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„Ach nee“, meinte der Graf, „dann bist du also das erste Arbeitsgruppenmitglied?“
„Nein, dazu braucht es Beine, die laufen könnten - und schau meine an... Ich käme nie weg, falls es einmal knapp werden sollte.“
„Mit dem Rennen tun wir uns alle schwer.“
„Nein, das meine ich ja nicht, bei mir ist es ja auch das Laufen im Sinne von Gehen; ich habe auch nicht die Nerven dafür. Und ich sehe euch schon durch Polen und durch die Ukraine fahren. Ich habe einen anderen Vorschlag: Ich mache den Finanzier! Diese Arbeit machen Udo und der Graf, schlage ich vor.“
„Per Akklamation angenommen“, sagte Wolf-Dieter, „dann legt mal los, ihr beiden! Ich schlage vor, ich mache erst ein paar Internetrecherchen in wechselnden Internet-Cafés natürlich, und dann sollte einer von uns in den Lesesaal der Staatsbibliothek gehen, da ist man ziemlich anonym. Ich habe da vor Jahren mal ein Buch gefunden, das ging über Rechtsmedizin – alle Arten zu morden waren darin beschrieben und wie die Polizei sie nachweist. Vielleicht finden wir es ja wieder?“
Er musste eine kurze Hustenpause einlegen und fuhr dann fort: „Ich meine, eigentlich könnten wir alten Zausel in unserer Situation ja sogar mit rauchender Pistole neben dem Opfer stehen bleiben, uns traut keiner was zu, aber was, wenn einer zwei oder drei Leute umnieten will – und man muss sich ja auch nicht gleich selber wegwerfen.“
„Sag mal“, sagte Sarah entgeistert, „sprichst du jetzt von Massenmord, oder was? Bist du krank? Ich meine, wir reden hier ernsthaft davon, dass und wie wir ein paar Leute umbringen, die uns früher mal etwas angetan haben, das ist ja schon krank genug, finde ich, aber jetzt jeder gleich mehrere bis viele vielleicht?“
„War nicht so gemeint“, lachte Wolf-Dieter sie an und dachte insgeheim, dass sie eigentlich ja Recht hätte.
„Nun mal halblang mit den jungen Pferden“, sagte der Graf, „noch machen wir gar nichts, weil wir gar nichts machen können.“
„Aber wenn, dann doch...“
„Aber erst dann!“
„Und wenn wir die Pistolen haben?“
„Dann?“
„Dann muss jeder für sich entscheiden, was er damit machen will. Keine Absprachen, kein Reingerede.“
„Aber man darf die anderen dabei nicht gefährden.“
„Nein, keinesfalls!“
„Fünfundneunzig Prozent der Morde werden aufgeklärt, weil enge Verwandte die Mörder waren, oder weil enge Beziehungen zwischen Opfer und Mörder bestanden“, sagte Hanna, „die findet die Polizei schnell.“
„Solche sind ausgeschlossen!“
„Und den Rest der Mörder kriegen sie, weil die dem Geld folgten. Unsere Opfer dürfen also keine Verwandten sein, zumindest keine nahen, und wir dürfen keinen Profit aus der Sache ziehen. Nur Befriedigung! Dann haben wir gute Chancen, davon zu kommen“, ergänzte Hanna.
„Obwohl das eigentlich nicht wichtig ist, das Davonkommen, meine ich“, gab der Graf zu bedenken, „aber gleich beim ersten Mal danach Selbstmord, nein danke!“
„Jetzt ist der schon wieder beim Massenmord“, stöhnte Sarah.
„Nein“, sagte der Graf, „aber ich bleibe auch nicht neben der Leiche stehen – oder vielleicht doch, wenn`s mich nämlich umhaut, moralisch oder so. Aber man kann`s doch auch sportlich sehen, oder?“
Sarah stöhnte nur lauter auf und sagte nichts.
