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Als Sandra um die nächste Ecke bog, blieb sie überrascht stehen. Sie blickte direkt auf den Rücken eines Zombies, der zu Lebzeiten offenbar wohlgenährt gewesen war, und dieser Untote kam ihr äußerst bekannt vor. Dann wurde Sandra klar, wen sie da vor sich hatte. »Die Hengsten!«, entfuhr es ihr.
Durch das Geräusch der Stimme aufmerksam geworden drehte sich das Annegret-Ding herum und glotzte Sandra blöde an.
»Du warst auch schon zu Lebzeiten nicht die Hellste.« Sandra konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Immerhin passen deine altbackenen Klamotten nun zu deinem neuen Teint. Keine Probleme mehr mit dem allmorgendlichen Schminken, was?«
Das Annegret-Ding grunzte, dann wandte es Sandra wieder den Rücken zu.
»Und deine Manieren sind auch nicht besser geworden.« Sandra kicherte. »Wenn deine Amtszeit als zweite Bürgermeisterin der ›wahren Menschen‹ ein wenig länger als ein paar Stunden gedauert hätte, müsste ich davon ausgehen, dass dich die Macht korrumpiert hat, so wie es bei den meisten ist, die sich Politiker nennen. Aber du warst schon immer ein selbstsüchtiger Trampel, es grenzt also an ein Wunder, dass du nicht bereits vor der Apokalypse Karriere in der Lokalpolitik gemacht hast.«
Mit wem rede ich hier eigentlich?, durchzuckte es Sandra, als ihr auffiel, dass sie soeben einen längeren Monolog gehalten hatte, den das Annegret-Ding nicht einmal mehr mit einem Grunzen quittierte.
In diesem Moment waren vom anderen Ende des Ganges her Geräusche zu vernehmen. Prompt setzte sich Annegret in Bewegung und schlurfte langsam in die entsprechende Richtung.
Sandra überlegte, ob sie zur Messe weitergehen sollte, da tauchte an der nächsten Gangbiegung eine Gestalt auf, deren Kleidung Sandra entnahm, dass es sich einst um einen Militärgeistlichen gehandelt haben musste. Unwillkürlich fiel ihr Pfarrer Patrick Stark ein, mit dem zusammen sie aus Köln geflohen waren. Gefühlt lag das inzwischen Jahre zurück und Sandra fragte sich, ob der Geistliche seine letzte Ruhe gefunden haben mochte. Laut Stephan war Stark in Bonn von den anstürmenden Zombies überrannt worden, aber der Tod besaß heutzutage nicht mehr zwingend einen endgültigen Charakter.
Als der Seelsorge-Zombie das Annegret-Ding erblickte, legte er mit einem Mal eine Geschwindigkeit an den Tag, bei der Sandra glaubte, ihren Augen nicht trauen zu können. Annegret selbst hatte bei seinem Anblick offenbar das Interesse an dem Geräusch, das der andere verursachte, wieder verloren und blieb einfach dort stehen, wo sie sich im Moment befand. Im nächsten Augenblick erreichte der schnelle Zombie sie und riss ihr mit einem Ruck den Kopf von den Schultern. Achtlos ließ er ihn fallen, und während Annegrets Augen empört in ihren Höhlen rollten, bildete ihr Körper eine Art Festmahl für den flinkeren Kollegen.
Mit einer Mischung aus Abscheu und Faszination betrachtete Sandra die Szenerie. Dabei lauschte sie in sich hinein und versuchte, ihre eigenen Empfindungen weiter zu erkunden. Würde sie auch irgendwann so sein, und gierig über andere Zombies herfallen? Sicher, in der Not fraß der Teufel bekanntlich Fliegen, aber auch so etwas wie Annegret-Zombies?
Sandra vermeinte zu spüren, wie sich Speichel in ihrem Mund sammelte. Unwillig schüttelte sie den Kopf. »Bäh!«
Der Seelsorge-Zombie unterbrach seine Mahlzeit und sah sie neugierig an.
