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Sie machte wieder eine lange Pause. Seufzte. Wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
„Und dann, viele, viele Jahre später, das muss schon in den Sechzigern gewesen sein, kam plötzlich eine Frau und fragte mich, ob ich die Grete sei, und wenn ja, dann habe sie einen Brief für mich, den ihr ihre verstorbene Mutter gegeben hätte, der sie versprechen musste, dass sie unbedingt nach mir suchen sollte, denn da war ein junger Soldat auf dem Treck über das Haff gewesen... Du weißt, wovon ich rede, Udo? Du hast von den Fluchttrecks gehört, die im Winter 1945 vor den anstürmenden Russen der Roten Armee über das zugefrorene Kurische Haff zogen? Die letzten kamen im Februar.“
Udo nickte.
„Und da sei ein Soldat gewesen, ein ganz junger, der den Bruder der jungen Frau unter Einsatz seines Lebens gerettet hätte, denn der hätte als Siebzehnjähriger aus dem Treck herausgeholt werden sollen, um noch im Volkssturm zu kämpfen. Dort wäre der vermutlich nur Kanonenfutter für die Rotarmisten gewesen. Der junge SS-Mann habe ihn aber laufen lassen und sogar noch in einem Pferdewagen versteckt, weil er das alles sattgehabt hätte, den unsinnigen Krieg und die unsinnigen Befehle. Und dieser SS-Mann habe ihr, also der Mutter von der jungen Frau, einen Brief für mich mitgegeben. Feldpost gab es da ja längst nicht mehr, und den Brief wollte sie mir jetzt, nach fast 25 Jahren Suche, geben, um das Versprechen ihrer Mutter einzulösen. Und dann hat sie mir den Brief gegeben. Der war schon ganz zerknüllt und das war ja auch kein gutes Papier damals im Krieg und dann noch an der Front. Er war aber noch zu lesen, schwierig... weil da waren Flecken und die Tinte war verschmiert. Aber er war wirklich von Hans und er war für mich. Und er hat geschrieben, dass er jetzt wohl nur noch Stunden zu leben haben würde, aber er könnte nicht einfach fliehen und die Zivilisten ihrem Schicksal überlassen. Er habe seine Ehre und den Eid auf den Führer, und das könne er nicht aufs Spiel setzen, nicht als SS-Mann, hat er geschrieben, und dass er mich immer geliebt hat und immer lieben werde, dass er nie an eine andere auch nur gedacht hatte, und er habe zu viel Schlimmes erlebt in Russland und wohl auch selber gemacht oder machen müssen, denke ich, ist ja letztlich auch egal, man hat ja später viel gehört, was die SS im Osten gemacht hat. Er, mein Hans, werde jetzt nicht weglaufen, hat er geschrieben, damit könne er nicht leben und deshalb würde er sterben. Der Russe sei nur noch ein paar Kilometer entfernt. Er könne sie schon hören! Die ersten russischen Panzer müssten jeden Moment auftauchen. Und dann hat er noch geschrieben, ich solle mich frei fühlen, ich sei ja noch so jung...“
Sie war eine ganze Zeit still, schaute nur aus dem Fenster und dann sagte sie: „In dem Brief hat er sich von mir verabschiedet, weil er noch an dem Tage sterben würde, das wusste er! Das konnte ich klar erkennen und das war sein letztes Lebenszeichen.“
„Mein Gott, Tante Greten, was für eine Geschichte, was für ein Schicksal.“
„Ach, mein Junge, da hat es ja Tausende von gegeben. Ich war beileibe nicht die einzige, die so etwas erlebt hat. Da kann dir jede Kriegerwitwe eine, ihre Geschichte erzählen... Eine schlimmer als die andere!
Und alle haben wir es ausgehalten, aushalten müssen. Aber sei mir nicht böse, bitte, ich möchte jetzt alleine sein... Trink Deinen Kaffee aber ruhig noch aus!“
Udo nahm den letzten Schluck aus seiner Tasse (Tante Greten hatte den Tisch mit den „guten“ Sammeltassen aus der Anrichte gedeckt, die sie ansonsten nur an Feiertagen verwendete), stand dann auf und verabschiedete sich von Tante Greten – er nahm sie in den Arm und sie war wie eine Feder, so leicht. Er spürte sie weinen und hielt sie deshalb noch eine Weile fest. Sie machte sich vorsichtig los von ihm und lächelte mit verweinten Augen zu ihm hoch: „Danke, Udo“, sagte sie.
