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Oder denken Sie an sehr kalte Orte, in diesem Fall Island. In Island gibt es die meisten und aktivsten Geysire überhaupt. Wenn Sie nur ein wenig mit der Wirkungsweise eines Geysirs vertraut sind, wissen Sie, dass die Erdwärme beziehungsweise das Magma das Grundwasser stark erhitzt und anschließend nach oben drückt. Diese Wärme können wir uns zu Nutze machen, ohne Einfluss auf die Natur zu nehmen.
Ich denke, Sie verstehen nun, worauf ich hinauswill. Wir planen, an all diesen Orten sowohl umweltverträgliche Kraftwerke als auch Freizeitanlagen zu errichten, die die Menschen zum Umdenken anregen oder ihnen zumindest die Möglichkeit bieten, sich in einem zwanglosen Umfeld mit der Materie auseinanderzusetzen. Eines der Hauptanliegen von Hawkes Enterprises ist es, nicht nur die Energieversorgung der Zukunft zu sichern, sondern auch Aufklärungsarbeit zu leisten, sodass zukünftige Generationen in der Lage sein werden, eigene Wege und Lösungen zu finden.«
»Und Sie meinen wirklich, die Herzen der Menschen mit ein paar Vergnügungsparks erweichen zu können?«, fragte Meier zynisch, fand jedoch nur wenig Unterstützung. Etwas vorsichtiger fügte er hinzu: »Wollen Sie denn nicht erkennen, dass es die Menschen einen Dreck schert, woher der Strom kommt, der ihre Geräte speist, oder das Benzin in ihren Tanks, solange es nur in Strömen fließt? Unsere Gesellschaft ist hungrig nach Energie, nach Erdöl, Kohle, Atomstrom … das sind die Motoren unserer Wirtschaft. Wenn die Energiereserven schrumpfen, die Versorgung nicht mehr gewährleistet werden kann - und das wird früher oder später passieren, wenn wir uns auf alternative Energien verlassen –, dann wird Hawkes Enterprises eines der ersten Unternehmen sein, das den Zorn des Volkes zu spüren bekommt. Der Hunger nach Energie ist eine Abhängigkeit und kann durch alternative Energien nicht gestillt werden.«
»Wir sind nicht so blauäugig, wie Sie vielleicht denken mögen, Mr. Meier, und ich stimme Ihnen sogar zu, dass wir nicht ohne eine ausreichende Übergangsphase auskommen werden, aber Sie müssen doch auch einsehen, dass Kohle- und Atomstrom nicht länger ernsthafte Alternativen sind. Die Uran-, Kohle- und Erdölreserven neigen sich unweigerlich dem Ende zu. Womit wollen Sie den Energiehunger denn stillen, den sie eben so lebhaft beschreiben haben, wenn diese Reserven endgültig aufgebraucht sind?«
Shane nickte Estella anerkennend zu, Meier bedachte er mit einem Kopfschütteln. »Und ausgerechnet Sie sprechen von Abhängigkeit!«
Langsam wurde das Dinner interessant. Shanes Informationslücken begannen sich zu schließen. Er konnte jetzt nachvollziehen, warum Hawkes Enterprises eine Freizeitanlage gebaut hatte, auch wenn er dem Ganzen weiterhin kritisch gegenüberstand. Die Absicht hinter dem Projekt war zwar löblich, und er erkannte durchaus das Potenzial, doch er zweifelte an der Durchführbarkeit. Jedes Bauvorhaben benötigte nun einmal seine Vorlaufzeit. An verschiedenen Standorten bezugsfertige Anlagen zu errichten, würde mindestens fünf, wenn nicht eher sieben Jahre in Anspruch nehmen, und selbst dann musste das Projekt erst noch weltweit ins Rollen kommen – ohne Garantie auf Erfolg.
»Miss Meinhard?« Ein schüchtern wirkender Mann mit kurzem, schütterem Haar hob wie ein Schuljunge die Hand. Manchen Menschen sah man ihren Einfluss einfach nicht an. »Wir haben Ihr Unternehmen bereits bei diversen Projekten unterstützt und sind jedes Mal aufs Neue fasziniert von Ihrem Ideenreichtum, aber ich fürchte, ich muss Ihrem Enthusiasmus dieses Mal einen Dämpfer verpassen.«
Er schwieg verlegen. Estella bedeute ihm, fortzufahren, auch auf die Gefahr hin, dass er das Vorhaben in ein schlechtes Licht rücken könnte.