»Du bist neu hier, oder?«, fragte er. »Zumindest habe ich dich bislang nicht gesehen.«
Das Ding konnte sprechen?!? Nun, warum nicht, schließlich konnte Sandra das auch. Aber der andere trug keinen Gürtel, der ihn bei Verstand hielt. Welche Teufelei hatte van Hellsmann hier unten wirklichen ausgeheckt?
Bei näherer Betrachtung stellte Sandra fest, dass an dem anderen irgendetwas nicht zu stimmen schien. Er wirkte ein wenig aufgedunsen, obwohl er zu Lebzeiten mit Sicherheit eher der asketische Typ gewesen war.
»Also bist du nun neu hier oder nicht?«, rissen die Worte des Seelsorge-Zombies sie aus ihren Überlegungen. »Oder gehörst du gar zu den Langsamen? Dann bleib schön da stehen, meine Süße, mit der hier bin ich nämlich gleich fertig.«
»Ich bin nicht deine Süße!« Sandra schnaufte empört. »Wage es, bloß deine stinkende Hand nach mir auszustrecken, und ich lasse dich dein eigenes fauliges Fleisch kosten!«
»Oho, du scheinst ja eine ganz Wilde zu sein. Aber meine Frage hast du nicht beantwortet. Bist du neu hier?«
»Das geht dich einen Scheiß an! Und jetzt geh mir aus dem Weg, der Professor erwartet mich!«
»Du sollst zum Obersten Lenker?« Die Augen des Untoten wurden groß. »Das ändert natürlich alles. Magst du einen Happen zur Stärkung abhaben? Normalerweise teile ich nicht, musst du wissen.«
»Danke, ich habe schon gespeist. Und jetzt geh mir aus dem Weg und lass mich vorbei, bevor ich dich melde.«
»Ist ja schon gut.« Der ehemalige Pfarrer machte zwei Schritte in Richtung der Korridorwand, achtete dabei aber darauf, seine Mahlzeit nicht aus dem Griff zu verlieren. »Vielleicht sehen wir uns ja irgendwann wieder und du weißt mein Angebot bis dahin zu schätzen. Schönen Tag noch, Süße!« Damit schlug er seine Zähne wieder in Annegrets Körper.
Sandra setzte ihren Weg fort, begleitet vom lauten Schmatzen eines ihrer neuen Artgenossen.
Kapitel II
Gipfelkonferenz
Während Sandra der Messe immer näher kam, wurde sie noch mehrmals Zeuge solcher und ähnlicher Szenen. Wie es aussah, hatte sich auf den unteren Ebenen tatsächlich eine Art Zombie-Gesellschaft gebildet, die aus zwei Gruppen zu bestehen schien, den Langsamen und den Schnellen. Die Langsamen waren das, was man gemeinhin unter einem Zombie verstand. Sie schlurften träge dahin oder standen einfach nur herum, bis irgendetwas ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Die Schnellen hingegen waren meist aktiv. Sie bewegten sich einzeln oder in kleinen Gruppen durch die Gänge, sprachen manchmal miteinander und wirkten fast völlig normal, wenn man einmal von ihrer ungesund wirkenden Hautfarbe sowie der Tatsache absah, dass ihre Körper teilweise Wunden aufwiesen, die jeden normalen Menschen stark beeinträchtigt wenn nicht gar getötet hätten.
Sandra machte nach Möglichkeit einen Bogen um die hiesigen Bewohner. Sie verspürte keine Lust, in ein weiteres Gespräch verwickelt zu werden, geschweige denn, erneut ein nett gemeintes Angebot von einer Fressmaschine zu erhalten, die sie als »Süße« bezeichnete.