„Naja“, sagte Hanna lächelnd in die Runde, „ich habe noch eine ganz besondere Flasche Champagner aufgehoben, vielleicht ist jetzt der Moment, sie zu köpfen? Sarah, wärest du so nett? Sie steht auf Eis in der Speis, und Wolf-Dieter, holst du die Gläser?“
Udo öffnete die Flasche ganz zart und goss die Gläser voll. Als er Tante Greten ihres geben wollte, schaute er suchend in die Runde: „Nanu, wo ist sie denn hin, unsere Alterspräsidentin?“
In dem Moment ging die Tür auf und Tante Greten kam herein. In ihrer Hand hielt sie einen in einen grauen Lappen eingewickelten Gegenstand, den sie auf den Tisch legte. „Hier“, kicherte sie, „ich bin bereit“, und damit wickelte sie eine alte Pistole aus, „was die Hannelore hatte, habe ich schon lange.“ Alle schauten sie verblüfft an. „Tante Greten“, sagte Hanna, „ich wusste ja gar nicht...“
„Ach, Kindchen“, sagte Tante Greten, „Du weißt so viel nicht! Von mir aus kann`s losgehen!“. Sie nahm ein Glas und sagte fröhlich in die Runde: „Prost! Habt ihr schon wen?“
„Was meinst Du?“, fragte Hanna.
„Ob ihr schon einen ausgeguckt habt? Ich bin bereit!“. Sie schaute jetzt listig in die Runde, „wisst Ihr, mit sechsundsechzig Jahren mag das Leben angefangen haben, sagt Udo, Udo Jürgens! Nicht Du, Udo. Aber mit achtundachtzig hat man nicht mehr viel Zeit. Da eilt das, alles, meine ich? Also wer?“
„So schnell schießen die Preußen nicht, Tante Greten“, sagte Udo lachend.
„Hab` ich mir doch gedacht, dass ihr nix gebacken kriegt!“, antwortete Tante Greten und wickelte die Pistole wieder ein, „naja, jedenfalls wisst Ihr, wo ihr eine herbekommen könnt.“ Drehte sich um, sagte „Gute Nacht!“, und verschwand.
Aber kaum war die Tür hinter ihr zu, öffnete sie sie wieder, schaute Udo an und fragte: „Udo, hast du morgen Vormittag mal Zeit, für mich – der Wasserhahn tropft, das nervt! Oder kommst du zum Frühstück? Dann bekomme ich auch mal Semmeln.“
„Klar“, sagte Udo, „ich hole Brötchen. Ich komme so gegen zehn.“
Jetzt verschwand Tante Greten endgültig.
Hanna schaute stolz in die stumme Runde, lachte laut auf und meinte: „Wer hätte das gedacht, meine Tante Greten...“
„Ab sofort: Unsere Tante Greten!“ sagte der Graf, der froh war, endlich zur Toilette gehen zu können „machen wir Schluss für heute.“ Und damit löste sich die Runde auf.
21. März. Bei Tante Greten
9.45 Uhr. Gegen viertel vor zehn erschien Udo im Laden, grüßte fröhlich mit „Moin Moin!“, und sah, dass er allein im Laden war. „Hallo“, rief er, „Frau Z.? Keiner da?“
Hinten in der Küche rumorte es eine Zeit lang, dann erschien die strahlende Frau Z., sich die Hände in einem Küchenhandtuch abtrocknend.
Sie mochte Udo und vor allem seinen norddeutschen Dialekt. Manchmal sagte sie „Udo, sagen sie doch mal was, das ist immer so lustig.“. Sie meinte aber nicht „witzig“, sie meinte eher, dass es sich für bayerische Ohren ungewohnt und damit irgendwie etwas lustig anhörte, wenn Udo auf „Hamburger-Hafen-Modus“ umschaltete und dann irgendwelche Döntjes aus seinen Hafen-Jahren zum Besten gab. Die mussten auch nicht wahr sein, wenn es nach Frau Z. ging, sie sollten sich nur „schee“ anhören – und sie waren ja auch nie „wahr“ - oder wenn doch, glaubte sie trotzdem niemand.
„Moin“, sagte Udo jetzt im halben „Hamburg-Modus“, um Frau Z. eine kleine Freunde zu machen, „ham´ sie noch Brötchen?“
Brötchen - das war in München so eine Sache, Brötchen gibt es in Norddeutschland (Udo betonte stets, dass es Brötchen in „Deutschland“ gäbe!), in München gibt es keine Brötchen, da sind das Semmeln.
Also lernte er gleich mal wieder, aber richtig: „Aber Udo, des san‘d doch Semmän!“
„Auch gut, ich nehme drei und eine Brezel.“
„Brezn. So an großen Hunger heut früh? Oder müssen sie eine Dame zum Frühstück bewirten, sie Schlimmer?“, fragte Frau Z.
