu begründeten Diagnosen kommen zu können. Sie müssen bei der Durchführung von Abklärungen im Kindesschutz demnach sowohl Verfahren und Instrumente zur Risiko- und Kindeswohleinschätzung als auch Methoden des Fallverstehens und der sozialen Diagnostik verwenden (Schrapper 2008b).
Abklärende Fachpersonen müssen bei der Durchführung von Kindeswohlabklärungen im dialogisch-systemischen Sinn zwei gegensätzliche Positionen miteinander in Einklang bringen: Sie müssen einerseits verstehend auf Eltern und Kinder zugehen und mit ihnen den Dialog suchen. Andererseits müssen sie unter Verwendung von Verfahren und Instrumenten der Sicherheits- und Risikoeinschätzung auf Distanz zu Eltern und Kindern gehen (vgl. Schrapper 2012, S. 199). Das «Prozessmanual. Dialogisch-systemische Kindeswohlabklärung» will Fachpersonen dabei unterstützen, diese gegenläufigen Anforderungen in eine Balance zu bringen. Es unterstützt sie einerseits dabei, unterschiedliche Abklärungsinstrumente und -verfahren reflektiert, im Sinne ihrer spezifischen Leistungsfähigkeit – und vor dem Hintergrund dessen, was in einem vorliegenden Fall klärungsbedürftig ist – einzusetzen. Andererseits unterstützt es sie dabei, mit Eltern und Kindern in den Dialog zu kommen, um möglichst viel Wissen über die Einbettung und Hintergründe von Erziehungs- und Beziehungsstilen in einer Familie hervorzubringen und dies mit den Familienmitgliedern zu teilen. Es unterstützt Fachpersonen bei einem strukturierten und reflektierten Vorgehen, welches dazu dient,
systematisch Informationen über einen Fall von Kindeswohlabklärung zu sammeln und zu ordnen,
mit unterschiedlichen Perspektiven auf den Fall zu blicken und
Hypothesen über den Fall zu formulieren, zu prüfen und gegebenenfalls wieder zu verwerfen und durch plausiblere zu ersetzen (vgl. Schrapper 2012).
Die vier Standards diagnostischen Fallverstehens
Das Prozessmanual orientiert sich dabei an vier grundlegenden Standards diagnostischen Fallverstehens, die für das gleichrangige Zusammenspiel rekonstruktiver und klassifikatorischer Vorgehensweisen von Heiner (2011, S. 246f.) entwickelt wurden. Die (1) Partizipative Orientierung will Fachpersonen dazu anleiten, «dialogisch, aushandlungsorientiert und beteiligungsfördernd» (Heiner 2011, S. 246) vorzugehen und auch divergierende Ansichten offen anzusprechen; die (2) Sozialökologische Orientierung will gewährleisten, dass Fachpersonen das soziale Umfeld, die relevanten Infrastrukturen und Institutionen (inklusive Rolle und Auftrag der Fachpersonen), die materiellen Lebensbedingungen wie auch die situative Einbettung der Handlungsweisen der Klient/innen systematisch einbeziehen; die (3) Multiperspektivische Orientierung soll dazu dienen, eine möglichst komplexe Sicht von Problemlagen und Ressourcen zu erarbeiten, wobei biografische Dimensionen ebenso bedeutsam sein können wie beispielsweise die Wechselwirkungen von Handlungen verschiedener Familienmitglieder; die (4) Reflexive Orientierung bezieht sich auf das Vorgehen der Fachpersonen im Prozess des diagnostischen Fallverstehens; sie soll gewährleisten, dass Einschätzungen und Befunde systematisch überprüft und wenn nötig korrigiert werden. Die reflexive Orientierung umfasst darüber hinaus die fortlaufende, selbstkritische Reflexion des Vorgehens im diagnostischen Prozess.
Fachpersonen, die Kindeswohlabklärungen nach dem «Prozessmanual. Dialogisch-systemische Kindeswohlabklärung» durchführen, gehen achtsam und fehleroffen vor. Sie gestalten Abklärungsprozesse respektvoll, aushandlungsorientiert und beteiligungsfördernd. Sie haben ein multifaktorielles, mehrgenerationales und interaktionsbezogenes Problemverständnis. Ihre Arbeitsweise ist partizipativ, multiperspektivisch und reflexiv. Ihr Anliegen ist es, in der Begegnung und im Austausch mit Eltern und Kindern sowie weiteren Fachpersonen vor dem Hintergrund eines dialogisch-systemischen Erkenntnis- und Interventionsmodells herauszufinden, was das Problem bzw. der Fall ist. Ihr Anliegen ist es, mit Eltern und Kindern sowie weiteren Fachpersonen wahrzunehmen, zu erkunden und zu verstehen, was Ursachen und Folgen von kindeswohlgefährdenden Situationen sind oder waren, um auf dieser Basis einen gemeinsamen Plan zur Förderung und Sicherung des Kindeswohls zu entwickeln und zu realisieren. Für sie sind Einschätzdimensionen von Relevanz, denen sie in verschiedenen Schlüsselprozessen dialogisch-systemischer Kindeswohlabklärung unter Verwendung von Verfahren und Instrumenten der Risiko- und Kindeswohleinschätzung sowie Methoden des Fallverstehens und der sozialen Diagnostik Aufmerksamkeit schenken:
2.2 Schlüsselprozesse dialogisch-systemischer Kindeswohlabklärung im Überblick
Schlüsselprozess Ersteinschätzung
Hinweise auf Gefährdungen des Kindeswohls entgegennehmen und einschätzen. Klären, welche weiteren Informationen erforderlich sind. Klären, ob und in welcher Frist eine Kontaktaufnahme erforderlich ist, um eine Kindeswohlgefährdung auszuschliessen.