Und wenn er mich erst genug gefüttert hat, will er womöglich noch mit mir Poppen. Sandra lief ein unangenehmer Schauer das Rückgrat hinab. Dagegen war dieser Harry in Schwarmstein ja regelrecht Gold gewesen.*
Energisch schüttelte sie den Kopf, um die Bilder vor ihrem inneren Auge zu vertreiben. Nicht mehr lange, und sie würde all das hinter sich haben. Wenn van Hellsmann sie nicht vorher vom Totleben zum endgültigen Tode beförderte, würde sie wahrscheinlich mit ihm zusammen zur Hölle fahren und anschließend im größten Kessel, den der Teufel aufbieten konnte, ein Vollbad nehmen.
Sandra grinste. Ja, diese Art Gedanken gefiel ihr wesentlich besser!
Doch das Grinsen hielt nicht lange an. Schneller als ihr lieb war, kehrten ihre Überlegungen zur hiesigen Situation zurück. Sie dachte an das, was sie auf dem Weg hierher gesehen und erlebt hatte, dabei bildete sich in ihrem Kopf ein merkwürdiger Vergleich: Diese untoten Heuschrecken fressen sich gegenseitig, wo es ihnen nur möglich ist. Hai frisst Hai. Es ist beinahe wie in der Zeit vor Armageddon, als der Turbokapitalismus in voller Blüte stand und nur die Gefräßigsten ihren Platz in der Gesellschaft behaupten konnten.
Dann verdrängte sie auch diesen Gedanken wieder und wappnete sich für das Treffen mit van Hellsmann. Damit es in ihrem Sinne verlaufen konnte, hatten Gefühle dabei nichts verloren. Sie musste tough sein, noch einmal alles geben, egal um welchen Preis.
***
Sandra betrat die Messe, an deren rückwärtiger Wand van Hellsmann mit geschlossenen Augen auf einem der Stühle saß. Der untote Professor schien mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein und ihr Kommen nicht bemerkt zu haben. Langsam ging Sandra näher, dabei überlegte sie, ob sie ihn ansprechen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Schließlich nahm sie gegenüber von van Hellsmann Platz.
»Willkommen in meinem bescheidenen Reich«, begann der Professor das Gespräch, ohne dabei die Augen zu öffnen. »Es freut mich, dass Sie nicht auf Zeit spielen und die volle Stunde haben verstreichen lassen, aber ich habe es auch nicht anders von Ihnen erwartet.«
Sandra wollte etwas erwidern, doch von Hellsmann hob in diesem Moment den Zeigefinger, also klappte sie den soeben geöffneten Mund wieder zu.
»Nein, sagen Sie nichts!« Der Untote lächelte. »Ich habe es am Einatmen gehört, dass Sie sprechen wollten, aber damit verdürben Sie mir den Spaß zu erraten, wer von Ihnen denn nun meiner Aufforderung, sich hier einzufinden, gefolgt ist. Da ich keine Schüsse gehört habe, wäre der naheliegendste Schluss derjenige, dass mir jetzt mein alter Freund und Kollege Frank gegenüber sitzt. Auf der anderen Seite kann ich mir gut vorstellen, dass ihm immer noch soweit misstraut wird, um ihm nicht eine Aufgabe von solcher Wichtigkeit zu überlassen. Nun wird es also interessant: Wer von Ihnen ist kein Untoter und kann sich trotzdem hier unten bewegen, ohne Problemen mit den Angehörigen meines Volkes zu bekommen?«
»Ihres Volkes?«, platzte es aus Sandra heraus. »Das meinen Sie nicht ernst, oder?«
Van Hellsmann riss die Augen auf und sah Sandra an. »Sie?!? Mit Ihnen hätte ich zuletzt gerechnet, Frau Sandra. Aber offenbar ist etwas passiert, von dem ich bislang keine Ahnung hatte. Was verschafft mir die Ehre, Sie im Kreis der Unsterblichen willkommen heißen zu dürfen?«
In Sandra arbeitete es, aber sie versuchte, sich davon nach Möglichkeit nichts anmerken zu lassen. Dass van Hellsmanns Geisteszustand Anlass zu äußerster Besorgnis gab, war ihr bereits in dem Moment klar geworden, als sie sein Ultimatum vernommen hatte. Offenbar ging seine Hybris jedoch viel weiter, als jeder von ihnen bislang dachte. Sein Volk? Die Unsterblichen? Würde er ihr gleich auch noch etwas über eine neue, bessere Menschheit erzählen?