„Nö“, sagte Udo, „nix da mit die Frunslüüd... Das ist lange her.“
„Nana, sie sind doch ein stattliches Mannsbild, Udo, wirklich, da wird doch scho no was gehn, oder?“
„Hhm“, machte Udo, „ach nö, wissen Sie, das ist so kompliziert mit die Frauen, nee, ich gehe nur zu Tante Greten zum Frühstück, da leckt der Wasserhahn!“
„Müssens mal wieder was reparieren, gell? Na, sie haben schon ein gutes Herz Wenn wir sie hier nicht hätten…“
„Ach“, sagte Udo, „da nicht für! Kann ich jetzt meine Brötchen haben, Tante Greten fällt sonst vor Hunger vom Hocker.“
„Ach Udo, sie aber immer, sie sagen solchene Sachen, die fällt doch nicht vom Hocker, weil, die hat doch gar keinen. Ja, natürlich“, beeilte sich Frau Z. daraufhin, „die Brötchen, oh, mein Gott, jetzt sage ich auch schon Brööötchen statt Semmeln, sie können eine arme Frau aber auch ganz schön durcheinander bringen, Udo“, lachte sie und reichte ihm dann die Tüte. „Brauchens auch an Aufschnitt oder einen Butter?“
„Nö, das wird Tante Greten schon haben, sonst gibt es Marmelade.“
„Ja, Marmelade hat sie gestern gekauft, Kirsche und Johannisbeere und an Butter müsste sie eigentlich auch noch daheim haben...“
„Na, denn kann ja nix schiefgehen“, lachte jetzt Udo, „gut, dass sie so etwas alles wissen.“
„Ach, das ist ja nur, weil sie gestern erst hier war. Sonst wüsste ich das ja nicht, ich bin ja auch nicht neugierig.“ Und als Udo sich schon umdrehen wollte, um zu gehen, sagte sie: „Ich krieg fei noch einen Euro achtzig.“
„Oh, Entschuldigung“, entgegnete Udo, „das kommt von das Palavern, nicht?“
„Das...was?“
„Das kommt von dem vielen Gerede“, er gab ihr zwei Euro, „passt schon, der Rest ist für die Wechselkasse!“. Frau Z. legte das Geld in die Kasse, entnahm der sorgfältig zwanzig Cent und warf sie in das Einweckglas auf dem Warmhalteofen für den warmen Leberkäs und fragte dann: „Das war schon eine schöne Trauerfeier gestern, net wahr?“
„Ja, war ganz nett.“
„Nett? Nur nett? Also ich weiß nicht, ich fand sie schön – und die Blumen waren so schön.“
„Ja, obwohl – ein paar von den anderen hätten wohl es wohl lieber klassisch gehabt, so mit einem richtigen Kranz mit Schleife, nicht?“
„Hat es Ihnen denn nicht gefallen? Der Blumenteppich von den Blumenbuben, meine ich.“
„Ich fand´s sehr gut.“
„Na, dann ist ja alles in Ordnung!“
„Den Brief haben sie sehr schön vorgelesen.“
„Ja? Danke, gell! Obwohl – ich musste an mehreren Stellen fast weinen.“
„Das mussten doch alle.“
„Naja, es war aber auch traurig, nicht? Einfach so den Vater von der eigenen Tochter erschießen...“
„Sie fand, sie hätte genügend Gründe.“
„Ja schon, aber es dann auch zu machen, also zu schießen, meine ich. Sie haben ihr scho a bissi g‘holfen, nicht?“
Jetzt wurde Udo aber aufmerksam und sehr vorsichtig: „Wie kommen sie denn darauf?“
„Ich dachte halt, ich hätte so etwas gehört.“
„Was denn?“
„Dass sie sie hingefahren hätten?“
„Unsinn! Wie denn, ich habe doch gar kein Auto, nee, Frau Z., da hat ein unverantwortliches Plappermaul Tüttelkram erzählt, wer denn?“
„Tüt...was?“
„Tüttelkram, Frau Z., Lügengeschichten!“
„Ach so, ja, die Frau Plüschke, die verzählt...“
„Ach so, die Plüschke, die kann`s Maul unter der Perücke mal wieder nicht halten, was? Und der ausgerechnet glauben Sie?
