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Beim Arzt sitze ich neben einem alten unrasierten Mann mit Gehhilfe. Sein Sohn bringt ihm Kaffee: »Hab ick von Kaiser’s jeholt. Die ham auch ne Bockwurst. Willste eene?« Der alte Mann will keine. Aber Kaffee schon. »Schmeckt jut, der Kaffee«, sagt er. »Ja«, sagt sein Sohn wieder, »is von Kaiser’s, aber kipp ihn nicht aus.« »Nene, mach dir mal keene Sorgen«, sagt der Alte. »Schmeckt echt jut, der Kaffee«, sind seine letzten Worte, dann kippt er um. Der Mann. Der Kaffee aber auch.
Nach Camus muss man sich diesen Mann als glücklich vorstellen. Er hat, glaube ich, in seinem Leben genug Felsbrocken vergeblich den Berg hochgerollt. Und der Kaffee hat ihm auch geschmeckt, obwohl das für Kaiser’s jetzt keine gute Werbung war.
Schönen Tag noch
Da geht man morgens trantütig zum Bäcker, um Mr. Fup ein Schokoladencroissant zu kaufen, auf das er zum Frühstück besteht, und schon muss man kurze Zeit später im Zeit-Magazin lesen, dass man irgendwen nicht gegrüßt hat.
Der Irgendwer heißt Harald Martenstein, dem im Zeit-Magazin eine Kolumne eingeräumt wurde, um sich über solche Dinge beschweren zu können, wie dass er nicht gegrüßt worden ist, und das schon früh beim Bäcker. Dabei kann ich mich gar nicht erinnern, dass ich ihn nicht gegrüßt habe. Aber es tut mir natürlich leid, denn wenn ich gewusst hätte, wieviel Harald Martenstein daran liegt, von mir beim Bäcker gegrüßt zu werden, wäre ich natürlich ganz anders durch die Welt gelaufen, immer mindestens mit einem Auge die Gegend abscannend, ob Harald Martenstein gerade irgendwo herumläuft.
Ich hätte das gemacht, ehrlich, obwohl das gar nicht so einfach ist, denn Harald Martenstein gehört eher zu den unauffälligen Menschen im Viertel, die man ziemlich leicht übersehen kann. Das ist jetzt nicht persönlich gemeint. Er trägt beispielsweise keinen rosafarbenen Anorak und auch keine Schuhe in Pink. Das würde mir auffallen.
Manchmal sehe ich ihn vor meinem Fenster vorbeilaufen, und da hat er meistens irgendwas Graues an oder Beiges, was Rentner gerne tragen, und eine Aktentasche, in der er wahrscheinlich sein Pausenbrot hat. Aber das weiß ich natürlich nicht genau. Und bis ich dann, wenn er bei mir vorbeiläuft, das Doppelfenster aufgemacht habe, ist er auch schon wieder weg, und irgendwie wäre es schon komisch, wenn ich ihm dann hinterherriefe: »Hallo Harald! Hallooo!«
Das wär vielleicht schon ein wenig aufdringlich, und wenn er sich dann fragend umdrehte, weil jemand »Harald« gerufen hat, und womöglich denkt, es wär was Wichtiges, dann wäre es vielleicht ein wenig dürftig, wenn ich ihm nur sagen könnte: »Schönen Tag auch noch«, weil was anderes würde mir nicht einfallen, weil ich jetzt nicht was wirklich Wichtiges mit ihm zu besprechen gehabt hätte.
Obwohl, jetzt vielleicht schon. Ich meine, jetzt, wo er sich im Zeit-Magazin darüber beschwert, dass ich ihn nicht gegrüßt habe. Harald Martenstein schreibt nämlich, ich sei ein »Kapitalismuskritiker« und er nicht. Ich bin fast ein wenig gerührt. Das hat nämlich noch nie jemand zu mir gesagt, aber ich finde es schön, dass es endlich mal jemand anspricht. Es stimmt nämlich. Ich habe tatsächlich einiges am Kapitalismus auszusetzen, zum Beispiel Grußzwang frühmorgens beim Bäcker. Nein, das ist jetzt natürlich Quatsch. Aber trotzdem, der Kapitalismus ist schon ziemlich Scheiße, auch wenn man es hier im »Graefekiez« nicht so mitbekommt.