»Verzeihen Sie mir meine Direktheit, werte Frau Sandra, aber Sie wirken ein wenig unkonzentriert, wenn ich das einmal so sagen darf.« Van Hellsmann lächelte. »Darf ich also davon ausgehen, dass Ihr jetziger Zustand noch relativ neu für Sie ist? Aber keine Sorge, das legt sich sehr schnell. Sie werden bald die diversen Vorzüge zu schätzen lernen, die uns diese Form des Daseins bietet. Ich weiß, wovon ich spreche.«
Der Professor kicherte in einer Tonlage, die Sandra schaudern ließ. Ihr Gegenüber bot immer mehr das Bild des irren Professors, der sich weiter und weiter in seine eigenen Wahnvorstellungen verstieg und irgendwann komplett den Kontakt zur Wirklichkeit verlor. Spätestens zu diesem Zeitpunkt würde er völlig unberechenbar sein, und niemand konnte sagen, wie lange es bis dahin noch dauerte. Also musste sie ihn so schnell wie möglich dazu bringen, ihr zu vertrauen.
»Vermutlich haben Sie recht.« Sandra nickte. »Es ist alles noch sehr neu und ungewohnt für mich, daher bin ich nicht ganz bei der Sache. Dazu kommen ein paar, nun, nennen wir es ›Begleitumstände‹ meines Hierseins, die ich ebenfalls noch nicht ganz verdaut habe.«
»Lassen Sie mich raten: Die anderen misstrauen Ihnen seit Ihrer Umwandlung. Ist es so?«
»So kann man es auch ausdrücken.« Sandra lachte freudlos auf. »Ich kann mich nicht genau an alles erinnern, aber ich weiß noch sehr genau, dass ich mir eine Kugel eingefangen habe und daran gestorben bin. Als ich wieder zu mir kam, war ich bereits so, wie ich jetzt vor Ihnen sitze. Sie hätten die Reaktionen der anderen erleben sollen! Sie taten so, als würde ich die Pest verbreiten. Die Abscheu in ihren Gesichtern werde ich vermutlich nie mehr vergessen können.
Dann verpassten sie mir diesen Gürtel – als Akt der Menschlichkeit, wie sie extra betonten – und jagten mich davon. Selbst Jörg wollte nichts mehr mit ›so einer‹ zu tun haben. Es war entsetzlich!«
»Ich weiß, was Sie meinen.« Van Hellsmann nickte. »Der Geist der meisten normalen Menschen ist nicht in der Lage, die ihm innewohnende kreatürliche Abscheu unserer Art gegenüber zu überwinden. Aber wenn ich meine Arbeit erst vollendet habe, werden wir den Homo Sapiens in seiner jetzigen Form eh nicht mehr benötigen.«
»Ich wusste, dass ich mich vertrauensvoll an Sie wenden kann, Herr Professor.« Sandra lächelte. »Sie würden mich verstehen und wissen, wie ich mich fühle. Denn auch in meiner neuen Form der Existenz kann ich mir nicht vorstellen, auf Dauer alleine zu sein. Schon der bloße Gedanke daran macht mich schaudern.«
»Aber eines erscheint mir noch nicht schlüssig.« Van Hellsmann kniff das linke Auge zu und taxierte Sandra mit dem rechten. »Sie sagen, die anderen hätten Sie verstoßen, weil Sie jetzt eine von uns sind. Aber mein geschätzter Kollege Steins ist doch auch noch dort oben. Das passt nicht recht zusammen, finden Sie nicht auch?«