„Nein, natürlich nicht, der doch nicht, aber ich dachte, ich frage mal... bevor es jemand anderer tut, Udo!“
„Sie haben das doch gestern auch selber vorgelesen, dass sie es allein getan hat, ganz alleine.“
„Ja klar, Udo“, sagte Frau Z. bestimmt, „da hams recht, da sehen sie mal, was andere für einen Schmarrn rumerzählen. Na, die soll mir wieder unter die Augen kommen, die Plüschke, die bläde Amsel. Also nun gehns a mal zu, sonst wartet die Tante Greten bis zum Mittag auf ihre Frühstücks-Semmel. Wollen sie nicht noch zwei Eier mitnehmen? Die hat sie nämlich nicht, soviel ich weiß, halt.“
„Gute Idee! Zwei.“
„Weiße oder braune?“
„Ist egal, ach, lieber braune – das sieht mehr nach Heckenkratzer aus...“
Als Udo den Laden mit den Semmeln, der Brezn und zwei braunen Eiern in einer Papiertüte verließ, saß Herr F. auf einer umgedrehten Bierkiste neben der Ladentür, eine Zigarette rauchend, und hatte den Hübnerplatz „optisch voll im Griff“. Er grüßte Udo mit den Worten, dass sein Tag lang, segensreich und erfolgreich sein möge... Udo wünschte ihm dasselbe.
„Ach“, sagte Herr F. von unten herauf und qualmte, „ich habe da einen neuen Rotwein... vom Feinsten sage ich Ihnen, Udo, den müssen sie probieren. Ein Franzose. Super bewertet! Neun Euros die Flasche!“
„Na, dann legen sie mir eine Kiste zurück!“
„Höchstens fünf Flaschen, eine muss ich selber trinken.“
„Na gut“, sagte Udo, „ich schaue heute Nachmittag noch einmal rein. Der Sancerre von letzter Woche war übrigens S-pitze!“, und stolperte dabei gewollt „etwas über den spitzen Stein - von wegen dem Hamburger, den er heute Morgen im Laden gab.
„Ja, nicht?“, antwortete Herr F. „der ist richtig gut!“, und schmatzte leicht bei der schönen Erinnerung, die der Wein auf seiner Zunge hinterlassen hatte, „ich kriege davon noch ein paar Kisten.“
„Sagen sie mir Bescheid, wenn die da sind!“. Damit verabschiedete sich Udo und trottete zu Tante Greten, die ja nur ein paar Häuser weiter wohnte.
Er klingelte und Tante Greten betätigte nach geraumer Zeit den Summer. Udo lief die Treppen hinauf (also, um ehrlich zu sein, als „hinaufstürmen“, „hinaufrennen“ oder „hinauflaufen“ konnte man es nicht wirklich bezeichnen, aber er beeilte sich zumindest) und kam bei Tante Greten im zweiten Stock etwas atemlos an.
„Na“, fragte Tante Greten, „hast du dich im Laden festgeredet?“
„Bin ich zu spät?“
„Nein, aber ich habe Hunger, sonst frühstücke ich ja früher – es heißt doch nicht umsonst Frühstück“, lachte die alte Dame, die schon vollständig angezogen war: Schuhe, Rock, Pulli und daraus lugte ein Spitzenkragen. Die grauen Haare waren mit der Dauerwelle, der sie ab und zu mit der Brennschere nachhalf, immer adrett. Richtig flott sah sie aus mit ihren achtundachtzig Jahren!
„Was gibt es denn?“, fragte sie neugierig.
„Semmeln oder Brezn habe ich mitgebracht, was willst Du?“
„Hast du Eier mitgebracht? Frau Z. hat dir doch sicher gesagt, dass ich keine im Hause habe?“
„Jawohl! Zwei Stück.“
„Da ist der Eierpiekser und das Wasser habe ich schon aufgesetzt. Machst du das bitte?“
Udo war ohne weiteres in der Lage, nach solchen Vorgaben zwei weich gekochte Eier herbei zu zaubern.
