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„Nein“, sagte Hanna, „leider nicht.“
„Doch“, sagte gleichzeitig einer der drei Kaffeetrinker, „ich geh dann mal.“
Schwupps, stand der Reporter zwischen ihnen und sprach Hanna an: „Sie wollen Doktor sein? Was denn für einer? Dann gehören Sie doch gar nicht hierher – oder der Pelz ist aus der Kleiderverteilung vom Roten Kreuz oder vom Laster gefallen?“. Er lachte laut über den Witz, den er gerade gerissen hatte. Hanna sagte nichts.
„Naja“, sagte der Dicke leichthin, „auch mit ´nem Doktortitel steht einem die Welt nicht mehr so weit offen, oder? Und dann behindert im Rollstuhl... Scheiße, was? Sag´ mal, Mädchen, sollen wir eine richtig geile Story über sie machen? Eine Home-Story? Sie haben doch ein Zuhause, oder?“, grinste er sie wieder schmierig an.
„Nein danke“, sagte Hanna bestimmt, „kein Interesse“.
„Vielleicht die gefallene Akademikerin, die durchs Leben rollen muss – Rollstuhl statt Mercedes. Ist Dein Ehemann mit einer Jüngeren durchgebrannt, als Du die Beine nicht mehr richtig aufgekriegt hast? Ja, die Welt ist ungerecht... Man, das wäre doch ´was...!“, leckte er sich die Lippen, „richtig geil! Ich seh´ die Story schon vor mir. Oder „Sex im Rollstuhl“, ich meine, Du siehst ja nicht sooo schlecht aus. Wie alt bist Du? 50plus? Da stehen die Kerle drauf. Und er“ – der Redakteur zeigte auf den Fotografen – „macht richtig geile Fotos, da steht der drauf...“
Hanna schaute durch ihn hindurch, sagte nichts. Durch Handzeichen gab sie Sarah zu verstehen, sich ebenfalls ruhig zu verhalten.
Er nahm ihre Kaffeetasse und schnupperte daran. „Ein Weinbrand am Morgen macht den Tag für Dich leichter was?“, sagte er leichthin und stellte die Tasse wieder ab.
Von der Straße rief ein junger Mann im Hoodie: „Ernstl, hast du kurz Zeit? Ich brauche meine Drogen!“, grinste dabei und wedelte mit einer Zigarettenpackung, die er anschließend zerknüllte und dann gekonnt gezielt in den Papierkorb am Kiosk warf. „Moment! Komme!“, rief Ernstl, „wie immer?“
Kurz darauf schob der Typ mit einer Stange Gitanes unterm Arm wieder ab.
Der Dicke griff derweil nach dem Comic. „Mein Gott, wenn Sie nicht wollen“, sagte er zu Hanna, „da wäre schon ein Hunderter für Sie drin oder bei den Fotos auch zwei“.
Hanna reagierte wieder nicht, was sollte sie auch machen.
„Was ist das denn?“, fragte er, „Comics, finde ich geil, nicht Jens?“, rief er seinem Fotografen zu, der immer noch knipste. Er musste inzwischen zig Fotos geschossen haben. CANON, resp. dem Motor der CANON, sei Dank. Und wahrscheinlich alle perfekt scharf und belichtet, weil auch das die CANON automatisch erledigte. Der Fotograf musste seine CANON nur in die richtige Richtung halten und auf den Auslöser drücken, den Rest erledigte die Kamera.
„Seit wann das denn?“, gab der zurück, „höchstens, weil du doch gar nicht lesen, sondern nur Bilder begucken kannst, vom Schreiben ganz zu schweigen.“
„Blödmann!“, war die harsche Antwort. In dem Moment kam Ernstl mit zwei Tellern mit Würstchen und Kartoffelsalat. „Nimm mal die Bücher hoch“, wies er einen der beiden Kaffeetrinker an, „damit da keine Flecken drauf kommen!“, und zu dem Reporter sagte er: „Von mir selbst angemacht – ein Rezept meiner Großmutter, ganz besonders lecker und die Würstchen sind die besten in München, mein Wort drauf. Brauchen sie Senf?““
Einer der beiden verbliebenen Kaffeetrinker beeilte sich der Anweisung Folge zu leisten und sagte erklärend zum Reporter, dass die Bücher wahnsinnig teuer seien, schon wegen der Autogramme, aber auch sonst, geradezu unbezahlbar seien die.