„Wofür?“, fragte Udo, „das war doch ein Klacks mit dem Wasserhahn!“
„Nein, dafür dass und wie du mir zugehört hast – das hat mir richtig gutgetan. Und dass du nicht abfällig über meinen Hans gesprochen hast, weil er bei der SS war!“
„Weißt Du“, sagte Udo, „früher, als junger Mensch, da hätte ich bestimmt etwas gesagt, da kannte ich nur schwarz oder weiß. Aber inzwischen … inzwischen habe ich einige alte SSler persönlich kennen gelernt. Und weißt du was, die meisten waren alle irgendwie nette alte Männer. Diejenigen, die die Zeit aufgearbeitet haben!“
Sie schaute ihn an, Udo fuhr fort.
„Ich weiß nicht, was wäre, wenn es so etwas wie die Nazis und so etwas wie Elitetruppen, das war doch die SS, heute geben würde, ob wir es erkennen, ob wir gefeit wären. Die Zeiten sind so anders... Meine Familie, das waren damals Kommunisten, die waren wirklich gegen Hitler und haben viel riskiert, so bin ich auch erzogen worden. Das ist jetzt fast 70 Jahre her und, wie gesagt, die Menschen, die ich näher kennen gelernt habe, die sind nicht so viel anders als wir heute... Heute gibt’s andere Uniformen.“
Tante Greten nickte und sagte „Ja, Udo, so ist das wohl, ich war damals ja auch dabei, ich war ein deutsches Mädel. Und ich war begeistert, wie so viele. Ich weiß nicht, ob ich mir das heute vorwerfen muss, egal, ob man es musste oder nicht. Zum Widerstand hätte mir der Mut gefehlt. All das Schlimme, was damals passiert ist. Und ist das heute besser, was die Amis machen? Im Irak zum Beispiel, wie sie Vorwände für den Krieg erlogen haben? Aber ich bin ja nur eine alte Frau, interessiert doch keinen, was ich denke! Nun geh aber!“, und damit schob sie ihn aus der Tür.
Als er aus der Haustür trat, traf er Hanna und Sarah, die Hannas Rollstuhl schob.
„Hallo!“, grüße er, „wohin des Weges?“
„Ach, nur zum Kiosk – ich habe ein paar Comic-Bücher für Ernstl, die kennt er noch nicht... und vielleicht hat er ja auch was für mich?“
Sie hielt ihm einen Stoß Bücher hin. „Der Killer7“ las er. „Was ist das?“, fragte er Hanna. „Harte Kost!“, erwiderte die, „über das Innenleben eines Killers. Sollten die anderen von uns vielleicht auch mal lesen, ist interessant! Mir hat´s klasse gefallen – vor allem wenn der Kapitalismus bloßgestellt wird, sehr lesenswert. Und richtig gut gezeichnet.“
„Wenn Ernstl die durch hat, gerne“, sagte Udo.
„Machen wir uns auf den Weg?“, schlug Hanna Sarah vor. Damit packte sie Hannas Rollstuhl und begann zu schieben. Udo schaute ihnen hinterher – insbesondere Sarah. „man“, dachte er bei sich, „tolle Frau...“ Aber er schaute nur fünf oder sechs Schritte nach ihr, dann rief er ihnen nach: „Wartet, Mädels, ich komme mit bis zur Werkstatt, das ist ja ein Weg...“, und damit lief er hinter den Frauen her, die er gleich eingeholt hatte. „Soll ich Hanna schieben?“, lächelte er Sarah an, die so bezaubernd zurücklächelte, dass Udo fast das Herz stehen blieb. „Ach, mein Udo“, sagte sie, „das geht schon, ich bin eine starke Frau“.