„Ich habe im Wohnzimmer am Fenster gedeckt, da scheint die Sonne so schön rein um diese Zeit“, rief Tante Greten aus dem Zimmer über den Flur, „Kaffee ist auch schon fertig. Du trinkst doch Kaffee? Oder willst du lieber Tee? Tee steht oben rechts im Küchenschrank.“
Tante Greten hatte eine klassische alte Küche mit Gasherd, Küchentisch und Küchenschrank (der mit den zwei Glastürchen und dem Brotfach).
„Kaffee ist okay!“, rief Udo zurück.
„Wie bitte?“, rief Tante Greten, „ich höre in letzter Zeit etwas schlechter, weißt du“, und damit kam sie in die Küche.
„Kaffee ist genau das Richtige für mich“, sagte Udo also noch einmal und schaute sich um, „welcher Hahn tropft denn?“
„Der im Badezimmer, aber jetzt wollen wir erst einmal frühstücken, die Sonne scheint so schön!“
Der Küchenwecker, den Udo eingestellt hatte, klingelte, um anzuzeigen, dass die Eier weich sein müssten. Udo stellte also das Gas unter dem Topf aus und schreckte die Eier fachkundig unter kaltem Wasser ab.
„Perfekt!“, lobte ihn Tante Greten.
„Gelernt ist gelernt!“, meinte Udo nur und stellte die Eier in die Eierbecher aus Bakelit. „Echte Antiquitäten!“, bewunderte er die.
„Ja“, sagte Tante Greten, „die muss ich mir 1950 gekauft haben oder warte mal, das war wohl eher 55, glaube ich. Die halten ewig, das ist nicht so ein neumodisches Zeug, das gleich kaputt geht. Naja, ich bin eine alte Frau, da muss ich wohl die alten Zeiten besser finden als die neuen, oder?“. Sie fasste Udo am Arm „nun komm, sonst werden die Eier kalt – und ich esse nur selten ein Frühstücksei, ich freue mich schon darauf. Ansonsten habe ich noch zwei Marmeladen.“
„Kirsche und Johannisbeere…“
„Woher weißt du das, Udo?“, fragte Tante Greten, dann lachte sie, „ach so, klar, Frau Z. – die ist lieb, nicht? Die kümmert sich so rührend um uns, ihre Alten. Wenn ich mal ein paar Tage nicht bei ihr im Laden war, dann kommt sie und schaut nach, ob ich noch lebe. Sie hat natürlich immer einen guten anderen Grund reinzuschauen, sie kann ja nicht sagen, sie wollte nur wissen, ob ich noch lebe oder schon tot in der Wohnung vermodere... Nun schau nicht so! Dabei ist ihre Sorge doch berechtigt – in meinem Alter! Nein, ich mag sie und ihren Herrn F., was täten wir hier ohne die? Die müssten mal einen Orden bekommen für das, was die leisten – aber den geben sich die Politiker lieber selber.“
Sie schüttelt den Kopf. „Politiker!“, schimpfte sie noch einmal, „hast du gelesen, dass der Oberbürgermeister sich ein halbes Jahr lang aus seinem Amt hat beurlauben lassen, weil er Wahlkampf gegen den Ministerpräsidenten betreiben will, diesen Herrn Seehofer, den – naja – Wendehals? Also ich weiß nicht, gehört sich das?“
„Und die Eier von der Frau Z, die sind besonders gut“, wechselte sie wieder das Thema, „die hat einen Eiermann, der kommt einmal die Woche, glaube ich, und der hat noch so richtige Hühner, die frei herumlaufen.“
„Heckenkratzer!“, unterbrach Udo sie.
„Genau, so sagt man wohl, Heckenkratzer, die laufen frei rum und picken alles Mögliche auf, nicht so wie die armen Industriehühner... brr, ich habe das neulich im Fernsehen wieder gesehen, grauenhaft, sage ich Dir. Dass die Leute solche Eier überhaupt kaufen... und wenn du die brätst, diese scheußlichen Eier, da ist das Eigelb gar nicht richtig gelb und steht auch nicht so schön fest und hoch über dem Eiweiß“, und dabei schüttelte sie sich „weil, frisch sind die auch nicht, das sieht man am Dotter“.
„Du bist gut informiert, Tante Greten!“, lobte Udo die Eierkundige.