Außerdem schreibt Harald Martenstein, dass ich unter »einer ähnlichen Krankheit leide, wie sie auch Josef Stalin gehabt hat«. Huch, denke ich, und gucke natürlich gleich bei Wikipedia nach, an welcher Krankheit Stalin gelitten hat. Schlaganfall, sagen die einen, er sei vergiftet worden, sagen andere. Ich bin jetzt kein Stalin-Spezialist, und vielleicht hatte er ja noch eine andere Krankheit, aber Schlaganfall hatte ich noch nicht, und vergiftet worden bin ich meines Wissens auch noch nicht. Ich glaube, das hätte ich gemerkt. Aber ich werde das im Auge behalten.
Harald Martenstein schreibt dann noch, dass, wenn ich als Kapitalismuskritiker den Kapitalismus abgeschafft und den Sozialismus eingeführt hätte, er Angst hätte, ich würde ihm dann »irgendwie wehtun«, weil er kein Kapitalismuskritiker ist. Wie er darauf kommt, ist mir noch schleierhafter als Stalins Krankheit, an der ich angeblich leide. Ich glaube aber, wenn tatsächlich so ein unwahrscheinlicher Fall einträte wie Sozialismus in Deutschland, dann wäre ich der Erste, der abtauchen würde, denn schließlich kritisiere ich nicht den Kapitalismus, damit Sozialismus herauskommt, außerdem stand nur eine Woche vorher in der Zeit, dass ich »Anarchist« sei, und denen geht Sozialismus ja wohl total am Arsch vorbei.
Wie auch immer. Ich schätze mal, am ersten Tag des Sozialismus gäbe es sehr viel zu tun. Harald Martenstein weh zu tun, gehört da, glaube ich, nicht dazu. Kann ich mir nicht vorstellen, nicht mal, wenn Harald Martenstein sein Hemd aufreißt und mit nackter Brust durch die Straßen läuft und die Sozialisten auffordert, ihn zu erschießen, weil er den Kapitalismus gut findet.
Die Wagenknecht würde höchstens sagen: »Ach, der Martenstein schon wieder, schreib lieber wieder eine Kolumne darüber, dass dich beim Bäcker irgendwer nicht gegrüßt hat.« Die Sozialisten würden ihn glatt ignorieren, und die Kommunisten auch. Aber wahrscheinlich wäre es genau das, was ihm wehtun würde. Na, dann hab ich ja hiermit meine Therapeutenpflicht erfüllt. Bitte schön. Ich hab das gerne gemacht.
Danke? Da nicht für.
Doktor Seltsam
Ich suche die Hasenheide Nr. 69, aber nicht aus Gründen, die diese Nummer nahelegt (ich meine jetzt in sexueller Hinsicht, falls jemand auf der Leitung stehen sollte, was mir ja ständig passiert), sondern um zu gucken, ob sich hinter dieser Adresse immer noch die Dicke-Pizzateig-Pizzeria von früher verbirgt.
Vor der Tür begrüßt mich Dr. Seltsam. Er hat einen schwarzen Frack an, dazugehörige schwarze Hosen, ein weißes Hemd und eine rote Fliege, die leicht Schlagseite hat. Er hat heute seine nach ihm selbst benannte Wochenshow, und ich bin sein »Hauptact«, wie ich von ihm erfahre.
Zum Glück habe ich mein Buch dabei, aus dem ich was vorlesen kann. Vorher aber erzählt Dr. Seltsam eine kleine Reminiszenz an den vor kurzem verstorbenen Franz Josef Degenhardt. Gut, dass Franz Josef Degenhardt die nicht mehr hören kann. Nach einem Konzert nämlich, als der große und noch sehr junge Fan Dr. Seltsam in Degenhardts Garderobe vorgedrungen war, fragte Degenhardt nicht ihn, seinen Fan, sondern einen »üblen Halunken« von der Plattenfirma: »Und? Wie bin ich gewesen?« Das war der erste große Knacks in der Beziehung zwischen Dr. Seltsam und Franz Josef Degenhardt.
Danach kommt ein sehr expressiv vorgetragenes und vertontes, aber sich nicht reimendes Gedicht von Brecht, das ich nicht verstehe, mich aber sehr beeindruckt. Und danach wiederum kommt der »Hauptact«, also ich. Dr. Seltsam sagt, ich würde schreiben wie Franz Hessel, dessen Sohn Stéphane Hessel ja auch ein Buch mit dem Titel »Empört Euch!« geschrieben habe, und das wäre ja auch mal wieder nötig gewesen.
