- -
- 100%
- +
…dir 100- bis 200-mal eine schallende Ohrfeige verpassen …
»Ich weiß nicht, ob ich die Stärke besäße …«
…dir ans Schienbein treten und in deine blauen Augen schauen …
»Ich möchte es so gerne wieder gut machen und dir alles erklären … Kann ich dich heute Abend zum Essen einladen?«
…und dich dann am Nacken packen und leidenschaftlich küssen … Moment … Was? Jetzt funktionieren nicht einmal mehr die Gewaltfantasien? Na schönen Dank auch …
»Ja, äh gerne …«, hörte ich mich stammeln. »Also ich habe heute noch nichts vor.«
»Natürlich nur, wenn dein Freund nichts dagegen hat …« Tom lächelte, aber durch sein Lächeln glaubte ich einen Anflug von Unsicherheit zu erkennen. Befürchtete er, dass ich wieder vergeben war? Wollte er eine zweite Chance? Und noch viel wichtiger: Wollte ich das?
»Ich habe gerade keinen Freund …«, gab ich mit gesenktem Blick zu und spürte wie die Anspannung von ihm abfiel.
»Also ich hatte nach dir natürlich schon jede Menge Beziehungen …«, warf ich ihm cool entgegen.
»Öhm, okay!« Toms zweifelndes Gesicht verriet mir, dass ich noch eins obendrauf setzen musste.
»Ja klar! Also unzählige Typen eigentlich …«
»Aha!«
»Grandiosen Sex … Viel Neues ausprobiert!«
Was erzähle ich schon wieder?
»Das Kamasutra wurde mir irgendwann zu langweilig … Da habe ich dann ein Neues geschrieben …«
Toms Gesicht schwankte zwischen Schockzustand und erheblichem Zweifel.
»Du musst hier nichts erfinden, Emma … Ich kenne dich ziemlich gut. Das bist nicht du. Du warst immer so wählerisch und im Bett ja auch eher …« Er wiegte den Kopf hin und her als suche er das richtige Wort.
»Langweilig« Sag es ruhig, du Vollspaten. Deine Leistung wird auch nicht in den Geschichtsbüchern festgehalten, wenn ich mich recht entsinne …
» …Klassisch! Also ohne großen Schnick-Schnack meine ich.«
»Ja Tom. Ich habe mich verändert. Es ist viel Zeit vergangen und du kennst mich anscheinend nicht so gut wie du dachtest!«
Sichtlich irritiert strich sich Tom die Haare aus dem Gesicht.
»Das heißt du bist jetzt eher wild drauf, ja?«, fragte er mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Ja bei mir geht’s ganz gut ab!«, antwortete ich lässig. »Ich nehme eigentlich alles mit was so geht. Genieße mein Leben, verstehst du?«
Oh mein Gott! Kann mir bitte jemand einen Maulkorb verpassen oder mich wahlweise aus Toms Blickfeld entfernen? Ich erzähle meinem Ex-Verlobten, ich wäre ein Flittchen geworden um ihm zu beweisen, dass ich über ihn hinweg bin? 100 Punkte Emma! Beeindruckt ist er jetzt auf jeden Fall …
»Kann ich Ihnen behilflich sein?« Die säuselnde, zuckersüße Stimme von der Seite würde ich überall erkennen. Susanne, die falsche Schlange, die mir schon den Margarine-Traumtypen abspenstig gemacht hatte, witterte in Tom wohl wieder neue Beute …
»Die Kollegin hat Pause und ist auch nicht so gut ausgebildet und wenn Sie Fragen haben, dann stehe ich Ihnen als Fachkraft natürlich jederzeit gerne zur Verfügung!« Mit einem verführerischen Blick schnappte sie Tom am Arm und wollte ihn von mir wegführen.