»Sie haben vollkommen recht, dass wir mit fossilen Energiequellen unseren Energiebedarf nicht mehr lange decken können, doch Sie sollten bedenken, dass natürliche, unbegrenzte Energiequellen oft nur mit erhöhtem Aufwand und entsprechenden Maschinen gefördert werden können und dass die Förderung nicht selten, wenn auch indirekt, ins Ökosystem eingreift.«
»Was wir an der einen Stelle nehmen, fehlt uns an der anderen«, ergänzte Lennard Frank, und auch Thalia Morgan sprang auf das Thema an.
»Wir bringen die Biorhythmen unserer Erde durcheinander«, sagte sie und wischte sich mit einer Stoffserviette die Mundwinkel ab. »Unsere Ökosysteme sind ohnehin schon stark belastet, an vielen Stellen sogar überlastet. Wenn wir nun unkontrolliert darin eingreifen, könnten die Folgen verheerend sein.«
»Welch ein Dilemma!«, ertönte ein Zwischenruf. Böse Blicke wanderten zu David Meier.
»Eine Zwickmühle, mit der sich unser Unternehmen seit Jahren auseinandersetzt«, sagte Estella, »weswegen wir unsere Forschung auch auf andere Bereiche ausgeweitet haben.«
»Was meinen Sie mit ›andere Bereiche‹?« Shane reagierte blitzschnell. Als Journalist musste man den richtigen Moment abpassen, bevor sich einmal geöffnete Tore wieder verschlossen.
Estella hielt sich vage. »Sie verstehen sicherlich, dass sich einige Projekte noch in der Testphase befinden und ich Ihnen darüber leider keine genaueren Auskünfte geben darf.«
Gerade wollte Shane erneut nachhaken, als Frank intervenierte. »Ich für meinen Teil denke, dass das Projekt, weshalb wir hergekommen sind, ein guter Anfang ist. Wir werden sowieso niemals alle Probleme auf einmal lösen können. Deswegen sollten die Kraftwerke so umweltschonend und effizient wie möglich geplant werden. Mit meiner Unterstützung können Sie jedenfalls rechnen«, sagte er an Estella gerichtet und nahm Shane damit den Wind aus den Segeln.
»Danke, Mr. Frank«, entgegnete sie und setzte ihren Vortrag fort, der, je länger sie sprach, umso enthusiastischer wurde. Man konnte sehen, wie sie förmlich auftaute und ihre Unsicherheit abschüttelte.
Als sie zum Ende kam, waren alle ruhig geworden. Estella lehnte sich erleichtert zurück, und als hätte sie damit ein Startsignal gegeben, fluteten die Kellner erneut den Saal. Der Hauptgang, die lang ersehnte knochige Ente, wurde aufgetischt.
Kapitel 9
Wie ein Schatten glitt die Gestalt durch die langen Reihen der Solarkollektoren, ging geschickt den Überwachungskameras aus dem Weg und mied offene und einsehbare Stellen. Shadow hatte ein ganz bestimmtes Ziel und er würde es auch erreichen.
Soeben verschwanden die letzten Strahlen der untergehenden Sonne am Horizont und nur noch das klare, reflektierte Licht des Mondes und das der Sterne erhellte die Szenerie.
Shadow fröstelte. Zu lange schon saß er zwecks Tarnung in klimatisierten Räumen und überwachte Anzeigen und Messkurven. Das machte ihn weich und schwächlich, und manchmal ertappte er sich dabei, wie er sich ein dauerhaftes Leben in dieser Welt vorstellte und darüber fast seine wahre Bestimmung und seine Heimat vergaß.
Als Junge hatte er die Tage und Nächte immer im Freien verbracht, egal wie heiß oder kalt es gewesen war. Doch an diesem Abend spürte er, was es hieß, zu frieren. Der dünne Stoff seines schwarzen Pullovers vermochte ihn nicht zu wärmen, und er konnte es kaum erwarten, bald wieder in sein Quartier zurückzukehren.