Ich sage, dass sein Vergleich mit Franz Hessel einen Haken hätte, und zwar den, dass ich jetzt Franz Hessel lesen müsste. Aber das ist gar nicht nötig, denn Dr. Seltsam klärt mich in der restlichen Zeit bis zur Pause auf, wie Franz Hessel hier durch die Gegend flaniert sei, immer wachsamen Auges, und dabei solche Dinge wie ein Einhorn auf der Kirche am Südstern entdeckt habe, und wenn man ein Einhorn sähe, wäre man ein glücklicher Mensch.
Außerdem hätte es schräg gegenüber mal eine Ruine gegeben, in der sich Andreas Baader versteckt hätte, heute befände sich da leider eine Werbeagentur, und ein paar Häuser weiter hätte die Spionageorganisation Rote Kapelle ihr Hauptquartier gehabt, die nur durch einen dummen Zufall aufgeflogen sei, weil die Putzfrau nicht in die geheime Tätigkeit von Harnack und Co. eingeweiht gewesen sei. Ich weiß das alles nicht. Ich glaube, ich bin als Flaneur ein Versager.
Immer Ärger mit der Post
Ich eile zum nächsten Briefkasten, um schnell noch einen Brief einzuschmeißen, aber die Post ist schneller. Mit einem Bagger reißt sie den Briefkasten gerade aus dem Boden. Die Gentrifizierten schreiben sowieso keine Briefe mehr, nur noch Elektropost, und der Bittermann verstopft mit seinen Büchersendungen nur unsere Briefkästen, denkt die Post, und außerdem denkt sie: Wer was von mir will, muss schon zu mir kommen und sich hinten anstellen.
Natürlich versuche ich das zu vermeiden. Wer mag schon die Post immer anbetteln: Bitte, liebe Post, kannst du das Paket für mich in eine andere Stadt bringen?
Ich frage den Paket-Boten, der bei mir die Pakete für das gesamte Haus ablädt, ob er eine Büchersendung, die durch keinen Briefschlitz passt (die schmalen Briefschlitze sind eine weitere ausgetüftelte Strategie, um mich zu ärgern), zur Post mitnehmen könne. Der Mann hat eine Glatze. Ob das was zu bedeuten hat, weiß ich nicht, aber er guckt lange und ungläubig auf die Sendung.
»Büchersendung, schon frankiert«, sage ich.
»Was ist det?«, fragt der Mann, und wendet die Sendung hin und her, als ob es sich um was Unanständiges handeln würde.
»Büchersendung«, sage ich nochmal.
Wieder längeres misstrauisches Beäugen der Sendung.
»Das darf ich gar nich annehmen«, sagt er. »Wenn ich die jetzt einfach wegschmeiße, wa, und die kommt dann nich an, was dann?«
»Sie wollen die Post wegschmeißen?«, frage ich.
»Ne, war doch nur ‘n Beispiel. Aber wenn irgendwas passiert, dann gibt das nur Ärger«, sagt er. »Also ich hätt’s echt gern jemacht, wa, aber det darf ich gar nich.« Ich sage nichts mehr.
Auf dem Weg zur Post komme ich an einer Rest-Alkohol-Fraktion vorbei. Eine Frau mit einem Bier in der Hand beschimpft eine andere: »Du dreckige Fotze, du mieses Stück Scheiße«, denn die andere hat offensichtlich eine Flasche Bier fallen lassen. Vielleicht sollte ich mir von der Frau ein paar Tipps geben lassen, wie man mit gewissen Leuten umgeht.
Occupy Römer
Ich bin eingeladen zu einem »Künstleressen«. Das steht so auf der Einladungskarte. Es gibt dann aber gar keine Künstler, sondern Hühnchen mit Kartoffelgratin und Gemüse. Das schmeckt sehr gut, aber nach der großen Erwartung bin ich etwas enttäuscht, denn Künstler hatte ich noch nicht. Nicht zum Lunch jedenfalls. Höchstens am Hals.