„Ach nee“, sagte der Angesprochene, „das hätte ich nicht gedacht und schon gar nicht hier… Wie heißen die „Der Killer“? Na, Sie lesen Sachen hier, sind die denn eigentlich erlaubt?“
„Ach“, sagte der Informant arglos, „da drinnen hat der Ernstl noch ganz andere Sachen, ganz hartes und geheimes Zeug, und noch viel teurere…“, und damit schaute er sich stolz um, „und damit tut er richtig geheimnisvoll – die darf nicht jeder sehen! Nicht einmal wir. Die holt er nur raus, wenn die richtigen Leute da sind.“
Hanna schwante Böses und deshalb sagte sie: „Unsinn. Was erzählen sie denn da für einen Blödsinn! Das sind ganz normale Comics, nichts Besonderes, nichts Geheimnisvolles und schon gar nichts Wertvolles.“
Der Informant fühlte sich irgendwie auf den Schlips getreten und widersprach, nein, nein, da wären Sachen dabei, man, die wären so etwas von scharf und geheim... und auch noch richtig wertvolle Schwarten dabei, Erstausgaben und so und mit Sign…, naja Unterschriften halt!
„Tatsächlich?“, fragte der Dicke und lächelte seinen Informanten süffisant an, „naja, da verstehen Frauen ja wohl nichts davon, die sollen lieber nähen und waschen und was Frauen sonst halt so machen“, und fügte mit Blick auf Hanna hinzu, „wenn sie es können, sonst werden die komisch, oder? Und reden von Dingen, von denen sie nichts verstehen. Das kennt man ja.“
Sarah sah inzwischen stinkwütend aus und war drauf und dran, ihm entweder eine zu kleben oder ihm den Kaffeerest ins Gesicht zu kippen – aber der Fotograf hatte das wohl geahnt und schon wieder seine Canon in Schussbereitschaft gehalten, deshalb hatte Sarah sich zurück gehalten.
Ernstl kam mit einer Tüte in der Hand und reichte sie dem Dicken: „Das Bier. Zum Mitnehmen. Und jetzt kriege ich zwölf Euro fünfzig.“
„Das ist doch nicht ihr Ernst“, sagte der Dicke und nahm die Tüte, „dass sie wahrhaftig Geld von uns haben wollen. Wir haben noch nie wo bezahlt, wenn wir so eine Story machen – egal wo, auch nicht in topp Restaurants - und hier am Kiosk, nein, ganz bestimmt nicht! Die anderen haben schnell begriffen, wie das Spiel läuft und wie man viel Reklame bekommt in der mz! Wir machen den Erfolg!“, betonte er zum Schluss, „oder die Bauchlandung... denk mal darüber nach, Lulatsch.“
In diesem Moment kippte Sarah ihm den Kaffee in ihrer Tasse über die Hose.
„Aua, eh, blöde Kuh, was soll die Scheiße?“, schrie der Dicke gleichzeitig, „Das war Absicht, das habe ich gesehen, Scheiße, das ist heiß, das Zeug. Ich bin verbrüht... Du bist mein Zeuge, Jens, die hat mich absichtlich verletzt... Hast Du das drauf?“. Er zeigte auf die Kamera.
„Oh, Entschuldigung“, sagte Sarah, „das tut mir aber leid. Ehrlich“. Sie gönnte dem Dicken ihr schönstes Lächeln, „soll ich das trocken reiben? Ich kann das“. Der Dicke hatte keine Ahnung, wie dicht Sarah damit an der Wahrheit war.
„Schluss jetzt. Papperlapapp“, sagte Ernstl jetzt, „das ist mir egal, zahlt ihr jetzt oder wollt ihr ein paar aufs Maul? Scheiß auf Deine Hose, Dicker. Ihr habt die Wahl!“. Er wurde jetzt richtig wütend, seine Meinung über die beiden war vollständig gekippt, und er ballte seine Fäuste und hielt dem Dicken eine davon vor die Nase: „Zahlen!“, sagte er tonlos, „oder...“.