Na warte, du Botox-Blondchen! Jetzt hast du eine Linie überschritten …Nur weil du operierte Möpse hast und einen hübschen Hintern, kannst du dir noch lange nicht alles erlauben. Ich werde dich so dermaßen …
»Das ist ein sehr freundliches Angebot, aber ihre Kollegin, die ihren Job übrigens ausgezeichnet macht, und ich, wir waren gerade in einem interessanten Gespräch. Vielen Dank!« Und mit einer sanften aber bestimmten Bewegung, schob er Susannes Arm beiseite und wandte sich wieder mir zu. Die völlig verdutzte Susanne, etwas Derartiges hatte sie anscheinend noch nicht erlebt, ließ ihre freundliche Maske in sich zusammenfallen. Ihr Gesicht wurde düster als sie zischte: »Nun Frau Schwarz, ihre Privatgespräche sollten Sie besser nicht auf Arbeit führen. Da sind wir uns wohl einig …«
»Wie Sie ganz richtig bemerkt haben, liebe Kollegin, habe ich Pause und was ich in meiner Pause mache, das ist, denke ich, mir überlassen …«
Susanne schnaubte verächtlich und stapfte, ohne uns weiteren Blickes zu würdigen, von dannen.
»Danke.«, flüsterte ich leise und berührte Tom sanft am Arm. Einen Moment lang trafen sich unsere Blicke und ich spürte die alte Verbindung wieder, die ich so sehr vermisst hatte. »Kein Ding!«, grinste er verlegen. »Dir steht dieser grauenvolle Kittel eh 20-mal besser als ihr. Selbst in diesem Fetzen siehst du gut aus …«
Das ging runter wie Öl …
Jetzt bloß nichts Blödes antworten!
»Dir würde der Kittel auch stehen!«
WARUM um alles in der Welt kann ich nicht EINMAL meinen Mund halten?
»Ich denke, ich behalte den Anzug!«, lachte Tom.
»Aber deine Kollegin hat Recht. Wir sollten uns an einem anderen Ort weiter unterhalten. Ich schreibe dir mal meine Nummer auf …« Tom steckte mir den Zettel in die Kitteltasche, flüsterte: »Bis heute Abend!« in mein Ohr und zwinkerte mir schelmisch zu. Ich hob eine Hand zum Gruß und beobachtete wie er den Laden verließ.
Dieses Gespräch lief so verdammt anders als geplant …
Als Susanne um die Ecke bog, konnte ich nicht anders als ihr demonstrativ Toms Zettel unter die Nase zu halten und zu flöten: »Ich habe heute Abend ein Date …«. Ihr beleidigter Blick sprach Bände und ich lachte in mich hinein.
Aber erst jetzt begriff ich die Situation …
Ich hatte ein Date …
… mit meinem Ex …
… der mich am Altar stehen ließ …
Ich konnte Linas Stimme schon hören: »Emma, hast du einen Voll-Knall?«
Kapitel 10
»Emma, hast du einen Voll-Knall?«, Linas Stimme überschlug sich vor Empörung. »Du gehst ernsthaft mit dem Mann fröhlich essen, wegen dem du jahrelang gelitten hast?«
»Na ja … Jahrelang …«
»Du hast zwei Monate heulend vor dem Fernseher gesessen, hast dir sämtliche Liebesschnulzen reingezogen, die männliche Hauptfigur erst ausgebuht, dann beschimpft und am Ende hast du brüllend auf den Fernseher eingeschlagen!«
»Das war eine schwere Phase …!«
»In der du dir 3 neue Fernseher gekauft hast...«
»5 eigentlich …«
»Außerdem bist du samstags immer auf fremden Hochzeiten aufgetaucht, hast den Bräutigam geohrfeigt und die Braut eine naive Ziege genannt. Anschließend hast du den Brautstrauß zertrampelt …«
»Ich hatte eben eine eigene Form mit meinem Schmerz umzugehen und die Vergangenheit zu bewältigen …«, versuchte ich mich ungelenk zu verteidigen.
»Ja, aber dem Papst zu schreiben er solle die Ehe abschaffen, sonst würdest du ihm seinen Stab und sein Auto klauen, ist keine Vergangenheitsbewältigung, sondern hochgradig bescheuert!«
»Ja, okay! Deine Argumente sind nicht ganz von der Hand zu weisen!«, gab ich kleinlaut zu.