»Wenn dem so wäre, hätten Sie natürlich recht. Wenn man einen Totlebenden unter sich duldet, warum dann keinen zweiten? Die Wahrheit ist, dass die Menschen die Bestien sind, nicht wir! Sie haben Frank erschlagen, ihm die ganze Schuld an dem Desaster gegeben und sich auf grausamste Weise an ihm gerächt. Erst haben sie ihm den Gürtel weggenommen, und als die Wirkung der Beruhigungsmittel nachließ den Kopf vom Körper getrennt. Eine Weile haben sie makabere Spiele mit dem immer noch lebenden Schädel getrieben, bevor sie ihm endlich den Gnadenschuss gaben.« Sandra schloss die Augen und wandte sich ab. »Es war furchtbar!«
»Das klingt in der Tat nicht sehr schön, und es bestätigt mir das, was ich schon immer wusste: Es ist an der Zeit für eine neue Ordnung. Der Mensch hat als Krone der Schöpfung ausgedient. Nur eine Frage noch: Warum haben sie mit Ihnen nicht dasselbe gemacht?«
»Weil ich einst eine von ihnen war. Ich vermute, sie haben aus Sentimentalität so gehandelt oder hatten einfach ein schlechtes Gewissen, keine Ahnung.« Sandra zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich war es in etwa so, als wolle man ein Kaninchen, dem man einen Namen gegeben und das man liebgewonnen hat, einfach schlachten, das bringt man normalerweise auch nicht übers Herz. Darüber hinaus brauchten sie noch jemanden, der sich mit Ihnen hier treffen würde, und da kam ich wohl gerade zur rechten Zeit.«
»So, so. Könnte gut sein.« Van Hellsmann dachte einen Moment lang nach, bevor er fortfuhr: »Sind Sie sich eigentlich ganz sicher, dass die Umwandlung bei Ihnen spontan stattfand und nicht etwa Frank seine Finger mit ihm Spiel hatte?«
»Ganz sicher. Doktor Steins war zum Zeitpunkt meines Todes bereits endgültig gestorben. Und von den anderen besitzt keiner das Wissen oder die Möglichkeiten, den Prozess, der Sie beide damals zu Totlebenden gemacht hat, durchzuführen.«
»Interessant, interessant.« In van Hellsmann erwachte der Wissenschaftler. »Wenn ich ergründen kann, was Ihnen genau widerfahren ist, bringt das meine eigenen Forschungen sicherlich ein gutes Stück voran. Haben Sie etwas dagegen, dass ich sie gründlich untersuche?«
»Nein, natürlich nicht.« Sandra lächelte ihr bezaubernstes Lächeln. »Was Ihnen hilft, hilft auch mir. Soll ich mich schon mal frei machen?«
***
Hatte Sandra geglaubt, van Hellsmann würde ihren Reizen erliegen, so sah sie sich enttäuscht. Obwohl ihr Körper immer noch nahezu makellos war, nahm der Professor keinerlei Notiz davon, sondern untersuchte sie mit der kühlen Sachlichkeit und Professionalität, mit der er vermutlich auch eine Reihe von Petrischalen katalogisieren würde. Niemand hatte jemals etwas angedeutet, dass van Hellsmann sich nichts aus Frauen machte, aber vielleicht lag es ja an seiner jetzigen Daseinsform, dass er über keinen entsprechenden Trieb mehr verfügte.
Sandra lauschte in sich hinein, während sie mechanisch den Anweisungen wie »Einatmen! Jetzt die Luft anhalten!« Folge leistete. Wie war das bei ihr? Spürte sie auch nichts mehr? Sandra konzentrierte sich und dachte intensiv an einen Schauspieler, den sie früher immer mehr als attraktiv gefunden hatte. Sie stellte sich seinen gut gebauten Körper nackt vor, wie er erregt auf sie zuging und sie mit einem verführerischen Lächeln bedachte. Da war – etwas. Aber es war anders als ihre frühere Empfindungen, trotzdem handelte es sich eindeutig um eine Form von Stimulation.