„Du zahlst!“, sagte der Dicke zum Fotografen, „ich habe nicht so viel Geld dabei. Und wenn, ist es nass“.
Der Fotograf zahlte wortlos und die beiden verschwanden ohne ein weiteres Wort.
„Na, was habe ich gesagt, denen haben wir´s aber gegeben!“, strahlte Ernstl Hanna und Sarah an, „Sarah-Mädchen, gut gemacht, eine neue Tasse Kaffee aufs Haus?“
„Ich weiß nicht“, sagte Hanna, „da bin ich mir gar nicht so sicher, Ernstl, wenn das mal nicht ins Auge geht, warte mal lieber die Zeitung von morgen ab.“
„Meinst Du, Hanna? Was soll denn schon passieren. Er hat doch gar nichts erfahren?“
„Na, ich glaube doch“, sagte Hanna, „oder besser, ich befürchte... Sarah, rollen wir?“
„Wartet, Frau Doktor“, rief Ernstl, „ich habe doch auch was für Sie“, und er verschwand im Kiosk, um gleich darauf wieder zu erscheinen: „Ist ja nicht mit Widmung oder so und auch nur auf deutsch und nicht französisch, aber habe ich ganz neu“, und damit reichte er Hanna zwei Bände: „ „Der Incal“ von Jodorowski und Moebius und „Arzak“ von Moebius… Jodorowski ist der, der mit der Verfilmung von „Dune“ von Frank Herbert so grandios gescheitert ist.“
„Ach der?“, sagte Hanna, die das nicht gewusst hatte.
„Ja, habe ich heute erst gekriegt, der Typ vom Comicladen in der Fraunhoferstraße hat sie vorhin vorbeigebracht.“
„Dann haben Sie sie ja noch gar nicht gelesen?“, fragte Hanna.
„Nein, aber das ist ja nicht wichtig, ich habe ja „Der Killer“, da freue ich mich schon drauf, morgen können wir ja wieder tauschen… ist eh nichts los am Kiosk bei dem Wetter!“
Hanna bedankte sich und sagte noch einmal: „Ernstl, wenn das man nicht schief gegangen ist! Aber Danke für die Bücher, ich bringe sie morgen zurück. Nun lass uns man, Sarah. Tschüss, Ernstl“.
Damit schob Sarah Hanna wieder in Richtung Leonrodstraße und dann nach links in die Fasaneriestraße.
Sie passierten den Metallhandel mit Udos Werkstatt, Hanna hatte jetzt keine Lust mehr auf einen weiteren Besuch, obwohl es mit Udo immer sehr nett war. Als sie am Laden vorbeikamen, saß Herr F. auf seiner Bierkiste, rauchte eine Zigarette und hatte ansonsten den Hübnerplatz im Blick. Er winkte ihnen zu: „Möge der Tag ihnen positiv gesinnt nachschleichen“, sagte er.
Die beiden bedankten sich höflich und Sarah sagte, dass sie das irgendwie bezweifeln würde und fragte dann noch, was es morgen zu Mittag gäbe.
„Moment“, sagte Herr F. und erhob sich von seiner Kiste, „ich hole den Wochenplan“, sprach´s, verschwand und kam gleich darauf wieder mit einem Blatt in der Hand. Er hielt es den beiden entgegen und schaute Sarah und Hanna fragend an, wer von den beiden es haben wollte. Hanna griff zu, studierte die Angebote und entschied sich für Lauchgemüse mit Kalbfleisch-Pflanzl. Sarah meinte, sie habe morgen etwas vor und außerdem müsse sie mal wieder auf ihre Figur achten, also, nein danke, nichts für sie.
22. März. Staatsbibliothek
10.00 Uhr. Der Graf hatte mit Udo vereinbart, dass er sich zunächst einmal in der Staatsbibliothek umschauen würde, ob es denn dort überhaupt relevante Informationen für sie abzugreifen gäbe.
Deshalb war er mit Bus und Straßenbahn in Richtung Universität gefahren und hatte dann nur noch einen überschaubaren Fußweg zur Staatsbibliothek gehabt.