Tagsüber war die Sahara glühend heiß, aber in der Nacht gab es keine Vegetation, die die gespeicherte Energie des Tages an die Umwelt abgab. Das helle Gestein und der fast weiße Sand besaßen eine viel zu hohe Albedo, als dass sie die Wärme hätten speichern können. Deswegen war es in der Wüste nachts lausig kalt.
Langsam bewegte sich Shadow weiter vorwärts und huschte zwischen zwei Kollektoren hindurch zur ersten Sammelstelle. Im Prinzip hasste er die Aufgabe, die vor ihm lag. Sie widersprach nicht nur seinen Prinzipien, sondern auch dem altehrwürdigen Kodex seines Volkes. Doch was blieb ihm anderes übrig als zu gehorchen – wenn ihm auf der einen Seite ein Haufen Geld winkte und auf der anderen der Tod drohte? Er hatte schlicht und ergreifend keine Wahl, also würde er tun, was er tun musste, das, was seine Auftraggeber seit Langem geplant hatten.
Schon seit Monaten weilte er unter den Mitarbeitern der Solarstromanlage, arbeitete Seite an Seite mit ihnen – und gleichzeitig gegen sie. Er war ihnen gegenüber unehrlich. Nur wenn er mit ihnen lachte, kam es von Herzen, und das versetzte ihm jedes Mal einen Stich. Wie konnte er Sympathie für den Feind empfinden? Aber respektierte nicht sogar Allah Mut und Tatkraft seiner Widersacher?
Shadow versuchte, nicht weiter darüber nachzudenken, solche Überlegungen führten zu nichts. Nicht seine religiösen Gefühle waren hier und jetzt von Bedeutung, sondern seine Kenntnisse der Physik, seine Bildung, die er an den Universitäten Europas erworben hatte und von der der Großteil seiner Landsleute nur träumen konnte. Zudem verfügte Shadow über konspirative Fähigkeiten, die ihn nahezu unentbehrlich für die Sache der Bewahrer machten. Wie viel Zeit und Geld war darin investiert worden, ihm eine perfekte Tarnung zu verschaffen? Die Bewahrer wollten keinen terroristischen Anschlag, keine offensichtliche Sabotage, sie wollten einen ›sauberen‹ Unfall. Deshalb war er hier und nicht einer der kaltblütigen Killer, die ihm schon so oft begegnet waren.
Leider hatten seine ersten Aktionen, obwohl er so behutsam wie möglich vorgegangen war, Aufmerksamkeit erregt, auch wenn er seine Spuren noch rechtzeitig hatte verwischen können. Trotzdem hatte Fritzsch Verdacht geschöpft, was dem Plan zum Verhängnis werden könnte. Von nun an durften Shadow keine Fehler mehr unterlaufen. Es musste absolut unwillkürlich aussehen, wenn er Erfolg haben wollte – haben musste, denn falls er versagte, würden sie ihn töten oder Schlimmeres mit ihm anstellen.
So war es nun einmal, wenn man für eine ebenjener Organisationen arbeitete. Man musste lernen, mit der Angst zu leben, akzeptieren, dass es einen irgendwann erwischen konnte. Es gab keine Sicherheiten, keine Garantien. Wer erstklassige Resultate ablieferte, wurde belohnt, wer sich Fehler erlaubte, bestraft. Shadow hatte sich bereits Fehler erlaubt, von denen seine Auftraggeber jedoch glücklicherweise noch nichts erfahren hatten, und wenn alles glatt lief, würde es auch so bleiben.
Er sah sich aufmerksam um. In einiger Entfernung trat ein Techniker in Overall soeben den Rückweg zum Kontrollzentrum an. Shadow hatte darauf geachtet, dass sich auch andere befugte Personen auf dem Gelände aufhielten, sodass er im Falle des Falles nicht der einzige Verdächtige war, der in Frage käme. Er war schließlich kein Anfänger!