Es sind aber gar keine Künstler da, sondern nur Leute, die mal in der Werbebranche gearbeitet haben und jetzt Fahrräder verkaufen, oder die seit dreißig Jahren dabei sind, ihre Dissertation zu schreiben und sehr langfristig Filmprojekte planen, von denen noch nie eins zustande gekommen ist. Und Oliver Maria Schmitt, der Bürgermeisterschaftskandidat von Frankfurt für die PARTEI, außerdem Autor des »Besten Romans aller Zeiten«, also ein Mensch, an dem die Hybris nicht einfach so vorbeigegangen ist.
Ich frage ihn, wie seine Chancen bei den kommenden Wahlen im März 2012 stehen. »Sehr gut«, sagt er, weil alle anderen Parteien nur Kandidaten hätten, die niemand kennt. Er würde sich an die Occupy-Bewegung dranhängen und mit der Losung »Occupy Römer« einen erfolgreichen Wahlkampf machen, weil er in seinen Reden dann sagen könne, was für alle nur eine Art politische Praxis sei, sei für ihn schon seit Jahren »gelebtes Leben«, denn seine Frau heiße mit Mädchennamen Römer. Leider wolle seine Frau nicht mitmachen, weshalb er für seinen Wahlkampf auf der Suche nach einer attraktiven, jungen blonden Frau sei, die man als Politiker nun mal an seiner Seite brauche, wenn man einen richtigen amerikanischen Wahlkampf machen wolle, und als Hunter S. Thompson von Frankfurt käme für ihn nun mal nichts anderes in Frage. Ob ich ihm nicht jemand für die Zeit des Wahlkampfs zur Verfügung stellen könne. Danach lasse man das Ganze als schmutzigen Wahlkampf durch Bild auffliegen, und »seine« Wahlkampffrau könne anschließend darüber ein Buch schreiben mit dem Titel »Ich war die Frau des Frankfurter Bürgermeisterschaftskandidaten«.
Ich frage ihn, ob ich das nicht machen könne. Ich würde mir auch die Beine rasieren. »Ich weiß deinen guten Willen zu schätzen«, sagt Schmitt, »aber ich sagte ›jung, attraktiv und blond‹.«
Dann überlegen wir weiter, und dann sage ich wieder, dass ich dafür sogar meine Beine rasieren würde, und Oliver Maria Schmitt sagt wieder, dass er meinen guten Willen zu schätzen wisse. Das geht eine ganze Weile so. Da uns einfach niemand sonst einfällt, der den Job übernehmen würde, trinken wir noch etwas.
Dann gehe ich auf die Straße, winke ein Taxi heran und steige hinten ein. Eine junge, attraktive und blonde Frau in sehr kurzem Minirock und roten hochhackigen Lackschuhen steigt vorne ein. Ich sage, das Taxi sei schon besetzt, und zwar mit mir. Sie möchte trotzdem mitfahren. Ich sage, sie wisse doch gar nicht, wohin ich wolle. Das sei ihr egal, sagt sie. Ich lasse sie mitfahren. Ich bin ja kein Unmensch, und schon gar nicht zu so später Stunde. Vielleicht kommt sie ja als Frankfurter Bürgermeisterschaftskandidatengattin in Frage, aber als ich versuche, ihr den Fall darzulegen, reagiert sie mit keinem einzigen Wort. Als wir dann zusammen aussteigen und ich die schweigsame blonde, attraktive und junge Frau frage, ob ich ihr helfen könne, schüttelt sie nur ausdruckslos den Kopf und stöckelt in die Nacht.
Kool & The Gang
Zuerst zur Schneiderin, die eine Hose entweder weiter oder enger machen sollte, was ich aber hier nicht verrate, weil dann jeder mit einer gewissen Genugtuung denkt, der ist also auch fetter geworden, oder neidisch eben das Gegenteil.
Die Schneiderin ist sehr dick, fast so breit wie hoch, also eher eine Kugel. Meine Probleme hat sie nicht. »Hab’s wieder nicht geschafft«, sagt sie, denn gestern hatte sie es auch nicht geschafft. Dann sagt sie: »Setzen Sie sich, ich mach das schnell.«
»Ne, ich hab noch was zu tun«, sage ich.
Sie will mich umstimmen: »Immer, wenn ich Sie hier reinkommen sehe, muss ich an Kool & The Gang denken.«
»Was?«, frage ich, weil mich das verwirrt.