Er stand vor dem beeindruckenden Ziegelgebäude, das die Staatsbibliothek beherbergte und rauchte die fürs erste (so für zwei Stunden dachte er sich) letzte Zigarette.
An der Treppe vor dem Haupteingang grüßten ihn vier große Steinfiguren, die von einigen gebildeten Münchnern als "Die vier Heiligen Dreikönige" bezeichnet wurden: Thukydides, Homer, Aristoteles und Hippokrates. In ihrer Gesamtheit verweisen die vier auf die Vielfalt der Wissenschaften, deren Literatur die Königliche Hof- und Staatsbibliothek zu sammeln bestimmt war.
Er stand nicht alleine vor der Treppe, außer ihm standen viele junge Leute, kaum welche rauchten (bis auf ein paar junge Frauen), einige tranken das Getränk, das angeblich Flüüügel verleihen sollte und die meisten quatschten einfach nur. Fast jeder hielt einen Laptop unter dem Arm.
Der Graf nahm einen letzten langen Zug, schaute dem Rauch aus seinem Mund einen Moment hinterher und trat dann die Zigarette mit dem Fuß aus und nahm schließlich dann die Außentreppe in Angriff.
Er trat durch eine kleine Tür in den Vorraum der beeindruckenden Innentreppe, die zum Lesesaal hinauf führte. Diese Treppe hatte König Ludwig I. (der Großvater von Ludwig II. oder „mad Ludwig“) einst nur zur Nutzung einzig durch sich selbst vorgesehen – ein ziemliches Privileg, fand der Graf und ging die Treppe entsprechend würdevoll und langsam hinauf, um den königlichen Aufstieg zu genießen.
Ein paar junge Leute liefen mit ihren iPad oder Laptop unter dem Arm schnell an ihm vorbei – das war offenbar ein Privileg der Jugend, in Räumen wie diesen nicht staunen zu müssen
Der Graf wunderte sich ein bisschen über die vielen jungen Leute, denn als er die Staatsbibliothek das letzte Mal benutzt hatte, das muss so 1985 oder 86 gewesen sein, da hatte die Staatsbibliothek zwar bestimmungsgemäß jedem Bayerischen Bürger offen gestanden, aber dezidiert NICHT den Studenten! Die Zeiten ändern sich.
Im Eingangsbereich zum Lesesaal war ein Sicherheits- und Kontrollposten eingerichtet worden, die Besucher mussten sich einzeln durch ein Drehkreuz zwängen – Fotoapparate waren nicht erlaubt, Handys mit ihren eingebauten Kameras dagegen schon.
Als der Graf den Zerberus am Eingangsdrehtor neugierig fragte, warum denn Kameras verboten seien, die Handys aber nicht, zuckte der gelangweilt die Schultern und sagte ihm, dass das Vorschrift sei, und er sich um die Gründe nicht scheren würde, wo käme er denn dahin, wenn er die Regeln auch noch hinterfragen würde. Und dahinten sei die Direktion, dort könne er ja nachfragen, wenn es ihn tatsächlich so brennend interessiere...
Nein, das tat es nicht, und der Graf passierte Zerberus, der ihm noch einen skeptischen Blick nachsandte.
Neben ihm hatte ein handgeschriebenes Schild über den Fakt informiert, dass alle Plätze im Lesesaal besetzt seien. Und auch da verkniff sich der Graf die Frage, warum dann noch Leute eingelassen würden... Naja, lesen konnte man schließlich auch im Stehen.
Als er den Lesesaal betrat, staunte er nicht schlecht – sicherlich waren alle Arbeitsplätze belegt – und das waren wahrlich nicht wenige, gefühlt bestimmt achthundert. Allerdings darf man sich nun nicht vorstellen, dass an jedem Platz ein fleißiger Student saß, nein, mehr so wie im „all-inclusive“-Urlaubshotel, wo die Gäste noch vor dem Frühstück Handtücher auslegten, um ihren Platz zu beanspruchen, lagen hier auf jedem zweiten Platz Block und Kugelschreiber – offenbar die Handtücher der jüngsten Akademikergeneration.