An der Fasaneriestraße bogen sie nach rechts ab und Udo war wenige Schritte später am Hof des Metallhandels angekommen. „Besucht mich doch auf dem Rückweg“, lud er sie ein. Hanna schaute skeptisch in den Hof – da war kein Weg, alles lag voller Metallstangen und Rohre, über die man balancieren musste, wollte man Udos Werkstatt erreichen, aber nichts, wo ein Rollstuhl durchgekommen wäre. „Ach“, winkte Udo ab, „Ihr ruft mich und ich trage dich, Hanna, kein Problem!“
„Na, mal sehen“, sagte Hanna, „vielleicht, oder Sarah?“
Sarah nickte: „Interessieren würde mich Deine Werkstatt ja schon einmal wieder“, meinte sie, „ich war lange nicht mehr da, wie gesagt, mal sehen – oder ein anderes Mal. Aber dann sehr gerne.“
Und damit schob sie Hanna weiter. Udo schaute ihnen strahlend nach.
21. März. Am Kiosk in der Leonrodstraße
12.00 Uhr. Der Kiosk in der Leonrodstraße fast an der Ecke Fasaneriestraße ist ein kleiner Kiosk, völlig unspektakulär!
Wären nicht die großen Reklametafeln der verschiedenen Münchner Zeitungen und die vielen Strahler, die die Schilder in der Dunkelheit weithin sichtbar machten, auf dem Kioskdach gewesen, darunter am größten, buntesten und schrillsten das der mz, hätte man den Kiosk glatt übersehen können – er stand gegenüber den anderen Häusern in der Leonrodstraße ein paar Meter zurückgesetzt gleich neben der ehemaligen Tankstelle schräg gegenüber des Neubaus von AUDI.
Als Sarah mit Hanna um die Ecke bog, sahen sie schon, dass einiges los war an Ernstls Kiosk. Ernstl selber stand vor seinem „Laden“ unter der Markise und unterhielt sich mit drei Männern, die sie schon einige Male dort getroffen hatten, aber deren Namen Sarah und Hanna noch nicht geläufig waren, obwohl sie Stammkunden bei Ernstl waren.
Die beiden Frauen hatten sich den Respekt der Kunden, die keinesfalls Penner aber doch häufig Looser der Gesellschaft waren, erworben, indem sie ab und zu „praktische Lebenshilfe“ gaben – das konnte einfach nur ein guter Rat sein, das konnten im Winter ein paar selbst gestrickte Handschuhe sein oder auch mal ein spendiertes einfaches warmes Essen (mehr gab Ernstl´s Küche eh nicht her).
Hanna hatte bei Ernstl eine Art Sparschwein stehen, das sie ab und zu auffüllte – es war also eher ein kleiner Dukantenscheißer denn ein Sparschwein –, aus dem Ernstl ab und zu „die eine oder andere Mark“ entnahm, um sie unauffällig einem Kunden in Not zuzustecken.
Ernstls hervorstechendste Merkmale waren seine Größe von über zwei Metern und seine krumme und schiefe, auf jeden Fall aber enorm große Nase. Außerdem trug er meistens einen weißen Overall, wie ihn sonst Maler trugen und eine schwarze Wollmütze (ohne Troddel) auf dem großen Kopf. Wenn Ernstl in seinem kleinen Kiosk stand, hatte man als Kunde das Gefühl, dass er entweder eine bis zwei Nummern zu groß war für den Kiosk oder sein Kiosk eine oder zwei Nummern zu klein für seinen Besitzer.
Weil die Handwerker das kleine Verkaufsfenster zwar für seinen kleinen Vorgänger, der gerade einssechzig gemessen haben mochte, in bequemer Höhe eingebaut hatten, hätte Ernstl am besten hinter dem Fenster gekniet – er hatte das auch eine Zeit lang in Erwägung gezogen, den Gedanken dann aber schnell als zu albern verworfen. Und dann hatte er sich an die gebückte Haltung und die Rückenschmerzen gewöhnt. Inzwischen empfand er die Fensterhöhe fast als normal. Auch weil Helga, seine Freundin und Aushilfe, eine sehr kleine Person war…
Ab und zu stand Ernstl vor seinem Kiosk, „um die alten Knochen zu strecken“, wie er sagte. Er reckte und streckte sich dann. Wenn nichts los war, saß er neben seinem Kiosk in einem alten Sessel und las seine heiß geliebten Comics. Im Winter war er nie sehr lange draußen, denn das konnte doch ziemlich kalt werden da draußen auf der zugigen Straße.