»Kool & The Gang! Kennen Sie nicht?« Dabei schwingt sie ihre Hüftspeckreifen und lacht.
»Doch«, sage ich und lache auch, allerdings mehr aus Verlegenheit, denn von »Kool & The Gang« kenne ich nur den Namen.
Dann gehe ich zum Kuaför, der mir sagt, ich solle mich bitte setzen, da wären noch zwei Leute vor mir. Ich sage, keine Zeit, ich käme später wieder. Auf dem Stempel, den ich im Stempel-Laden abholen will, steht nur die Hälfte, nämlich »Bitter«. Ohne »Mann«. Der Stempel-Mann sagt: »Setzen Sie sich, ich schnitze Ihnen schnell einen neuen.« Sagt er natürlich nicht, aber es hätte mich nicht gewundert.
Eigentlich schade, dass man die ganze Zeit nicht hat, die zu verplempern einem überall großzügig angeboten wird. Laut Hans Magnus Enzensberger bin ich eine arme Sau, denn Reichtum bedeute nicht nur viel Geld, das ich auch nicht habe, sondern auch viel Zeit.
Dieser Gedanke deprimiert mich. Aber nicht sehr. Nur, dass gar nichts von den Erledigungen geklappt hat, macht mich fertig. Wenn ich das gewusst hätte, denke ich, wäre ich gar nicht erst losgegangen. Oder wie Wolfgang Stumph das viel besser sagt, dem es am selben Abend bei Markus Lanz genauso geht wie mir schon den ganzen Tag über: »Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich vielleicht gar nicht so richtig gekommen.«
Daheim gebe ich bei Google »Kool & The Gang« ein. Aber da stürzt mein Computer ab.
Der Flaum im Gesicht der Nazis
Der Tipp kommt von einem Berlinale-Experten. Irgendwas leichtes Französisches. Der Berlinale-Experte sagt natürlich mehr als nur: »Ist irgendwas leichtes Französisches«, aber mehr will ich mir gar nicht merken, weil ich das ja dann sowieso früh genug sehe.
Ich komme mit einem abgelaufenen Journalistenausweis rein, was mich ein wenig skeptisch macht. Vorne in der zweiten Reihe ist noch was frei. Ein Mann im grauen Zweireiher, der ein bisschen hängt – der Zweireiher, nicht der Mann –, stellt den Film vor. Sich selbst brauche er ja nicht vorzustellen, weil ihn sowieso jeder kenne. Da habe ich ja Glück, dass ich nicht »jeder« bin, weiß jetzt aber immer noch nicht, wer er ist.
Er übergibt das Mikrofon dann einer Frau, die sagt, dass sie nur sagen wolle, dass Alfred Holighaus nicht da sei, was schade ist, denn den hätte ich gekannt. Er ist Schalke-Fan und wenn Schalke gegen Dortmund spielt, gucken wir zusammen, wie Schalke verliert.
Dann werden noch ein paar Leute, die den Film gemacht haben, vorgestellt, aber nicht der Regisseur, weil der gerade in seiner Villa in Los Angeles ist.
Als der Film anfängt, stellt sich schnell heraus, dass es nichts leichtes Französisches ist, sondern was schweres Deutsches. Ich merke das daran, dass die Untertitel Englisch sind, was mich zunächst etwas verwundert. Und dann wird auch noch deutsch gesprochen. Trotzdem lese ich die Untertitel mit, weil’s da mehr zur Sache geht. Wenn einer sagt: »Bewegt euch!«, steht unten: »Move your asses!«
Sonst werden viele glatzköpfige Neonazis gezeigt, wie sie in Autos rauchen, kopulieren, laut Nazimusik hören, Bier trinken, schlägern und tun, was Nazis eben so tun. In Nahaufnahme. Man sieht sogar den Flaum im Gesicht der weiblichen Nazis. Das wollte ich eigentlich nicht sehen. Als ich aus dem Kino gehe, wartet schon der Mann im grauen Zweireiher auf mich und sagt: »Das hier sind die Macher des Films.« Ich sage nichts. Das mit dem Flaum hätten sie sowieso nicht verstanden.