»Wie kannst du ihm nur noch eine Chance geben? Wie kannst du mit diesem Mann noch reden und noch schlimmer: WIE KANNST DU IHM NACH 5 MINUTEN EIN DATE ZUSAGEN? Hast du in deinem Supermarkt zu lange an saurer Milch gerochen? Hat er dich bedroht oder gezwungen? Oder hast du einen Plan es ihm heute Abend so richtig heimzuzahlen? REDE MIT MIR oder ich hole die freundlichen Männer, die dir die neueste Mode der Zwangsjackenkollektion vorführen …« Lina hatte sich so in Rage geredet, dass sie nun völlig außer Atem war und sich an meinem Wohnzimmerschrank festhalten musste um nicht umzukippen.
»Lina! Ich habe es ja begriffen! Ich gebe zu, es ist eine schlechte Idee …«, murmelte ich beleidigt.
»Nein Emma! Eine schlechte Idee ist es den Klitschko-Brüdern ihre Milchschnitte wegzunehmen oder dem Zahnarzt während der Behandlung zu sagen, dass man seine Frau flachgelegt hat! Das was DU vorhast, ist purer Wahnsinn und ich werde das keine Sekunde länger unterstützen …«
»Ich hatte gehofft, du sagst mir was ich anziehen soll!«, sagte ich hilfesuchend und setzte meinen Du-bist-doch-meine-beste-Freundin-Blick auf.
»Einen schwarzen Rollkragen-Pulli und grün-orange gestreifte Leggins …«, frotzelte Lina!
»Ach komm schon!«, bettelte ich. »Ohne dich bin ich aufgeschmissen!«
Lina verdrehte die Augen, hielt mir den Zeigefinger unter die Nase und drohte: »Wehe du kommst nachher angekrochen, wenn das alles wieder gegen die Wand fährt! Und jetzt zeig mal was du hast …«
Während ich auf meinem Bett meine komplette Garderobe ausbreitete und mir klar wurde, dass ich trotz wöchentlicher Shoppingtouren mit Lina eigentlich nichts wirklich Brauchbares zum Anziehen hatte, versuchte ich meine Nervosität nicht gewinnen zu lassen und völlig durchzudrehen.
»Ich schätze, es ist einfach so passiert.«, versuchte ich Lina zu erklären wie es zu dem Date kam
»MÖÖP!« Lina imitierte eine Hupe um mich zum Schweigen zu bringen. »Netter Versuch, aber das kaufe ich dir nicht ab!«, belehrte sich mich. »So etwas passiert nicht einfach so! Aus Versehen den falschen Joghurt zu kaufen oder die Lieblingsbluse der besten Freundin im falschen Waschgang zu waschen und sie so völlig zu ruinieren, so etwas passiert einfach so!«
»Moment mal … Sprichst du etwa von meiner hellblauen Bluse? Ich frage mich die ganze Zeit wo die ist!!«
Lina blickte für eine Sekunde schuldig drein und konterte dann: »Hey wir reden jetzt von deinen Problemen. Also nicht ablenken!«
Ich seufzte … »Ich will mir zumindest anhören, was er zu sagen hat. Er hat versprochen mir heute Abend alles zu erklären und vielleicht kann ich ja danach endlich abschließen. Ich will mich einfach nicht mehr nach dem »Warum« fragen, verstehst du?«
Lina blickte mich mitfühlend an und legte mir einen Arm um die Schulter: »Oh Emma!« Sie drückte mich an sich, sah mir tief in die Augen und sagte dann: »Das ist kompletter Bullshit!«
»Was?«, fragte ich verwundert und stieß sie weg.
»Wir wissen doch beide, dass du Tom nur einmal in seine blauen Augen schauen musst und sofort bist du ihm wieder total verfallen … Du gehst nicht hin um Antworten zu finden. Du willst eine zweite Chance … Du willst immer noch, dass er dich heiratet. Und sorry, meine Süße, aber das ist erbärmlich!«
»Na vielen Dank auch!«, zischte ich wütend. »Und so jemand schimpft sich meine Freundin!«
»Genau aus dem Grund sage ich es dir auch wenn du es nicht hören willst. Du bist mir wichtig und er wird dir wieder wehtun. Such dir lieber einen anderen Kandidaten. Man kann so leicht nette Männer kennenlernen. Es kann jederzeit passieren …«
Ich wollte Lina gerade über den Mund fahren und ihr eine genaue Orts-Beschreibung geben, wohin sie sich ihre guten Ratschläge gepflegt schieben konnte, als ich ihr verschmitztes Lächeln bemerkte.