„Du meinst wohl, eine alte Frau interessiert sich nicht mehr? Da in der Ecke“, sie nickte in die Ecke hinter Udo, der sich umdrehte und einen sehr hohen Stapel Zeitschriften sah, „da hast du alle Spiegel-Ausgaben der letzten beiden Jahre... alle gelesen und die Tageszeitung lese ich auch. Und ich mach das Sokudu, ähm, Sodoku. Das hättest du nicht gedacht, was? Nimmst du eine Semmel oder die Brezn zum Ei?“. Nachdem Udo mit den Schultern gezuckt hatte, entschied sie sich für die Brezn.
„Die sind auch von der Frau Z., naja, besser als manche andere. Du hattest wohl keine Lust, zum Bäcker in der Volkartstraße zu gehen?“
„Nee, hatte ich keine Lust zu.“
Dann saßen sie schweigend im Sonnenlicht, verputzten ihr Frühstück und ließen den lieben Gott einen guten Mann sein.
„Bist du nur zum Frühstücken gekommen oder willst du auch arbeiten?“, fragte die alte Dame nach einer geruhsamen Weile. „Eine Zange und einen Schraubenzieher habe ich dir hingelegt, wenn du etwas anderes brauchen solltest, kriegen wir Probleme.“
„Wird schon gehen“, murmelte Udo im Aufstehen,
„Was?“, sagte Tante Greten und hielt sich die Hand hinter ein Ohr, „ich bin eine alte Frau und höre nicht mehr gut. Du musst schon laut und deutlich mit mir reden und zu mir gewandt!“. Sie lachte Udo bei diesen Worten schelmisch an.
„Schon gut“, sagte der diesmal laut und deutlich und zu ihr hin, „ich schaue mal...“
„Brüllen musst du nun auch nicht, ich bin ja nicht taub!“
Udo lachte nur, ging ins Bad und kam nach fünf Minuten wieder ins Wohnzimmer.
„Alles klar“, sagte er, „War ´nen Klacks! Tropft nicht mehr!“
Tante Greten hatte in der Zwischenzeit das Frühstücksgeschirr abgeräumt, jetzt standen da zwei Likörgläser auf dem Tisch.
„Ein Likörchen?“, lächelte sie ihn an, „ist ja noch früh am Morgen, naja, nicht mehr ganz so früh, du hast ja so getrödelt... da kann eine alte Frau schon etwas zur Stärkung gebrauchen... Oder ist Likör nichts für dich, willst du was Stärkeres für den starken Mann? Ich hätte noch einen Doppelkorn, schön kalt.“
„Na denn nehme ich den Korn“, sagte Udo und schaute skeptisch auf die alten Likörgläser, die sich weit nach oben öffneten und die einen Schliff aufwiesen. So etwas sah man nicht mehr oft.
„Korn ist im Kühlfach“, sagte Tante Greten, „und weil ich eine so alte Dame bin...“
„...hol ich mir den selber!“, führte Udo ihren Satz zu Ende. Schmunzelnd kam er zurück und hielt eine Miniflasche in der Hand: „Was soll das denn sein? Soll das einmal eine richtige Flasche werden?“
„Eine Doppelportionsflasche Doppelkorn, gut gekühlt. Ich trinke das Zeug nicht, da muss man sich ja schütteln, brrr, das habe ich nur für dich geholt. Da bin ich extra zum Kiosk gegangen – weil, das mit dem Korn muss Frau Z. ja nicht wissen, finde ich, sonst denkt die noch, ich trinke so etwas.“
„Und weil der Wasserhahn so selten tropft, hast du gedacht, eine erwachsene Flasche wäre Verschwendung.“
„So in etwa“, bestätigte Tante Greten und goss sich einen ordentlichen Likör ein: „Prost, mein Junge!“, sagte sie und nuckelte das Glas langsam, aber ohne es zwischendurch abzusetzen, leer. „Lecker!“, sagte sie abschließend und stellte das Glas weg. „Als ich jung war, haben wir die Gläser noch ausgeschleckt. Gab ja nichts in der schlechten Zeit... Aber in meinem Alter gehört sich das ja nicht mehr, die Zunge so rauszustecken, meine ich! Oder“, fragte sie, „macht es dir nichts aus?“
Als Udo den Kopf schüttelte, nahm sie ihr Glas und leckte es aus, stellte sie es zufrieden wieder auf den Tisch. Dabei sah sie wie ein junges Mädchen aus, das einen frechen Streich ausgeheckt hatte. „So schmeckt es doppelt so gut!“, lächelte sie Udo an. „Schade, dass die schönen Zeiten so schnell vergehen... vergangen sind...“
„Du bist wann geboren?“, fragte Udo, „ich meine, ich will nicht unhöflich sein bei einer Dame...“
„Ach was“, winkte Tante Greten ab, „1920!“
„Dann warst du bei Kriegsausbruch 19 und 26 bei Kriegsende...“
„Ja, die ganze Jugend war vom Krieg versaut und die Jahre davor waren ja auch schon kein Zuckerschlecken.“
Udo deutete auf das Bild eines sehr jungen und sehr gut aussehenden Soldaten in schwarzer Uniform, das auf der Anrichte stand und fragte: „Wenn ich fragen darf, Tante Greten, wer ist das?“
Sie schaute auf das Bild, zuckte mit den Schultern, atmete tief durch und sagte: „Das ist der Hans, mein Mann...“
„Du warst verheiratet? Das wusste ich ja gar nicht.“
„Ja, naja, irgendwie schon...“
Udo schaute sie fragend an, sagte aber nichts. Er wartete, dass sie weitersprach – wenn sie es wollte.