Vermutlich waren die angeblich fleißig Arbeitenden in der Cafeteria oder in den benachbarten Cafés, dachte sich der Graf, schließlich gehört zum Leben ja nicht nur das Studium der diversen Wissenschaften, sondern auch das des anderen Geschlechts.
Er schaute sich um und fand ein Schild oder Plakat, auf dem in Stichworten vermerkt stand, wo in den unendlichen Regalreihen, seine Interessengebiete versteckt waren. Er suchte seine Stichworte: Rechtsmedizin oder Kriminologie – und fand sie nicht.
Also steuerte er einen der vier oder fünf Beratungsplätze an. Am ersten saß ein auszubildender Bibliothekar (oder wie der sich nennen mochte), der wusste schon mal gar nichts und verwies stumm nur mit Handzeichen mit seinem gefährlich spitzen Bleistift an seinen Kollegen auf dem Nachbarplatz, der einer Studentin intensiv und konzentriert das Suchsystem im Bibliotheks-PC erläuterte. Das schien zu dauern.
Der Graf verstand, das Mädel war eindeutig jünger und vor allem hübscher als er. Also schaute er sich um und fand auf der anderen Seite des Ganges eine weitere Beraterin. Sie sah schon aus der Ferne streng aus. Er erläuterte ihr seine Wünsche. Sie schaute ihn zweifelnd an, nahm sich eine verkleinerte Version des Plakats, das er schon vergeblich durchsucht hatte und meinte dann achselzuckend, dass sie fände, dass da nichts sei – Medizin stände „oben“ und Rechtswissenschaften auch. Der Graf dachte sich, dass das ein toller Service sei, aber da die Benutzung des Lesesaales kostenlos war, war eine bessere Dienstleistung irgendwie auch nicht zu erwarten, fand er. Er ging also die Freitreppe hinauf.
„Leise und langsam gehen“ bedeutete ihm ein weiteres Schild an der Treppe, die Anweisung wurde zumindest dahingehend erläutert, dass sich sonst Lesesaalbenutzer über den ungebührlichen Lärm, den schnelles Gehen verursachen würde, beschweren würden.
„Ganz schön empfindlich, die iPad-Generation“, dachte sich der Graf. Jedenfalls ging er leise und auf Zehenspitzen die Treppe hinauf, die trotzdem ziemlich in Schwingungen geriet und trotz seiner Vorsicht einiges Getöse von sich gab. Seine Beraterin am Fuß der Treppe schaute ihn böse an, und er zog die Schultern hoch und machte ihr sein unschuldigstes Gesicht. Leiser ging einfach nicht. Nicht auf dieser Treppe.
Oben angekommen suchte er zunächst „Medizin“. Seine Beraterin hatte ihm die Auskunft gegeben, dass er die unter „400“ finden würde, was immer das sein mochte. Er fand sie unter „900“, suchte den Fehler aber bei sich. Zwei lange Regalreihen begrenzten einen schmalen Gang, nichts für Leute mit Klaustrophobie. Die Hälfte der Regale war leer – aber nicht, weil die Bücher entnommen waren, sondern weil offenbar tatsächlich jemand „auf Zuwachs“ gebaut hatte!
Endlich, fast ganz am Ende, über Kopfhöhe fand er das Stichwort „Rechtsmedizin“, unter dem sich sechs einsame Bücher fanden. „Hhm“, dachte der Graf, „das scheint es zu sein...“.
Er nahm sich ein großes Lehrbuch und ein kleines Buch „Rechtsmedizin für die Kriminalpolizei“ aus dem Regal, schmökerte noch im Gang ein wenig darin herum und fand beide interessant genug, um sie unter den Arm zu nehmen und sich einen freien Arbeitsplatz zu suchen.
Von den ersten drei, auf denen weder Block noch Stift lagen, wurde er von den Platznachbarn mit dem Hinweis verjagt, dass da gleich jemand käme. Der Graf bezweifelte das zwar, wollte dem akademischen Nachwuchs aber auch kein Hindernis in der wissenschaftlichen Arbeit sein. Im Vorbeigehen sah er doch einige Jungakademiker, die sich mit ihren Laptops gerade von der anstrengenden Literaturarbeit entspannten – er sah Spielfilme und Schweinchen Dick-Comics laufen, andere spielten Patiencen oder Videospiele, das ganze Spektrum moderner Elektronik-basierter Entspannungsmedien eben.