Langsam näherte er sich dem Verteilerkasten, dessen Sicherungen er manipulieren musste, damit die Überladung später auch auf die angrenzenden Kollektoren übergriff. Die PECS-Module waren in verschiedene Bereiche und Unterbereiche unterteilt, um einen Großbrand zu verhindern. Shadows Aufgabe bestand darin, das zu ändern, indem er die Sicherungen zerstörte.
Allerdings konnte er sie nicht einfach zertrümmern; fiel eine der Sicherungen aus, wurde das im Kontrollzentrum angezeigt. Shadow würde deshalb präparierte Sicherungen einsetzen, die zwar zum betreffenden Zeitpunkt versagen, vorher aber nicht als defekt angezeigt werden würden. Dabei kam ihm zugute, dass in der Anlage viele experimentelle Technologien zum Einsatz kamen. Niemand würde später mehr mit Bestimmtheit sagen können, was genau zu dem Unfall geführt hatte.
Shadow erlaubte sich ein kleines Lächeln angesichts der Raffinesse, mit der er vorging.
Mit seiner Schlüsselkarte, deren Zugriffe glücklicherweise nicht gespeichert wurden, öffnete er den Verteilerkasten. LED-Lampen erwachten zum Leben und erhellten den Arbeitsbereich.
Er hatte so lange geübt, dass er das Auswechseln der Sicherungen im Schlaf hätte durchführen können, und so nahm das Prozedere lediglich ein paar Sekunden in Anspruch: Überbrückungsgerät anschließen, alte Sicherung ausbauen, neue einsetzen … es war ein Kinderspiel.
Er war nun fast am Ziel. Bald würde er nach Hause zurückkehren können.
Shadow blickte hinauf zur Überwachungskamera, die direkt auf ihn gerichtet war und winkte ihr dreist zu – sein eingeschleuster Trojaner II übertrug anstelle der echten Bilder eine alte Aufnahme. Der Trojaner II, eine komplizierte Weiterentwicklung des ursprünglichen Trojaners, war mit Abstand sein bisher bester Einfall gewesen. Das Programm gaukelte dem befallenen System vor, ein einfacher Trojaner zu sein, während es im Hintergrund trotz Entfernung ebenjener Schadsoftware weiterarbeitete. Somit gingen die Netzwerkadministratoren davon aus, die Gefahr gebannt zu haben, obwohl sie weiterhin aktiv war.
Shadow schraubte die letzte falsche Sicherung ein, schloss den Kasten und verschwand erneut in der Dunkelheit.
Kapitel 10
Das Dinner näherte sich dem Ende, was schon anhand der stark gemischten Gefühlsausbrüche festgemacht werden konnte. Zu Beginn hatten sich noch alle diszipliniert verhalten und halbwegs die Etikette gewahrt, doch nachdem die Diskussionen erst einmal in Gang gekommen waren, hatten sich die Gesprächsteilnehmer in unterschiedliche Lager aufgespalten und versuchten nun, das jeweils andere von ihren Idealen und Vorstellungen zu überzeugen. Hochrote Köpfe und drohende Zeigefinger waren die Folge.
Thalia Morgans bebende Unterlippe verriet, dass sie Meier am liebsten quer über den Tisch mit einem Stück ›Tart au chocolat‹ beworfen hätte – was vermutlich jeder gern getan hätte, selbst Crosswind, der als republikanischer Energiepolitiker noch annähernd auf Meiers Seite stand. Er war der einzige Amerikaner in einer Gruppe aus Europäern, was wahrscheinlich daran lag, dass Hawkes Enterprises seinen Hauptsitz in Deutschland hatte und vor allem auf europäischen Märkten führend war.
Shane schüttelte den Kopf, als er Meier puterrot anlaufen sah. Der Mann war schon immer unangenehm gewesen, doch heute setzte er dem Fass die Krone auf. Es schien, als stünde er unter noch größerem Druck als sonst, und das ließ ihn unvorsichtig werden, was man von ihm nicht gewohnt war. Sein Assistent – wie hieß er doch gleich? – flüsterte ihm etwas ins Ohr, woraufhin er sich wieder ein wenig beruhigte.