Scheiß Rechtsstaat
Ich liebe die Notaufnahme im Urban-Krankenhaus. Wenn man dort ist, geht es einem schon gleich besser. Nicht wirklich natürlich, aber im Vergleich zu den anderen, die auch in der Notaufnahme des Urban-Krankenhauses liegen. So schlecht, dass ich ununterbrochen ein schluchzendes Heulen in höherer und einen durchaus zum Abtöten von Nerven geeigneten Ton von mir geben würde, geht es mir jedenfalls nicht. Still liege ich auf der Pritsche und warte auf den Arzt. Das tun alle hier.
In der Nähe sitzt ein Mann auf dem Bett. Neben ihm ein Sanitäter, der ihn hierher gebracht hat. Der Sanitäter sagt: »Nu leng Se sich mal hinne und sitzen Se nicht wie ‘n Schluck Wasser in der Kurve. Wer weiß, wann Se wieder so’n bequemes Bett kriegen.« Der Arzt kommt. Nicht zu mir, sondern zum Schluck Wasser in der Kurve.
Der Arzt sagt: »Haben Sie getrunken?«
Der Schluck Wasser in der Kurve sagt: »Ob ich jetrunken habe? Na sicha hab ick jetrunken. Seit zwee Wochen schon. Is doch scheißkalt draußen.«
Der Arzt nickt. Kälte ist ein guter Grund zu trinken.
Im Zimmer nebenan schreit ein Mann: »Das Arschloch hat mich angespuckt. Der hat Aids. Sie müssen mir sofort Blut abnehmen. Und dem Arschloch auch.«
»Wir können dem anderen kein Blut abnehmen«, sagt eine Arztstimme.
»Wieso nicht? Hat doch Aids!«
Die Arztstimme wieder: »Wir können nicht einfach jemandem Blut abnehmen, wir leben in einem Rechtsstaat.«
»Scheiß Rechtsstaat«, sagt die aufgebrachte Stimme. »Dem muss Blut abgenommen werden. Hat mich angespuckt.«
Der Arzt sagt nichts mehr. Die aufgebrachte Stimme aber ramentert weiter. Nach einer Viertelstunde verliert der Arzt die Contenance. Er sagt: »Jetzt halten Sie endlich die Klappe. Ich musste gerade jemanden einen Finger amputieren. Der ist viel schlimmer dran als Sie.«
Besser als das Urban war da nur die Notaufnahme in Harlem. Da wurden Leute mit Schusswunden eingeliefert. Ein amputierter Finger war da eine Lappalie.
Versuchte Vergewaltigung
Vor dem »Pavillon Prisma« an der Kottbusser Brücke esse ich eine Teigtasche mit Käse und Ei und lese zum Nachtisch ein Manuskript, aber ich komme über die ersten zwei Seiten nicht hinaus, weil sich ganz in der Nähe eine dicke Frau mit stufig geschnittenen blondierten Strähnen niederlässt. Naja, deswegen eigentlich weniger, aber sie hat einen dünnen glatzköpfigen Mann im Schlepptau. Er ist Pokerspieler. Ich dachte, die würden schweigen und ein Pokerface aufsetzen, aber der redet ununterbrochen auf sie ein.