Scheiße!, schoss es Sandra durch den Kopf. Mit diesem van Hellsmann ist anscheinend noch mehr nicht in Ordnung. Aber warte nur, mein Lieber, irgendwann und irgendwie wickele ich dich schon noch um den Finger.
»Jetzt nehme ich noch ein kleine Gewebeprobe, dann sind wir für den Moment fertig.« Die Stimme des Professors riss Sandra aus ihren Gedanken. »Was ich bisher sagen kann, sind Sie eine normale Totlebende, die sich bester Gesundheit erfreut. Einen Schnupfen können wir also ausschließen.« Van Hellsmann lachte, als habe er eben den besten Witz der Welt gerissen. Dann wurde er wieder ernst: »Nachdem ich die Proben in meinem Labor untersucht habe, kann ich sicher mehr sagen. Schauen Sie sich doch in der Zwischenzeit ein wenig in ihrer neuen Heimat um.« Der Professor nickte ihr noch einmal freundlich zu, dann verließ er die Messe eiligen Schritts.
Sandra blickte ihm kurz hinterher, dann zog sie sich wieder an und überprüfte den Sitz ihres Gürtels. Es schien alles in Ordnung zu sein.
»Na prima«, murmelte sie zu sich selbst. »Und jetzt?«
Einem ersten Impuls folgend wollte sie darangehen, die Redundanzzentrale auf dieser Ebene aufzusuchen, überlegte es sich aber an der Tür der Messe anders. Van Hellsmann mochte wie ein irrer Wissenschaftler wirken, aber er war nicht dumm. Bis er ihr vertraute, würde er sie sicherlich überwachen lassen, und da wäre es äußerst dumm von ihr, ihn regelrecht mit der Nase auf ihren eigentlichen Plan zu stoßen.
»Da bist du ja wieder«, erklang in diesem Moment eine Stimme von der nächsten Gangbiegung her. »Hast denn den Obersten Lenker gefunden?«
Sandra erkannte den Seelsorge-Zombie wieder, dem sie bereits auf dem Herweg begegnet war. Irgendwie wirkte er noch aufgedunsener als zuvor, was ihn aber nicht zu stören schien. Konnte der Kerl sie nicht einfach in Ruhe lassen?
»Was willst du?« Sandra funkelte den anderen böse an. »Du weißt doch, dass du die Finger von mir lassen sollst.«
»Wer sagt denn, dass ich dich anfassen will? Wenn du das neuste Spielzeug des Obersten Lenkers bist, werde ich dich schön in Ruhe lassen, aber das hast du dir sicher schon gedacht, oder nicht?«
»Du hast meine Frage nicht beantwortet. Was willst du?«
»Ich möchte einfach nur ein wenig nett sein, das ist alles. Wenn du willst, zeige ich dir einen Platz, wo man immer ein paar Langsame finden kann.«
»Danke, kein Interesse.« Sandra hob abwehrend die Hand, um ihre Worte zu unterstreichen. »Wenn ich Hunger bekomme, werde ich mir schon zu helfen wissen.«
»Du musst wissen, was du tust, schließlich bist du erwachsen. Ich geh dann mal weiter, denn da hinten ist etwas. Und wenn du es dir anders überlegst ...«
»Werde ich nicht«, fuhr Sandra dem Untoten ins Wort. »Und jetzt beeil Dich, bevor dir einer der Kumpels das leckere Fresschen streitig macht. Husch, husch!«
Kurz sah es so aus, als wolle der andere noch etwas erwidern, dann wandte er sich ab und verschwand mit atemberaubender Geschwindigkeit in einem der Seitengänge.
***
Sandras Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Nach dem Gespräch mit dem Seelsorge-Zombie hatte sie sich wieder in die Messe zurückgezogen und dort auf van Hellsmann gewartet. Seither waren gut vier Stunden vergangen, wie sie der erstaunlicherweise immer noch funktionierenden Wanduhr entnahm, da geruhte der Professor endlich, sich wieder blicken zu lassen.