Shane hatte allmählich keinen Nerv mehr, den Gesprächen zu folgen, geschweige denn, sich selbst daran zu beteiligen. Ihm stand jetzt der Sinn nach Abwechslung. Tagein, tagaus wurde sein Leben von Wirtschaftskomplotten, der Aussichtslosigkeit der Energiepolitik und anderen wirtschaftspolitischen Scharmützeln geprägt, und es wäre gelogen, würde er behaupten, dass es ihn nicht belastete. Wenn man sich der Problematik und den daraus zeitigenden katastrophalen Folgen erst einmal bewusst war, suchte einen zwangsweise die Angst heim. Die Ressourcenknappheit war kein fernes Schreckensgespenst, von dem zukünftige Generationen betroffen sein würden, sondern eine ganz reale Bedrohung im Hier und Jetzt. Selbst Shane, der mehr Tage hinter als vor sich hatte, könnte noch miterleben, wie die Infrastruktur zusammen- und das Chaos ausbräche. Wo es keine Energie mehr gab, konnte der gewohnte Lebensstandard nicht mehr aufrechterhalten werden.
Derlei Prognosen konfrontierten Shane stets aufs Neue mit seiner eigenen Sterblichkeit. Was, wenn das Klima plötzlich total umkippte und eisige Stürme Europa heimsuchten oder Vulkanausbrüche das Land verwüsteten? Es gab unzählige Szenarien, die denkbar waren, und fast alle gingen schlecht aus: schlecht für die Menschheit.
Mit einer kurzen Entschuldigung verabschiedete er sich von Mrs. Blinow, die ihm freundlich zuzwinkerte und verließ den Saal. Die Diskussionen waren so hitzig und der Geräuschpegel so hoch, dass ihm niemand Beachtung schenkte.
Er atmete erleichtert auf, als er die Tür hinter sich geschlossen hatte und durch die große Empfangshalle wanderte, wo ihn angenehme Stille einhüllte. Ein paar Dienstmädchen warfen ihm vom Tresen aus heimliche Blicke zu und als sie dachten, er würde sie aus den Augenwinkeln nicht mehr sehen, tuschelten sie leise miteinander.
Sein Zimmer lag im ersten Stock, doch er nahm nicht die Treppe nach oben, sondern nach unten, wo sich ein kleines Spielcasino und die Bar befanden. Es fühlte sich seltsam an, allein durch die Gänge zu spazieren. Alles wirkte so leblos – was sich in Zukunft ändern würde, sobald sich hier haufenweise Touristen tummelten.
Shane hatte nicht damit gerechnet, die Bar geöffnet vorzufinden, aber anscheinend gab es einen Säufergott, der seine Gebete erhörte. Er trat ein und sah sich erst einmal um.
Ja, das war nach seinem Geschmack: ein lauschiges Plätzchen mit vielen Séparées, einem langen, stilvoll geschwungenen Bartresen und edlem Echtholzparkett. Im Hintergrund plätscherte ein Springbrunnen, das Licht war gedimmt und aus den Deckenlautsprechern rieselte dezente klassische Musik.
Shane setzte sich auf einen der Barhocker und gab dem jungen Barkeeper einen Wink.
»Sagen Sie, haben Sie Balvenie vorrätig?«
»Bedauere, Sir.« Der junge Mann suchte sicherheitshalber die langen Reihen funkelnder Whiskyflaschen ab, schüttelte dann aber den Kopf.
»Wie steht es mit Glenmorangie?«
Die Mundwinkel des Barkeepers schnellten nach oben. »Ich habe eine Flasche Jahrgang 2009.«
Shane nickte zufrieden und sah zu, wie sich die bernsteinfarbene Flüssigkeit in seinem Glas verteilte.
Der Barkeeper beugte sich ein wenig vor. »Wenn Sie mich fragen, kommt die leichte Vanille-Note erst durch den Oloroso Sherry wirklich zur Geltung.«
»Oh, Sie sind ein Kenner, angenehm erfreut!«, sagte Shane beeindruckt.
»Einen Gast, der zu mir in die Gruft hinabsteigt, während oben die Party in vollem Gange ist, muss man angenehm erfreuen.« Es lag weder Zynismus noch sonst eine Spur von Ironie in seinen Worten, nur Verständnis für Shanes Situation.