„Er war der schönste junge Mann in der Straße, ach was, in der Stadt! Ich war damals auch sehr hübsch, musst du wissen... Wir gehörten zusammen... wir waren sehr jung. Er war gute zwanzig, ich war achtzehn als wir uns... verliebten.“
Sie schaute jetzt ins Nichts, holte wohl die Erinnerungen hervor – oder drängte einige zurück. Sie stand auf, nahm das Bild in beide Hände, schaute es lange an, küsste es und hielt es schließlich gegen den Busen gedrückt.
„Er hat sich 1940 freiwillig gemeldet. Zur SS, genauer zur Waffen-SS. Du weißt was das ist oder war? Sie haben ihn mit Kusshand genommen, er war so groß, so blond, so schön – und intelligent war er auch! Er ist nicht mehr zurückgekommen. Er wird wohl gefallen sein.“
Sie hatte Tränen in den Augen. „Ich habe ihn geliebt! Nie wieder habe ich so lieben können.“ Sie schnäuzte sich und tupfte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. „Entschuldige bitte!“, sagte sie, „ich habe so lange nicht mehr geweint. Aber es kommt plötzlich alles so hoch... als ob es gestern wäre.“
Sie saß am Frühstückstisch, das Bild hatte sie jetzt vor sich auf den Tisch gestellt. Sie blickte durch die Tränen aus dem Fenster, sah in die Ferne, in eine andere Zeit... Dann begann sie zu erzählen.
„Es war eine sogenannte Ferntrauung. So etwas gab es damals. Man konnte sogar einen gefallenen Soldaten noch heiraten, denk nur mal! Aber meiner hat da noch gelebt, da war es eine Ferntrauung. Ich war auf dem Standesamt – mit weißem Kleid! - und zwei Trauzeugen. Im Standesamt lag auf dem Stuhl, auf dem Hans hätte sitzen sollen, ein Stahlhelm... und bei ihm war das ähnlich, nur dass da natürlich kein Standesbeamter war, sondern seine Vorgesetzten. Ja und dann waren wir verheiratet und haben uns trotzdem nie wiedergesehen! Und eine Hochzeitsnacht hat es also auch nie gegeben für uns. Ich war eine verheiratete Frau geworden und eine Jungfrau geblieben! Udo, das war und ist ein Scheißleben!“, entfuhr es ihr plötzlich – so einen Ausdruck hatte Udo von ihr noch nie gehört - und fuhr leise, fast flüsternd fort: „Ich weiß ja nicht einmal, ob er wirklich tot ist. Ich glaube es aber, ich fühle es... Und er hat sich dann irgendwann nicht mehr gemeldet. Erst kamen die Briefe ganz regelmäßig und dann plötzlich nicht mehr. Da habe ich es schon gewusst. Aber gehofft, gehofft habe ich immer, tue es noch, glaube ich. Als damals die Gefangentransporte aus Russland kamen, die letzten, weißt Du, da habe ich immer auf dem Bahnhof gestanden und nach ihm gesucht. So viele sind da noch gekommen, aber er? Er ist nie heimgekommen!“