Nun gut, sei es drum, er suchte weiter und fand endlich einen Bereich, in dem viele Plätze unbesetzt waren. Doch verdammt, ein Schild belehrte ihn, dass dieser Bereich für wissenschaftliche Mitarbeiter mit Codekarte reserviert war. Entsprechend war da eine verschlossene Tür, für die man offenbar die genannte Codekarte brauchte. Also auch nichts...
Schließlich fand er einen leeren Platz, dessen Nachbar ihn ob der Störung durch das leise Hinsetzen zwar böse ansah, sich dann aber wieder den Abenteuern Bugs Bunnys hingab.
Die Bücher, vor allem das dicke Lehrbuch, erwiesen sich als Volltreffer. Er fand auf Anhieb drei Schussgeräte, an die sie bisher nicht gedacht hatten: Pfeil und Bogen, eine hochmoderne Armbrust und eine Hochleistungszwille!
Da der Graf weder einen Laptop mitgebracht hatte noch einen Block, musste er sich die Informationen einfach merken. Allerdings fand er die Vorstellung, wie Robin Hood mit Pfeil und Bogen durch die Gegend zu schleichen, um sein „Wild“ zu schießen, eher erheiternd als anregend. Andererseits fand er es spannend, dass Rekordversuche mit modernen Hochleistungsbögen eine Schussweite von mehr als 1000 Metern gezeigt hatten.
Auch die moderne Armbrust fand er grundsätzlich interessant, las sich in dem Kapitel etwas fest (Auftreff- und Durchdringungsenergie etc.), entschied sich dann aber dagegen, die Armbrust den anderen als geeignete Waffe zu schildern, da sie ihm zu groß und mit nur jeweils einem Schuss zu unsicher erschien. Sie waren schließlich weder Robin Hood noch Jungfer Marian..., nicht in ihrem Alter!
Eine Hochleistungszwille deuchte ihm deutlich interessanter – vor allem, da sie sich leichter beschaffen lassen würde und Udo eventuell welche bauen könnte. Allerdings musste man damit gut umgehen können und das Zielen erschien ihm schon in der Theorie schwierig.
Er verwarf die Zwille letztlich aber endgültig, weil ihm der Kraftaufwand für seine Freunde doch zu hoch erschien. Aber interessant war das alles allemal...
Bei den Schießgeräten, so wurden die wirklich genannt, gab es eine interessante Einleitung über die verschiedenen Typen von „Schießprügeln“: Revolver und Pistolen als kurzläufige Waffen und Gewehre, Büchsen und Flinten und sonstiges Gerät mit langen Läufen.
Und dann fand er den interessanten Hinweis, dass der Erwerb von Langlaufwaffen viel einfacher sei, als der von Pistolen und Revolvern. Hhm, dachte er, darüber müssen wir nachdenken: Langwaffen. Bisher hatte zumindest er ja immer nur Pistolen und Revolver in Betracht gezogen, zur Not auch sogenannte Derringer, die nur eine Patrone pro Lauf boten und die nach dem Schuss nachgeladen werden mussten. Allerdings wie sollte man mit Langwaffen herumfuchteln? Das erschien ihm schwierig.
Und dann fand er den nächsten interessanten Hinweis, dass nämlich Morde auch mit selbst gebauten Schussapparaten geschahen, und in dem Moment erinnerte er sich an einen Film, den er vor sicher zwanzig Jahren gesehen hatte: „Der Schakal“.
Im „Schakal“ ging es um ein geplantes Attentat der OAS auf Charles de Gaulle, in dem sich der Attentäter extra ein zerlegbares Gewehr von einem Büchsenmacher bauen ließ! Er klappte das Buch langsam zu, und rief sich die Szene in das Gedächtnis zurück. Erstaunlich, was man sich alles merkte. Das Gewehr bestand nur aus einem Lauf und einem einfachen Schloss mit Abzug. Die Patronen hatte der Film-Büchsenmacher auch selber gemacht! Stopp, halt mal, Patronen!