Der Geschmack des Whiskys und die gediegene Atmosphäre ließen Shane allmählich zur Ruhe kommen. Seine Gedanken hörten auf zu kreisen und eine wohlige Wärme breitete sich in seinem Bauch aus.
»Hier stecken Sie also«, sagte plötzlich eine vertraute Stimme, und Estella Meinhard ließ sich neben ihm auf einem Barhocker nieder.
Shane musterte sie von der Seite. »Sollten Sie nicht da oben sein?«, fragte er ein wenig schelmisch und deutete auf die Decke. Andererseits überraschte es ihn nicht, sie hier zu sehen. Im Speisesaal schlugen sich in diesem Moment wahrscheinlich alle die Köpfe ein.
»Wer im Glashaus sitzt …«
»Schon gut, schon gut«, sagte Shane beschwichtigend. »Besorgen wir Ihnen erst einmal einen Drink!«
***
»Sie sind ganz schön gesprächig für jemanden, der mich gestern noch am liebsten in den Wind gestoßen hätte.«
»Sie hören nur nicht zu«, entgegnete Estella. »Ich sagte lediglich, dass ich noch einiges zu tun hätte.«
»Ja, stimmt, das sagten Sie.« Shane prostete ihr zu.
Er war gleichermaßen überrascht wie erfreut, dass sie bei ihm an der Bar geblieben war. Estella fühlte sich von seiner unverblümten Art offensichtlich weder abgestoßen noch schien sie davon sonderlich beeindruckt. Nach drei Drinks und einigen sarkastischen Bemerkungen entstand allmählich sogar so etwas wie Freundschaft zwischen ihnen – falls es das zwischen Mann und Frau überhaupt gab. Wenn Shane O’Brien eines aus seinen Beziehungen gelernt hatte, dann, dass Frauen keine Kumpels und Männer keine besten Freundinnen waren. Das klärte sich spätestens, wenn die Gespräche auf Sport oder Shopping kamen.
»Haben Sie Geschwister?«, fragte sie ihn plötzlich.
»Nein, Einzelkind. Und bei Ihnen?«
»Drei Schwestern«, begann sie mit einem tiefen Seufzer. »Es war nicht immer einfach.«
»Kommen Sie mir jetzt bloß mit so einer kleinbürgerlichen Schreckensgeschichte.«
»Sie haben echt das Einfühlungsvermögen eines Hammers.«
»Aber dafür die Aufnahmefähigkeit eines Ambosses. Na kommen Sie, erzählen Sie schon!«
Estella musste lachen. »Okay, ja, ich bin in einer kleinbürgerlichen Familie aufgewachsen, und ja, ich wollte schon immer mehr erreichen als nur Kassiererin an einer verstaubten Supermarktkasse zu werden. Nur wie überzeugt man als Zwölfjährige seine Eltern, die beide im Baumarkt arbeiten, auf das Gymnasium gehen zu wollen? Irgendwie habe ich es dann doch geschafft, und als ich alt genug war, auszuziehen, war ich auch schon weg. Ich jobbte neben dem Studium, um mich über Wasser zu halten. Solche Zustände haben Sie sicherlich nie kennengelernt – als Einzelkind.«
Shanes Miene nahm etwas Melancholisches an. »Nein, solche Probleme habe ich in der Tat nicht gekannt. Wenn Sie mich für so elitär halten, wieso unterhalten Sie sich dann mit mir?«
»Ich entdecke gerade ein neues Talent an Ihnen«, wich sie der Frage geschickt aus. »Sie verfügen über die Begabung, blitzschnell die Stimmung kaputtzumachen. Patrick meinte, ich solle mich vor Ihnen in Acht nehmen … genau das hat meine Neugier geweckt.«
»Das Bad-Guy-Phänomen, hm.«
Shane nutzte den Moment, um in ihren tiefblauen Augen nach der Persönlichkeit zu suchen, die dahinter steckte, denn er hatte den Eindruck, dass sie ihm etwas vormachte. Das hinderte ihn allerdings nicht daran, sie immer anziehender zu finden. Der Alkohol tat sein Übriges, und schon rauschte eine Welle unterschiedlichster Gefühle durch seinen Körper. Es kam nicht oft vor, dass ihn etwas so überrumpelte, und er wollte den Moment auskosten. Innerhalb kürzester Zeit hatte Estella etwas geschafft, woran bis jetzt noch jede Frau gescheitert war: das in ihm zu berühren, was ihn wirklich ausmachte.