Heute war so ein Tag: Strahlend blauer Himmel und knackige Kälte. Deshalb trug er über dem Overall einen riesigen selbst gestrickten Pullover. Den hatte nicht er gestrickt, sondern eine „Vorvorverflossene“. Und die musste Ernstl als noch eindrucksvollere Person im Kopf gehabt haben, als er in Wirklichkeit schon war, oder sie hatte sich wahnsinnig vermessen, denn die Ärmel waren so deutlich zu lang geraten, dass Ernstl die Ärmel ein Stück weit aufgerollt und dann mit einigen groben Stichen etwas zu hoch festgenäht hatte – man sah deutlich, dass Nähen „nicht sein Ding war“.
Sein Anblick war in diesem Aufzug, zugegeben, etwas albern… aber da war niemand, der auch nur zu lächeln gewagt hätte.
Denn Ernstl hatte Hände wie Kohlenschaufeln - und wenn er sie zu Fäusten ballte, waren das Fäuste wie Dampfhammer und er wusste sie auch einzusetzen… und dass wussten alle, die ihn auch nur halbwegs kannten.
Seine Nase war in mehreren Rummel-Boxkämpfen, mit denen er sich als junger Mann einige Jahre lang (im wahrsten Sinne) durchs Leben geschlagen hatte, einige Male gebrochen gewesen und auch die Ohren hatten etwas abbekommen – das gab ihm ein gefährliches Aussehen.
Auf Hannas Frage, dass er ja wohl das eine oder andere Mal ordentlich Dresche bezogen haben müsse, so wie seine Nase und seine Ohren aussahen, hatte er geantwortet, normalerweise ja nicht, aber dass da ab und zu schon Jungs aus Boxclubs in den Boxzelten auf den Rummelplätzen aufzutauchen pflegten, die durchaus etwas drauf gehabt hätten, und dann sei es auch schon einmal richtig zur Sache gegangen … Normalerweise, hatte Ernstl erläutert, durften die da gar nicht boxen, aber wenn das Zelt voll war und die Menge johlte und so einer sich meldete – was solltest du da machen? Ab und zu musste der Chef der Menge ja auch etwas bieten, nicht? Und in seiner Gewichtsklasse, Schwergewicht, stecke schon ein ordentliches „Pfund“ dahinter, wenn einer zulangen könne oder aus Zufall träfe…
Die meisten Schläge hätte er natürlich vermeiden können, aber die Dramaturgie so eines Abends im Zelt verlangte eben auch, dass er auch einmal angeschlagen wirkte (oder auch wurde) und wankte, und dafür hätte er den einen oder anderen Schlag eben einstecken müssen – da gewöhnst du dich dran, hatte er der interessierten Hanna erzählt, ist nicht so schlimm.
Und manchmal wollte die rasende Menge im Zelt einfach Blut sehen, und das rinnt eben am schnellsten aus der Nase. Und die besten Kämpfe für das johlende Volk waren immer die Come-back-Kämpfe gewesen, in denen er schon fast am Boden war („aber nicht wirklich, weißt Du! Das musst du in dem Job auch können, so platt auszusehen.“) und dann in der letzten Runde den Kampf gedreht hatte. „Das Dumme war ja“, hatte er erläutert, „ich durfte in solchen Kämpfen, wo es für den Sieg um 50 Mark ging, ja nie richtig zuschlagen. Den anderen k.o. zu schlagen, das war nicht drin! Das waren ja auch meist keine richtigen Boxer, fast immer waren es nur tapsige Schläger, die sich vor den Kumpels oder den Mädchen mal groß tun wollten. Da konnte ich nur ein bisschen stupsen, nicht richtig zuschlagen.“
Aber, hatte er einmal erzählt, da hätte es einen richtigen Fight gegeben, den Kampf seines Lebens! Gut, sein Gesicht zeige heute noch die Spuren der Jahre damals. Aber Hanna hätte mal den anderen sehen sollen, der sähe heute noch ganz anders aus als vorher – denn in dem Kampf, dem einen, dem großen, damals auf dem Dom in St. Pauli gleich neben der Reeperbahn, da wäre es echt zum Showdown gekommen, man o man. Da hätten sie vereinbart, dass die Runden jeweils drei statt der bei Rummelkämpfen üblichen zwei Minuten lang sein sollten, und dass auch nicht nach zwei oder drei Runden Schluss sein sollte, sondern sie hatten sich auf acht Runden geeinigt! Acht Runden, genau „wie bei Europameisterschaften.