»... sacht die, dass se in nem Bio-Laden arbeitet. Da musste ick wieder lachen. In nem Bio-Laden! Wenn se in ner Bäckerei gearbeitet hätte, hätt ick ja normal jefunden, aber Bio-Laden! Sacht die zu mir, wir könnt’n ja zusamm mit nem Taxi heimfahren, aber Geld hätt se keens. Sach ick, is jut, wa, aber ick loof ma lieber. Hab’s ja ooch nicht so dicke. Ick also los. Zwee Ecken weiter kommt ‘n Auto neben mir zu stehen. Janz normales Auto. Ick denk mir erstma nix dabei. Spring zwee Zivis raus, ziehn ihre Knarren, stelln mir an die Wand, Beine breit, wa, Handschellen, det janze Programm. Geben se durch ‘n Funk: Wir ham ihn. ›Was ’n jetzt los?‹, frag ick. Sacht der eene zu mir: ›Versuchte Vergewaltigung.‹ Sach ich: ›Wat? Ick soll der Frau an die Wäsche jegangen sein? Das is ja wohl der Witz des Monats.‹ Kommt ‘n Bullenwagen mit der Frau anjerauscht. ›Ja, das isser‹, sacht die. ›Wenn ick dir hätte verjewaltigen wollen, hätt ick dir ja wohl nicht meene Adresse gegeben.‹ Weeßte ja, Steglitzer Damm neben Drospa. ›Und außerdem könnt ihr doch selber gucken, is doch alles uff’m Video vonner U-Bahn drauf. Seien se mir nicht böse, wa, aber Sie sind nicht nach meem Jeschmack.‹ Sacht die wieder: ›Aber der roocht Haschisch.‹ Ich sach: ›Jetzt hör doch ma uff.‹ Die Bullen kieken sie an, kieken mich an. Sacht der eine: ›Na, dann is ja alles Bestens, dann könn’ Se jetzt ja nach Hause gehen.‹ Sach ich: ›Moment ma! Sie fahrn mich jetzt mal schön nach Hause. Ick bin jetzt fix und alle nach der Uffregung.‹ Sacht die Alte: ›Och, da fahr ick doch mit.‹ Denk ick, jetzt werd ick die Alte schon wieder nicht los. Die Bullen fahrn mich also nach Hause, halten an, sacht die Alte: ›Och, da steig ick doch auch gleich mit aus.‹ Ne, denk ick, det darf ja jetzt wohl nicht wahr sein. Uff der Straße sacht se: ›Jetzt bleim Se doch ma stehn. Ick möchte mir nämlich janz herzlich bei Ihn entschuldijen. Ick hab zu Hause noch ne Flasche Wein. Wolln se nicht mitkomm?‹ ›Nene‹, sach ich, ›muss morgen früh raus.‹ Zwee Stunden später klingelt’s an der Tür, steht se da mit ner Torte und nem Blumenstrauß. Platzt mir der Kragen. Sach ick: ›Jetzt is aber mal jut, ick komm mit dicken und fetten Menschen nicht klar, die stinken mir zu sehr.‹«
Die dicke Frau mit den blondierten Strähnen zieht an einer Zigarette und nickt verständnisvoll.
Ein bisschen mehr Distanz
Oh Gott, ich bin alleinerziehend! Für einen Tag. Nur?, werden einige müde lächeln, aber auch ein Tag muss erstmal rumgebracht werden. Fup will mit seinem »Morad« raus, das heißt übersetzt Motorrad, ist aber nur ein Laufrad. Bitte schön. Raus ist immer gut. Nur mit der Richtungsangabe gibt es in der Regel kleine Differenzen, denn wenn ich sage: »Da lang«, dann sagt Fup grundsätzlich: »Nein, da lang.« Mein »da lang« und sein »da lang« hören sich zwar gleich an, bezeichnen aber unterschiedliche Richtungen.
Da ich nichts vorhabe, sage ich nicht »da lang«, sondern: »Du bist der Bestimmer. Wohin willst du?« Fup hat da eine ganz bestimmte Vorstellung. Ich bin gespannt, wohin er mich führt. Er führt mich stracks zum Kottbusser Tor. Einmal rund um den Platz, bis er den Aufgang zur Hochbahn entdeckt. Er will U-Bahn fahren. Nein, U-Bahn ist nicht drin. Na gut, dann weigert er sich eben, überhaupt weiterzugehen.
Also stehen wir vor der Ampel. Die Leute um uns herum gehen bei grün über die Straße. Bei rot natürlich auch. Wir aber bleiben stehen wie zwei kleine Felsen in der Menschenbrandung. Dann fährt Fup unter der Hochbahn entlang, wo das Pflaster flächendeckend mit Taubenscheiße bedeckt ist. Er fährt weiter auf die Verkehrsinsel, inspiziert einen Sandhaufen und radelt dann weiter zu Kaiser’s durch die offene Tür zum Tresen der Backwarenabteilung, wo er sich von seinem Erziehungsbeauftragten eine Salzstange kaufen lässt.
Vor dem Eingang von Kaiser’s bleibt er stehen und isst. Direkt vor den Alkis. Zwei schreien sich an. Der eine sieht sehr derangiert aus, mit Bart, Augen auf Halbmast und einer verranzten Jacke. Der andere hat zu große Jeans an, und sein Gesicht befindet sich sehr nah vor dem Gesicht des anderen.
»Schon mal was von Distanz gehört? Ein bisschen mehr Distanz! Das ist ja wohl nicht zuviel verlangt«, sagt der bärtige Mann sehr sehr laut.