Er schlug den Index des Buches auf und schaute unter Patrone nach – und siehe da, das war ja ganz einfach. Treibmittel war vor allem Schießbaumwolle und die hatte er schon mit vierzehn Jahren zusammen mit seinem Schulfreund Klaus hergestellt, das war ein Klacks gewesen, wenn er sich richtig erinnerte – und was sie mit vierzehn gekonnt hatten, konnte nicht wirklich schwierig sein, oder? Das Buch bot auch einige Schnittzeichnungen durch Patronentypen! Das musste sich Udo, ihr Techniker, mal anschauen!
Er hatte genug gesehen. Er trug die Bücher brav an ihren Standplatz zurück und verließ die Bibliothek. Wieder musste er am Zerberus vorbei, der ihn wieder skeptisch musterte, vermutlich, weil er in der Schlange der Auslass begehrenden der einzige ohne Laptop und, wie ihm auffiel, fast der einzige ohne Wasserflasche war.
Daran mussten sie denken, wenn Udo und er wieder Einlass begehrten: Laptop und Wasserflasche waren hier in der Staatsbibliothek offenbar ein Muss, ohne war man offenbar ein Niemand.
Entlang der Ludwigstraße ging er zur U-Bahn-Station am Odeonsplatz und fuhr mit der U4 zur Theresienhöhe. Dort befand sich sein Lieblings-Saturn-Hansa-Markt mit einer riesigen DVD-Abteilung. Hier wollte er sich den Film „Der Schakal“ und vor allem einen anderen Film, an den er sich erinnerte, nämlich „Der Eiskalte Engel“ mit Alain Delon besorgen.
Im „Eiskalten Engel“ spielt Alain Delon einen (natürlich) eiskalten Profikiller – den brauchte er unbedingt! Irgendwie fühlte er sich ein bisschen wie Alain Delon, der einsamste Killer von allen. Aber auch der beste, auch wenn der am Schluss starb. Das würde er zu vermeiden wissen. Ganz bestimmt.
Der Verkäufer hatte erstens Zeit für ihn und war zweitens recht nett. „Der Schakal“ hatte er schnell gefunden, aber „Der eiskalte Engel?“, sagte er kopfschüttelnd, „Glaube ich nicht...“
„Wie“, fragte der Graf, „das ist doch ein Klassiker, den muss es doch geben?“
Der Verkäufer bat ihn zu einem PC und suchte lange, schließlich sagte er, „Nein, gibt es wirklich nicht, auf französisch hat es ihn mal gegeben, ist aber auch nicht mehr lieferbar. Ich dachte, er sollte auf Blue Ray neu erscheinen, aber da ist bei der Pressung irgendetwas schief gegangen, habe ich gelesen, jedenfalls wurde die ganze Charge vernichtet oder so... Nein, nicht lieferbar!“.
Er schaute den Grafen bedauernd an. Dann sagte er, „mal sehen, vielleicht gibt es eine DVD-Kassette, wo der dabei ist, kommen sie bitte mal mit.“ Er ging durch ein paar Regale, griff sich eine dicke Kassette und las den Inhalt. „Nein“, sagte er schließlich, „da ist er auch nicht dabei“, und dann dachte er einen Moment lang nach und empfahl schließlich, dass der Graf doch mal auf Ebay oder bei Amazon suchen solle, vielleicht habe er da ja Glück mit einer gebrauchten DVD? Und damit wandte er sich entschuldigend lächelnd einem anderen schon unruhig wartenden Kunden zu.
Im Hinausgehen fiel dem Grafen eine sehr rote Filmverpackung auf: „Leon der Profi“. Von dem hatte er neulich gelesen, dass das ein exzellenter Krimi um einen Killer und ein junges Mädchen sei, das zur Killerin ausgebildet werden wollte, weil sie den Mord an ihrem kleinen Bruder rächen wollte. 9,99 Euro las der Graf und nahm die DVD mit. Vielleicht war da ja eine Idee darin, die sie gebrauchen konnten.
Er nahm die U4 zum Hauptbahnhof, stieg dort in die U1 zum Rotkreuzplatz um, um dann die letzte Strecke mit der Straßenbahn bis zur Fasaneriestraße zu fahren.
22. März. Am Kiosk