»Lina? Kann es sein, dass du jemanden kennengelernt hast?«, fragte ich sie grinsend.
Lina machte ein betont harmloses Gesicht und flötete unschuldig: »Ich weiß nicht, was du meinst!«
»Ich fasse es nicht!«, schrie ich laut vor Freude. »Hast du tatsächlich endlich mal einen Treffer gelandet. Bist du verliebt? Na erzähl schon!«
»Ach es ist nichts!«, lächelte Lina und winkte ab, aber ich konnte ihre Freude und ihr Glück förmlich spüren.
»Na komm erzähl schon! Dir springen doch schon lila Hasen aus dem Hintern! Los!«
»Also es kam heute jemand zu uns ins Zoogeschäft …«
»Okay … Daran solltest du dich gewöhnen. Das nennt man Kundschaft.«
»Witzbold! Also wir kamen ins Gespräch und haben lange geredet und ich fand ihn echt nett und er mich, glaub ich, auch und wir haben uns über Tiere unterhalten und unsere Hobbys …«
»Okay mehr Infos bitte … Wer? Wie? Was? Wie alt? Kann er für dich sorgen? Hat er einen hübschen Bruder?«
»Also er heißt Bernd …«
Ugh … Waren alle anderen blöden Namen schon weg?
»...ist Buchhalter …«
Oh ja, das klingt nach einem sexy Bad Boy...
» …und er hat einen Pudel …«
Okay weniger Infos, bitte!
»Lass mich raten, er wohnt noch bei seiner Mutter?«, fragte ich feixend.
»Nur vorrübergehend!«, verteidigte Lina ihren neuen Schwarm.
»Und du nennst mich erbärmlich, ja?«, fragte ich lachend.
»Bernd ist ein sehr sensibler und tierlieber Mensch und er hat mich gefragt, ob wir mal zusammen Spazierengehen …«, brummte Lina beleidigt.
»Bernd klingt nach einem Superfang. Vielleicht könnt ihr ja zusammen den Buchclub besuchen und Briefmarken tauschen?«
»Du müsstest ihn einfach nur kennenlernen! Dann würdest du nicht so reden!«
Ich konnte nicht erkennen, ob Lina nun wütend, verletzt oder beides war, aber ich beschloss, sie nicht weiter zu reizen. In Sachen Männergeschmack kamen wir wohl nie auf einen gemeinsamen Nenner. Außerdem musste sie mir jetzt bei meinem Klamottenproblem helfen. Tom würde mich bald abholen kommen und dann musste ich umwerfend aussehen. Er sollte es bereuen mich je verlassen zu haben.
Auf jeden Fall musste ich meine neuen High-Heels anziehen. Das war genau sein Ding, das wusste ich noch. Also musste ich mein Outfit um die Schuhe herum aufbauen. Lina und ich brauchten eine geschlagene Stunde um zu entscheiden was mir am meisten stand und in welchem Outfit ihm wohl am ehesten der Sabberfaden aus dem Mundwinkel hängen würde.
Nachdem sie mir auch beim Schminken geholfen hatte, verabschiedete sich Lina von mir nicht ohne ein weiteres Mal darauf hinzuweisen, dass ich doch lieber mit einer Halskette aus Steaks im Krokodilgehege baden gehen sollte, weil das die gesündere Alternative wäre. Als ich schließlich allein bei mir am Küchentisch saß, fertig geschminkt und gestylt und meinem Kater beim Fressen beobachtete, musste ich mir eingestehen, dass sie wohl Recht hatte.