Die Unterschiede mögen sich nicht groß anhören, waren für die Kämpfer aber gewaltig! Er hätte schon gemerkt, als der andere sich ausgezogen und sich im Ring ein wenig warm gemacht hatte, dass da kein Fallobst im Ring gestanden hätte, der hätte was drauf gehabt, das war zu sehen, sportlich sei der gewesen, durchtrainiert und mit guten Muskeln, nicht solche Backpulvermuskeln aus den Muskelbuden von heute!
Die ersten beiden Runden hätten sie sich abgetastet, Du, der andere konnte boxen, wirklich! Ernstl hatte beim Erzählen unbewusst seine Boxposition eingenommen, hatte etwas getänzelt und hatte Hanna dann ein paar Schläge angedeutet. Es hatte fast echt ausgesehen. Jeder hätte einige Treffer gelandet, hatte er erzählt, die echt wehgetan hätten. Und dann hätte es eine richtige Ringschlacht gegeben, da würden die, die dabei waren, heute noch davon schwärmen, das Blut sei bis in die vierte oder fünfte Reihe gespritzt, also ganz bestimmt nicht nur seines, und die Zuhälter hätten gejohlt und die Nutten geschrien vor Begeisterung!
Er hatte geglaubt, sein Gegner sollte ein besonders kräftiger und mutiger Zuhälter vom Kiez sein... Woher hätte er denn wissen sollen, dass die Zuhälter extra einen aus Polen geholt hätten, der wohl sogar ein- oder zweimal um die polnische Meisterschaft geboxt hatte oder so – wegen der Wetten, verstehen Sie?
Naja, zum Schluss hätten beide nur noch gewankt im Ring und gewonnen hatte keiner. Unentschieden, das war klar, auch der Pole hatte das gewusst.
Bloß das Arschloch von Ringrichter, der natürlich wusste, dass da viel Geld auf dem Spiele stand, um nicht zu sagen mehr, sehr viel mehr …, der hatte den Polen zum Sieger erklärt! Man weiß ja nicht, was sie mit dem gemacht hätten, wenn er, Ernstl, gewonnen hätte? Der Ringrichter hätte den anderen einmal bis 16 angezählt, damit der wieder aufstehen konnte und … „Ach“, hatte er dann noch gesagt und dabei abgewinkt, „ist ja eh egal heute! Das ist ja alles so lange her!
Dann hatte er gelacht und gesagt, nach so einem Kampf sähe man eben aus wie er jetzt und abgewinkt – ist doch egal jetzt. Und eine Schönheit sei er vorher auch nicht gerade gewesen...
Aber ganz ehrlich, wenn er den Ringrichter heute erwischen würde, er würde ihm immer noch „die Birne vom Körper hauen“, so schnell könnte der gar nicht auf einen Baum kommen – genau so wie der Peter Müller damals, der hatte ja auch den Ringrichter „umgehauen“.
Als Ernstl sie jetzt sah, freute er sich: „Oh“, rief er, „Leute – hoher Besuch! Hallo Frau Doktor, guten Tag, meine Schöne!“. Mit letzterem begrüßte er Sarah. Dann schaute er wieder Hanna in ihrem Rollstuhl an und bemerkte das Paket auf ihrem Schoß: „Ich sehe, sie haben wieder Literatur mitgebracht! Und gleich so viel… Was ist es denn diesmal?“
Hanna hielt ein kleines Paket (etwas größer als DIN A4 und wohl zwanzig Zentimeter dick) auf ihrem Schoß. Mit den behandschuhten Fingern nestelte sie an dem Band, das das Paket zusammenhielt, bekam es aber nicht auf.