»Haben Sie ihren Rundgang schon beendet?«, fragte er gutgelaunt. »Eigentlich kennen Sie ja schon alles, nicht wahr? Nur die Wesensart der Bewohner hat sich seit ihrem letzten Besuch ein wenig gewandelt.« Van Hellsmann lachte meckernd. »Aber vielleicht konnten Sie ja die eine oder andere Bekanntschaft schließen.«
»In der Tat.« Sandra nickte. »Da rennt so ein Typ in der Kluft eines Militärpfarrers herum. Anstatt mir die Beichte abzunehmen, quatscht er mich lieber voll.«
»Das ist Pfarrer Braun.« Van Hellsmann lächelte, und mit Stolz in der Stimme fuhr er fort: »Ein aufgeweckter Bursche, wenn ich das einmal so sagen darf. Ist wesentlich beherrschter als die anderen, und mit ein wenig Glück wird er es einmal weit bringen. Von ihm brauche ich auch noch eine Gewebeprobe, denn er ist von allen meinen Versuchen bislang am ehesten so, wie es einmal sein soll. Feiner Bursche!«
»Zumindest hat er nicht versucht, mich zu begrabbeln, dafür wollte er mich unbedingt zum Essen einladen. Und das als Pfarrer! Sollte sich was schämen, finden Sie nicht?«
»Sie missverstehen da sicherlich etwas, Frau Sandra. Zum einen ist er wirklich ein umgänglicher Typ, zum anderen ist er Protestant und somit nicht dem Zölibat unterworfen. Da er nicht verheiratet ist und Sie ebenfalls nicht, begeht er also keine Sünde, wenn er Sie zum Essen einlädt. Einmal ganz davon abgesehen, dass wir diesen ganzen Zirkus um Gott, Sünde, Himmel und Hölle über kurz oder lang ohnehin hinter uns lassen werden.«
»Aha«, machte Sandra lahm, dann besann sie sich auf ihren Plan und fragte interessiert: »Das klingt, also ob Sie kurz vor dem entscheidenden Durchbruch stünden. Haben Ihnen meine Proben weitergeholfen?«
»Nicht direkt.« Van Hellsmann schüttelte den Kopf. »Der Virenstamm, der Ihnen das Totleben geschenkt hat, war mir zwar bislang unbekannt, scheint aber eine natürliche Mutation desselben zu sein. Genaueres kann ich erst sagen, wenn die Ergebnisse der langlaufenden Testreihe vorliegen, die ich eben damit angesetzt habe.«
»Normalerweise würde ich ›langlaufen‹ nicht so gerne hören.« Sandra grinste. »Aber wenn ich es richtig verstanden habe, verfügen wir Totlebenden über alle Zeit der Welt. Trotzdem bin ich neugierig. Wie lange ist denn ›langlaufend‹?«
»Die ersten Teilergebnisse werden vermutlich in drei oder vier Tagen vorliegen, aber das ist noch nicht alles.«
Damit erging sich der Professor in einem langwierigen wissenschaftlichen Vortrag, von dem Sandra nicht einmal annähernd die Hälfte verstand. Van Hellsmann schien froh darüber zu sein, endlich einen interessierten Zuhörer gefunden zu haben und war nicht zu bremsen.
Nach einer gefühlten Stunde kam er dann endlich zu einem Ende: »Sie sehen, das Ganze gestaltet sich äußerst spannend. Und wir können noch mehr tun, denn auch in der Forschung ist Parallelität von großem Nutzen, wo immer sie möglich ist. Der Wert neuer Erkenntnisse kann nicht hoch genug eingeschätzt werden, deshalb werde ich Sie jetzt von der Nährstoffzufuhr Ihres Gürtels abklemmen, um zu sehen, wie Sie auf Hunger reagieren. Ich habe das Gefühl, dass die Sandra-Form des Virus – ja, ich habe mir erlaubt, diesen Stamm nach Ihnen zu benennen – auch diesbezüglich erstaunliche Resultate zutage fördern wird.«
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