Noch war es nicht zu spät abzusagen. Ich könnte mich ins Ausland absetzen oder meinen Tod vortäuschen oder ihm einfach sagen, dass ich tierisch Angst hatte wieder so verletzt zu werden … Aber irgendwo in mir drin gab es diese Hoffnung. Die Hoffnung dass unsere Geschichte noch nicht zu Ende war und wir das Happy End bekamen, auf das wir so lange hingearbeitet hatten …
Die Türklingel riss mich aus meinen Gedanken.
Das musste er sein. Er war viel zu früh. Sollte ich einfach so tun als sei ich nicht zuhause?
Blödsinn! Ich setzte meinen verführerischen Blick auf, zupfte mein Kleid zu Recht, fuhr mir durch die Haare, öffnete betont lässig die Tür und erschrak fast zu Tode.
Vor mir stand ängstlich der kleine Junge, der mir am Tag zuvor den Weltuntergang vorausgesagt hatte und sah mich aus seinen braunen Augen flehentlich an.
Er krallte sich um meine Beine und flüsterte:
»Bitte lass mich rein, sonst findet er mich …«
Kapitel 11
»Willst du mir sagen wie du heißt?« Ratlos stand ich in meiner Küche und beobachtete den Jungen, der an meinem Küchentisch saß und ein Glas O-Saft umklammerte. Sein Blick suchte meine Küche ab, als ob hier irgendetwas versteckt wäre. Er nahm einen großen Schluck aus dem Glas und sah mich unsicher an. Seine Jacke und die Mütze hatte er immer noch an.
»Willst du dir nicht den Anorak und die Mütze ausziehen? Es muss dir doch viel zu warm sein …«
Er schüttelte stumm mit dem Kopf.
»Du musst schon mit mir reden, sonst kann ich dir nicht helfen …«
Wieder wich der Junge meinem Blick aus und fixierte das Glas in seiner Hand. In meinem Kopf purzelten tausend Gedanken herum. Wer war dieser kleine Kerl? Woher wusste er wo ich wohnte? Warum war er so besessen von mir? Hatte er psychische Probleme? Machte ich mich strafbar, da er jetzt in meiner Küche saß und Saft schlürfte? Sollte ich die Polizei rufen? Und was wenn Tom gleich auftauchen würde? Mir wurde von den vielen Gedanken ganz schwindelig und seufzend setzte ich mich neben den Jungen an den Tisch.
»Luca«, murmelte der Junge leise.
»Ist das dein Name?« Ich neigte mich nach vorne um auf Augenhöhe mit ihm zu sein. Er nickte schüchtern mit dem Kopf.
»Hör mal, Luca! Wir müssen deinen Eltern Bescheid sagen, dass du hier bist, sonst kriege ich Probleme!«
Der Junge schüttelte heftig mit dem Kopf und griff nach meinem Arm: »Frau Schwarz, du musst mir helfen!«
»Und wie?«, fragte ich unsicher.
Luca ließ meinen Arm los und griff wieder nach dem Glas. Ich wartete noch auf eine Antwort, aber er schwieg.
»Wovor hast du denn solche Angst? Du meintest er soll dich nicht finden … Wer denn?«
»Die Welt gibt es bald nicht mehr!«, wisperte Luca.
»Schon wieder diese Weltuntergangsgeschichte? Die Welt existiert seit mehreren Millionen Jahren. Die geht so schnell schon nicht unter.«, erklärte ich ruhig und versuchte dabei nicht allzu genervt zu wirken.
»Es ist bald soweit!«, flüsterte Luca. »Sie haben gesagt, dass du die Einzige bist die das verhindern kann … Wenn du nichts machst, dann ist bald alles vorbei …«
»Wer sind denn Sie? Wer erzählt dir denn solche Geschichten? Wo … Woher kennst du mich überhaupt?« Ich war so eindeutig überfordert mit der Situation. Ich erhob mich vom Stuhl und ging nervös in der kleinen Küche auf und ab. Vielleicht sollte ich doch lieber die Polizei holen. Dieser Junge war offenbar verwirrt oder hatte ein schweres Trauma oder Schlimmeres erlebt und brauchte professionelle Hilfe. Und die konnte ich ihm nicht geben. Also blieb nur Polizei rufen als Option.