Mit einem Lächeln und den Worten „Darf ich?“, nahm Ernstl ihr das Paket aus den Händen und legte es auf die kleine Platte vor seinem Verkaufsfenster, Tresen nannte er das Stück von jahrelanger Benutzung blank polierte Holz. Er begann an dem Knoten herumzufummeln, bekam ihn aber auch nicht auf. „Verfluchte Scheiße“, murmelte er leise, „wer hat denn diesen verdammten gordischen Knoten geschlungen? Einer vom Fischdampfer?“
Hanna lächelte ihn an: „Ich!“
„Ach so, naja, wird schon gehen, Frau Doktor.“ Er griff in die Tasche seines Overalls und holte ein Taschenmesser heraus, das sich in der riesigen Faust zu verlieren drohte, und ruckzuck war das Band aufgeschnitten. Er wickelte die Bücher aus dem Papier, nahm einen Band hoch, schaute ihn an und begann zu strahlen: „Leute, endlich, ihr glaubt es nicht… „Der Killer“ von Jacamon und Matz – und zwar alle acht Bände, die bisher erschienen sind.“ Er blätterte das zuoberst liegende Buch durch und staunte: „Das ist ja auf Französisch… wie heißt das? „La Tueur“ (er sprach es aus wie la tu-euer). Seit wann lesen sie die in der Originalsprache, Frau Doktor? Sie beeindrucken mich…“. Er blätterte weiter durch das Buch und fand schließlich die Widmung und die Signatur auf der ersten Seite. Er pfiff leise und sagte: „Frau Doktor! Mit Widmung! Was heißt das? Hhm, auch Französisch.“
„Für meinen Freund Ernst“, klärte Sarah ihn auf.
„Sie können Französisch, Sarah?“
„Nicht so gut...aber ich komme durch... durch Frankreich!“, antwortete die bescheiden.
Ernstl schaute Hanna strahlend an: „Wie haben sie das denn wieder geschafft?“
Hanna lächelte nur und sagte nichts.
„Sie waren wieder auf einem Kongress, stimmt´s?“
Er blickte in die Runde der drei Stammgäste, die alle in ihrem Kaffee rührten, von dem ein leichter Weinbrandgeruch aufstieg: „Männer, mit Widmung von Luc Jacamon, das ist der Zeichner!“, erläuterte er sein Wissen etwas auspackend „und von Matz“, ergänzte er in die Runde schauend, „das ist der Storyschreiber. Wisst Ihr, was das unter Freunden wert ist? Man o man, das ist unbezahlbar. Wie sie das immer nur schaffen, Frau Doktor?“
Hanna lächelte ihn an.
Dann erst begriff Ernstl: „Das ist ja mir gewidmet... Ist das für mich?“. Er strahlte Hanna fragend an. Die nickte: „Ja, ist für dich, ein kleines Dankeschön für die vielen schönen Geschichten, die du erzählst, erzählt hast.“
„Mensch, Hanna, danke, ich bin ganz fertig...“ Fast hätte man glauben können, der riesige Mann hätte eine Träne im Augenwinkel, denn er blinzelte ein paar Mal und schnäuzte sich lautstark in ein Taschentuch, das er aus den Tiefen des Overalls gezaubert hatte.
„Können wir irgendwann auch einen Kaffee bekommen?“, fragte Sarah höflich.
„Kaffee… na klar, für sie immer Sarah, mein Mädchen, und natürlich für die Frau Doktor. Kaffee natur oder die Spezialmischung?“ und damit nickte er in Richtung der drei, die inzwischen einen Platz unter dem Wärmepilz seitlich vom Kiosk gefunden hatten, den der Kiosk eigentlich gar nicht haben durfte – „aber wo kein Richter, auch kein Urteil oder so ähnlich“, pflegte Ernstl zu sagen und die Bullen, also die Polizisten, wärmten sich manchmal auch ganz gerne auf, wenn es draußen so richtig kalt war. Und so stand der Wärmestrahler jetzt schon die vierte Wintersaison da.
„Nein, lieber ohne für mich“, sagte Sarah „und Du, Hanna?“
„Für mich mit einem klitzekleinen Schuss „Spezial““, bestellt Hanna und rieb sich die trotz Handschuhen kalt gewordenen Hände.