»Es ist sehr … stickig hier drinnen, meinen Sie nicht?«, stammelte er etwas unbeholfen. »Vielleicht sollten wir ein paar Schritte …«
Sie überlegte einen Moment und nickte dann. »Ich kenne eine schöne Strecke.«
Draußen hatte es sich deutlich abgekühlt, und ein frischer Wind blies von Nord-Ost. Er reichte ihr sein Jackett, während sie sich in Richtung der Solarkollektoren auf den Weg machten. Die Strecke führte sie außen um den See herum, durch einen kleinen Palmenwald, der von Scheinwerfern farbig angestrahlt wurde. Danach kam eine Rasenfläche, auf der sie stehen blieben, um in den Himmel zu schauen.
»Die Sterne sind hier viel heller als bei uns in Deutschland«, sagte sie und streckte die Hand aus, als wollte sie einen der strahlenden Himmelskörper einfangen und zu sich heranziehen. »Zum Greifen nah.«
Shane folgte ihrem Blick. Alltägliches wie Sterne wurden zu etwas ganz Besonderem, wenn man sie mit einem anderen Menschen betrachtete.
»Ich hatte nie wirklich die Zeit, Dinge zu genießen.« Ein Hauch von Bedauern lag in seiner Stimme.
»Ich habe einen Weg gefunden, wie ich mich von der Zeit frei machen kann. Einmal im Jahr nehme ich Urlaub und reise an Orte, wo Zeit nur in Form von Sonnenaufgang und Sonnenuntergang besteht. Ohne Uhren lebt es sich mitunter leichter. Wenn man erst einmal das Gefühl abgestreift hat, alles akribisch planen zu müssen, wird die Welt augenblicklich farbenfroher, freundlicher, ja sogar friedlicher. Manchmal wünschte ich, ich hätte vor zweitausend Jahren gelebt. Schade, dass so vieles von dieser Lebenseinstellung verloren gegangen ist.«
Shane nickte zustimmend. »Als ich noch ein kleiner Junge war, ist mein Vater oft verreist und manchmal durfte ich ihn sogar begleiten. Er brachte mich an zahlreiche außergewöhnliche Orte, und ich bin dankbar, dass ich an seiner Seite so viel lernen durfte. Aber die Erlebnisse waren auch … behaftet.«
»In welcher Hinsicht?«
»Mein Vater war Diplomat im Dienst der Queen, ein Weltverbesserer. Ich kam also nicht umhin, die Schattenseiten dieser Länder kennenzulernen. Nicht, dass er mich in direkte Krisengebiete mitgenommen hätte, aber ich habe vieles erlebt, was meine Weltsicht für immer verändert hat.«
»Es hat dich zu dem gemacht, was du heute bist«, sagte Estella und ging damit zum ›Du‹ über, was Shane nur recht war. Er hasste Höflichkeitsfloskeln, auch wenn sie manchmal notwendig waren, um in entsprechenden Gesellschaftsschichten verkehren zu können.
»Es gibt Momente, da wünschte ich, dass es nicht so wäre.«
Estella stand ihm nun genau gegenüber. Sie spürte, dass er etwas zurückhielt.
»Wie verarbeitest du die Gewissheit, dass die Welt, wie du sie kennst, nicht mehr lange existieren wird?«, fragte er nach einem Moment. »Kannst du dabei ruhig schlafen?«
»Ich kann nachvollziehen, wie du dich fühlst«, sagte Estella verständnisvoll. »Die meisten Menschen blenden einfach aus, was ihnen Angst bereitet; wir dagegen müssen uns tagtäglich damit auseinandersetzen. Ich für meinen Teil bin für ein Unternehmen tätig, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Welt zu einem besseren Ort zu machen und unsere Zukunft zu sichern. Ich arbeite hart und wenn ich nach Hause komme, weiß ich, dass ich alles in meiner Macht Stehende getan habe. Dann verbanne ich die Angst aus meinem Kopf und versuche, mein Privatleben zu genießen.