»Bitte holen Sie nicht die Polizei!«
Ich erstarrte. Woher wusste er was ich vorhatte?
»Und auch nicht meine Eltern bitte … Ich werde gleich wieder gehen … Ich will nur …« Er sah mich eindringlich an. »Ich will nur, dass du mir versprichst, dass du Welt rettest, wenn es soweit ist …!«
Ich atmete tief ein und aus, setzte mich wieder auf den Stuhl neben Luca und sah ihn eine Zeitlang an. Er war ein hübscher Junge und seine Augen schienen förmlich zu strahlen und ich konnte erkennen, dass er den gleichaltrigen Kindern einen weiten Schritt voraus sein musste. Ich wusste nur nicht, ob das etwas Gutes war. Gleichzeitig wirkte er aber auch kraftlos, erschöpft und war ziemlich blass. Er war definitiv kein normales Kind.
Ich goss ihm ein wenig Orangensaft nach und lächelte ihn hilflos an.
»Luca …! Ich weiß leider überhaupt nicht was du meinst! Selbst wenn ich dir helfen wollte und wenn ich an so etwas glauben würde... Ich kann doch keinen Weltuntergang aufhalten!«
Lucas braune Augen musterten mich intensiv und dann seufzte er leise enttäuscht: »Du bist noch gar nicht bereit dazu …«
»Das sage ich dir die ganze Zeit, kleiner Mann …! Ich bin einfach die Falsche für sowas …«
Eine einzelne Tränen kullerte stumm Lucas Wange herunter. Er atmete schneller und presste die Lippen aufeinander und ich konnte spüren wie sehr er gegen die Tränen ankämpfte. »Ich will ja tapfer sein … Aber ich will nicht, dass das passiert … Ich will nicht, dass das Ende kommt … Ich … Ich will nicht sterben …«
»Luca …« Ich konnte nicht anders. Ich musste ihn in den Arm nehmen und an mich drücken. Egal ob verwirrt oder nicht, dieser Junge brauchte jemanden, der für ihn da war und ihn tröstete. Warum er aber ausgerechnet eine erfolglose, verbitterte Einzelhandelskauffrau als Hilfe wollte, wusste wohl nur er.
»Niemand wird sterben! Du musst keine Angst haben!«
Luca blickte mich hoffnungsvoll an und schluchzte: »Versprichst du es?«
Oh je! Ich schluckte. Was sollte ich ihm antworten? Wie konnte ich so etwas zu sagen? Mit Versprechen jeglicher Art hatte ich ziemlich miese Erfahrungen gemacht. Wie sehr es weh tat, wenn es nicht eingehalten wurde, wusste wohl kaum einer besser als ich... Tom hatte versprochen mich zu heiraten... Sogar einen Verlobungsring hatte er mir als Zeichen seines Versprechens geschenkt … Ein wunderschöner Ring mit einem Saphir … Jetzt versauerte er in einem Schmuckkästchen auf der Kommode … So eine Enttäuschung wollte ich dem Jungen ersparen. Andererseits setzte Luca all seine Hoffnung in mich.
Ich beschloss es mit Ehrlichkeit zu probieren.
»Luca, ich weiß leider überhaupt nicht was ich tun kann um dir zu helfen.«
»Rette die Welt …«, flüsterte er.
Er sagte das mit solch einer Intensität, dass die Worte sich tief in mir festsetzten und mich noch lange beschäftigen sollten.
Wir saßen einige Minuten schweigend nebeneinander.
»Wieso hast du Angst, dass Leute sterben?«, fragte ich sanft und durchbrach das unangenehme Schweigen.
Luca sah mich nicht an. Sein Blick war stur auf das inzwischen leere Glas gerichtet.
»Wie wird die Welt denn untergehen? Was wird passieren?«
Ich brauchte konkrete Informationen wenn ich Luca helfen wollte und mir gingen allmählich die Ideen aus. Hilflos versuchte ich seinen Blick wieder zu gewinnen, aber es war als wäre er versteinert.
»Kommt da eine Naturkatastrophe? Eine Überschwemmung vielleicht?
Wieder keine Reaktion.