„Jungs“, sagte Ernstl, „macht mal Platz am Tisch für unsere Frau Doktor hier und die schönste Sarah, die wir je hatten.“ Er baggerte Sarah immer ein bisschen an – aber beide betrieben das als nicht ernst gemeintes Spiel. Und damit schob er Hannas Rollstuhl resolut unter dem Wärmepilz und für Sarah fand sich auch gleich ein Plätzchen, denn die Jungs rückten gerne für so eine schöne Frau zusammen.
Ernstl verschwand in seinem Kiosk, in dem der Kanonenofen bollerte, und kam nach einem Moment mit einem Kaffee für Sarah und einem „Spezial“ für Hanna in den Händen wieder heraus. Er servierte die Kaffees als wären sie in einem Sternelokal: Mit Keks. Wenn er wollte, konnte sich der grobe Mann ohne weiteres sehr fein bewegen, er strahlte dann so etwas wie Grandezza aus, naja fast.
„Hallo“, rief es plötzlich von vorne, „wer ist denn hier der Kioskinhaber?“
„Wer will das wissen?“, fragte Ernstl über die Schulter, denn er bewunderte immer noch die Widmung.
„Wir sind von der mz und machen eine Artikelreihe über Kioske in München, ich bin der Redakteur und das ist mein Fotograf“, sagte der Dicke der beiden. Der als Fotograf bezeichnete, machte mit seiner Canon8 die ersten Fotos.
„Nun mal nicht so schnell mit die jungen Pferde“, sagte Ernstl und trat zu den beiden. „Wer sagt, dass ich das will und wer sagt, dass sie meine Gäste fotografieren dürfen?“
„Naja, das wird ja schließlich eine super Werbung für Ihre Bude hier und ein bisschen human touch brauchen wir auch und mit der Behinderten da im Rollstuhl“, er nickte auf Hanna, „kommt das besonders gut“, sagte der Dicke und nickte dem Fotografen zu, „mach du ein paar Bilder.“ Der Fotograf schoss wieder los, zweifach, denn zum einen lief er ein paar Meter zurück, zum zweiten, um dann weitere Bilder vom Kiosk und den fünf unter dem Wärmepilz zu machen.
„Hör auf mit dem Scheiß, sag ich“, sagte Ernstl, „oder muss ich erst direkt werden? Und „die Behinderte da“, sagst du kein zweites Mal zu unserer Frau Doktor hier, sag´ ich Dir. Und fotografieren tut ihr sie schon gar nicht!“.
Damit richtete er sich zu seiner vollen Größe auf und stellte sich dem Fotografen in den Weg und dem Reporter auf den Fuß. „Schluss jetzt! Also was wollt Ihr?“
„Aua, Du stehst auf meinem Fuß, Du Trottel, komm da runter! Also, erst mal zwei Bier und zweimal Würstchen mit Kartoffelsalat, wenn Du das hast“, bestellte der Dicke.
„Bier ist hier nicht!“, beschied ihm Ernstl, „jedenfalls nicht zum am Kiosk trinken, das könnt ihr höchstens mitnehmen. Kaffee könnt ihr haben und die Würstchen muss ich warm machen, das dauert einen Moment.“
Hanna suchte seinen Blick, als er zur Kiosktür ging und schüttelte leicht den Kopf. Ernstl sah das, kam zu ihr und fragte „Ja?“
„Sei vorsichtig“, flüsterte Hanna, „die legen dich rein… Sei ganz vorsichtig! Ich habe kein gutes Gefühl dabei. Ernstl, schick sie weg, das ist besser, ganz bestimmt!“
„Ach“, entgegnete Ernstl locker, „mit den Schwuchteln werde ich dreimal fertig, bevor die pieps gesagt haben.“
„Nein“, sagte Hanna leise, aber bestimmt, „das glaube ich nicht, schick sie weg, bitte, das wird nichts Gutes…“
„Ein bisschen Reklame täte aber gut“, sagte Ernstl immer noch leise, „bei den Umsätzen“, und damit ging er in den Kiosk.
Der Dicke kam zu ihnen unter den Wärmepilz und grinste sie aus seinem drei Tage nicht rasierten Gesicht an: „Na, ist da noch ein Plätzchen für den lieben Redakteur?“, fragte er schmierig.