Gegenstand der Beurteilung
Glaubhaftigkeit und Dringlichkeit von Hinweisen auf eine Kindeswohlgefährdung
Einschätzdimensionen
• Informationsgehalt der Meldung
• Schweregrad der vermuteten, geschilderten, beobachteten Gefährdung des Kindeswohls
• Glaubhaftigkeit und Kooperationsbereitschaft der meldenden Person
Methoden
• Erkundungsgespräche
• Recherche: Weitere Informationen zum Fall einholen und bewerten (Gespräche, Akten usw.)
• Kollegiale Beratung
Instrumente
• Meldebogen (DJI)
Schlüsselprozess Kindeswohleinschätzung
Bei Hinweisen auf eine Kindeswohlgefährdung klären, ob Sicherheit und Grundversorgung des Kindes gewährleistet sind. Falls nicht, ob Sofortmassnahmen zum Schutz des Kindes erforderlich sind.
Gegenstand der Beurteilung
Grad der Gewährleistung der Grundversorgung und Sicherheit des Kindes
Einschätzdimensionen
• Erscheinungsbild und Entwicklungsstand des Kindes (und seiner Geschwister)
• Erscheinungsbild, Personenmerkmale, Lebenssituation und Erziehungspraxis der Eltern (Alter, Gesundheit, Erwerbstätigkeit, Einkommen, Aufenthalt; Haltung der Eltern zum Kind, Sichtweisen der Eltern in Bezug auf das Kind, Aufsicht, Versorgung und Entwicklungsförderung)
• Lebensumstände des Kindes und seiner Familie (materielle Absicherung; Unterkunft; Wohnverhältnisse, Nachbarschaft, soziale Integration; Betreuungssituation in der Familie; Integration und Sicherheit in ausser-familiärer Kinderbetreuung, Kindergarten, Schule)
Methoden
• Einzelgespräche mit Eltern, Verwandten und Bekannten
• Gespräche mit Kindern und Jugendlichen
• Elterngespräche
• Gespräche mit Fachpersonen
• Familiengespräche
• Das Drei-Häuser-Modell
• Das Feen-Zauberer-Tool
• Hausbesuche
• Mapping (Falllandkarte)
• Recherche: weitere Informationen zum Fall einholen und bewerten (Gespräche, Akten usw.)
• Kollegiale Beratung
Instrumente
• Überprüfung des sofortigen Handlungsbedarfs (Berner und Luzerner Abklärungsinstrument zum Kindesschutz)
• Prüfbogen «Sofortreaktion bei Meldung einer Kindeswohlgefährdung» (DJI)
• Prüfbogen «Einschätzung der Sicherheit des Kindes» (DJI)
Schlüsselprozess Sofortmassnahmen
Art, Umfang und rechtlichen Rahmen von Sofortmassnahmen zum Schutz des Kindes klären und diese einleiten.
Gegenstand der Beurteilung
Art und Umsetzung einer Sofortmassnahme
Einschätzdimensionen
• Notwendigkeit und Geeignetheit einer Sofortmassnahme
• Voraussichtlicher Zeitrahmen der Sofortmassnahme
• Kooperationsbereitschaft der Eltern während und nach der Einleitung von Sofortmassnahmen
Methoden
• Gespräche mit Fachpersonen
• Einzelgespräche mit Eltern, Verwandten und Bekannten
• Gespräche mit Kindern und Jugendlichen
• Elterngespräche
• Familiengespräche
• Kollegiale Beratung
• Notfallkonferenz
Schlüsselprozess Kernabklärung
Im Kontakt mit Kind und Eltern Status und Umstände der Gewährleistung des Kindeswohls differenziert beschreiben, allfällige Gefährdungslagen sowie gefährdende Zustände, Ereignisse und Praxen identifizieren und deren Hintergründe, Kontextbedingungen und (wahrscheinliche) Wirkungen klären.
Gegenstand der Beurteilung
Grad der Gewährleistung der Grundbedürfnisse und Rechte des Kindes
Einschätzdimensionen
• Bedürfnisse und Belastungen des Kindes
• Bedürfnisse und Belastungen der Eltern
• Qualität elterlichen Erziehungshandelns
• Qualität der elterlichen Paarbeziehung
• Qualität der Eltern-Kind-Beziehungen
• Entwicklungsgeschichte und Funktionsweise der Familie
• Ressourcen und Stärken des Kindes
• Ressourcen und Stärken der Eltern
• Mitwirkungsbereitschaft der Eltern
Methoden
• Krisen- und Ereignisweg der Familie
• Zeitstrahl
• Genogrammarbeit
• Familienlandkarte
• Netzwerk-/Umweltkarte
• Kinder-Ressourcenkarte
• Eltern-Ressourcenkarte
• Kinderfotoanalyse
• Familien-Helfer-Map
• Familienfotoanalyse
• Entwicklungsgeschichte meines Kindes
• Buch der Stärken meines Kindes
• Hausbesuche
• Einzelgespräche mit Eltern, Verwandten und Bekannten
• Gespräche mit Kindern und Jugendlichen
• Elterngespräche
• Familiengespräche
• Gespräche mit Fachpersonen
• Kollegiale Beratung
Instrumente
• Situationsanalyse (Berner und Luzerner Abklärungsinstrument zum Kindesschutz)