Ich war mit meinem Latein am Ende. Aus dem Jungen war einfach nichts herauszubekommen …
Plötzlich fiel mir Kikumi ein und ihr Traum von dem sie erzählt hatte. Sollte ich es erwähnen? Es war nur das Gefasel einer alkoholisierten Spinnerin gewesen und ich wollte Luca nicht noch mehr verschrecken, aber es war die einzige Idee die ich noch in Reserve hatte.
Ich berührte ihn vorsichtig am Arm und sagte leise: » Luca, meinst du ein Erdbeben?«
Mit aufgerissenen Augen wand sich Luca ruckartig zu mir um und sah mich entsetzt an. »Du weißt von dem Erdbeben? Wie kannst du davon wissen?«
Erschrocken über seine plötzliche Reaktion wich ich ein Stück zurück. Ich spürte wie eine Gänsehaut sich auf meinem Arm bildete und ein Schauer meinen Rücken herabrieselte. Langsam wurde mir das hier alles zu schräg.
»Nein Luca!«, antwortete ich hysterisch. »Ich weiß nichts von einem Erdbeben. Ich weiß gar nichts. Ich weiß nur, dass meine bescheuerte Nachbarin seltsame Träume hat und dass du meine Hilfe willst um die Welt zu retten und bei aller Liebe, aber diese Untergangstheorien sind mir einfach zu surreal!«
Luca sah mir verwirrt zu, wie ich ziellos durch meine Küche tigerte und versuchte einen klaren Kopf zu bekommen. Sein verständnisloser Blick verriet mir, dass er wohl ebenfalls begann an meinem Verstand zu zweifeln. Super, dann waren wir schon mal zwei.
»Was ist das mit dem Erdbeben?«, fragte ich in einem ruhigeren Ton.
Luca biss sich auf die Unterlippe und schien unentschlossen ob er etwas sagen sollte oder nicht.
»Luca bitte!«, zischte ich ungeduldig. »Ich kriege gleich Besuch und habe nicht viel Zeit. DU bist zu mir gekommen und willst meine Hilfe. Also spuck es aus. Was für ein Erdbeben meinst du?«
Luca sah mich einen Moment an und lächelte traurig.
»Es sind drei...«, flüsterte er so leise, als hätte er Angst, dass wir belauscht werden könnten.
»Drei?« Wieder spürte ich die Gänsehaut auf meinem Arm.
»Das erste wird ganz leicht. Ehe man begreift was passiert, wird es wieder vorbei sein. Das zweite wird stärker … Dinge werden kaputt gehen, aber jeder wird es wohl gut überstehen … Dann kommt das Dritte … Es wird gewaltig … Straßen werden verschwinden und …«
Die schrille Türglocke ließ Luca verstummen.
TOM!
So ein Mist! Sein Timing war schon immer grauenhaft gewesen. Bei unserem ersten Date kam er zwei Stunden zu früh und fiel dann vor Schreck rückwärts die Treppen hinunter, als ich ihm im Bademantel mit meiner Ingwer-Aloe-Vera-Maske die Tür öffnete. Beim ersten Treffen mit meinen Eltern kam er zwei Stunden zu spät, woraufhin mein Vater so sauer war, dass er Tom am liebsten auf den Buffettisch gepfeffert hätte. Und auch heute kam er denkbar ungünstig, wenn auch pünktlich.
Die Klingel schellte ein zweites Mal und Luca suchte ängstlich nach einem Ausweg.
»Du musst keine Angst haben, Luca! Das ist nur mein Ex Tom. Der tut keinem was. Also … Na ja gut, er kriegt einen dazu, sich in ihn zu verlieben und ihn heiraten zu wollen und sein ganzes Leben um ihn herum aufzubauen, so dass du nicht mehr ohne ihn leben kannst und praktisch völlig abhängig bist und jede Sekunde mit ihm verbringen willst. Nur um dir dann anschließend bestialisch das Herz in tausend Stücke zu zerreißen und dich mit den schlimmsten Schmerzen, die du je empfunden hast allein zu lassen … Aber sonst ist er eigentlich ganz harmlos.«






