- -
- 100%
- +
Kurz und gut, Herr Kleiber fing an, die unterste der Spechtwohnungen immer öfters zu besuchen, blieb dann einmal für eine Nacht, wahrscheinlich um auszutesten, ob wirklich alles im Reinen war, dann blieb er noch einmal eine Nacht und noch eine Nacht und eine Woche später begann er zu bauen. Nach genauer Untersuchung des Eingangstores hatte Herr Kleiber nämlich festgestellt, dass dieses Tor vielleicht für einen zu groß geratenen Schwarzspecht angemessen sein möge, aber nicht für einen anständigen Vertreter der Kleibersippe. Also musste der Eingang unbedingt verkleinert werden, und zwar so weit, dass wirklich nur noch die kleinen Leute aus der Kleibersippe hindurchpassen. Ein kleibermaßgerechtes Einflugloch hat natürlich den Vorteil, dass andere Wohnungssuchende, wie die lästigen Verwandten aus dem Meisenvolk, die Wohnung nicht so einfach besetzen können, denn auch für diese Herrschaften wäre das verkleiberte Loch dann leider zu eng.
„Zit, zit, selber schuld“, pflegte Herr Kleiber dann zu sagen, „zit, zit, wer so groß und vollgefressen ist wie dieser dumpfbackige Konrad Kohlmeise und seine noch vollgefressenere Gattin Carolina Kohlmeise, na ja, der hat eben Pech gehabt und muss draußenbleiben, zit, zit.“
Ein Eingangstor zu verkleinern, ist für Herrn Kleiber von Haus aus eine leichte Übung, denn wie der Name Kleiber schon aussagt, ist er ein Meister im Zukleben oder Zukleibern. Vor allem mit dem Baustoff Lehm kennt Herr Kleiber sich glänzend aus und er weiß daher natürlich auch, wo es den besten Lehm im ganzen Brommelshausener Stadtwald gibt. Natürlich weiß er auch, wie man den feuchten Lehm mithilfe von eigenem Speichel und anderen Zutaten fachgerecht an den Rändern eines zu großen Einflugloches anklebt und wie man auf die erste Schicht Lehm eine zweite, eine dritte und, wenn es sein muss, noch viele weitere Schichten aufträgt. Selbstverständlich weiß Herr Kleiber auch, wie lange der Lehm trocknen muss, bis aus dem weichen Lehmbrei eine steinharte Mauer entstanden ist.
Trotz all dieser meisterlichen handwerklichen Fertigkeiten von Herrn Kleiber war die Durchführung dieser Torverkleinerung mehr als eine Mammut-Heidenarbeit, denn das Tor war riesig und Herr Kleiber dagegen winzig klein. So sahen die staunenden Nachbarn einen lehmverschmierten Herrn Kleiber mehrere Tage emsig hin und her fliegen. Jedes Mal, wenn Herr Kleiber zurückkam, hatte er ein kleines Kügelchen Lehm in seinem spitzen Schnabel. Er klebte dieses Kügelchen sorgfältig an die vorgesehene Stelle am Eingangsloch, flog wieder davon, kam mit einem neuen Kügelchen zurück, klebte dieses Kügelchen an eine andere Stelle und hörte erst dann mit dem Gekleibere auf, bis wirklich nur noch er selbst sich durch die enge Einflugöffnung zwängen konnte. Kopfunter am Stamm der Kiefer hängend, betrachtete Herr Kleiber nun stolz und zufrieden sein Werk.
„Zet, zet, ich muss wirklich sagen, das Bauwerk ist mir meisterlich gelungen. Das ist jetzt mein Heim und meine Burg, zet, zet!“
Nachdem er dieses der Nachbarschaft lautstark mitgeteilt hatte, verschwand ein sichtlich erschöpfter Herr Kleiber für den Rest des Tages hinter seinen Burgmauern, die ihm jetzt niemand mehr streitig machen konnte.
Seither gehört Herr Kleiber zu den Bewohnern der Spechtsiedlung und hat hier in den Frühlings- und Sommermonaten, zusammen mit einer gewissen Frau Kleiber, auch schon mehrere Generationen kleiner, lärmender Spechtmeisen aufgezogen. Sobald die kleinen Kleiberlinge jedoch selbstständig geworden waren, war auch diese Frau Kleiber auf einmal verschwunden. Angeblich flog sie dann immer auf Kur, um sich von den Strapazen der Kindererziehung zu erholen. Nun gut, am Anfang wurde in der Nachbarschaft noch ein bisschen über die Kleibers und speziell über diese Frau Kleiber getratscht, dann immer weniger und irgendwann überhaupt nicht mehr und da fing man an die Kleibers zu akzeptieren. Denn trotz seiner Eigenheiten und seiner etwas gewöhnungsbedürftigen Art erwies sich Herr Kleiber letztendlich doch als umgänglicher und verträglicher Mitbewohner in der Wohngemeinschaft der mächtigen, allein stehenden Kiefer.
Die anderen beiden Wohnungen in der Spechtsiedlung blieben ohne feste Bewohner, wenn auch ab und zu eine namenlose Fledermaus den Tag in einer der beiden Höhlen verdöste. Bei Einbruch der Dämmerung verschwanden diese scheuen Besucher aber so heimlich, wie sie gekommen waren. Einmal übernachtete eine durchreisende Dohle in einer Spechtwohnung, aber auch dieser Gast blieb nur eine Nacht und flog am nächsten Morgen wieder seiner Wege.
Neben einer Vielzahl anderer Wohnungen und Nester gibt es in der Hochhaussiedlung der mächtigen, allein stehenden Kiefer auch eine Art von Supermarkt, ganz ähnlich dem großen Supermarkt in der Brommelshausener Hochhaussiedlung, und in beiden Märkten finden die hungrigen Besucher alles, was an Nahrungsmitteln für den täglichen Bedarf notwendig ist.
Die Abteilung für verpackte Lebensmittel befindet sich direkt unter der borkigen Rinde der Kiefer. Sie enthält ein sehr reichhaltiges Angebot an köstlichen, knackigen Käfern, leckeren Maden und delikaten Spinnen in allen Sorten, Größen und Geschmacksrichtungen. Der hungrige Besucher des Kiefern-Supermarktes braucht nur die Rinde mit dem Schnabel etwas anzuheben, dann vielleicht noch ein kurzer gezielter Schnabelhieb und schon liegt die Ware ausgepackt und schnabelfertig zubereitet vor ihm.
Wem das Auspacken zu anstrengend ist, kann sich auch mit unverpackten Lebensmitteln begnügen. Diese bestehen aus gefüllten Raupenspezialitäten, appetitlichen Fliegen, wunderbar süß schmeckenden Läusen, sauer zubereiteten Ameisen und manch anderen Leckereien. Die offene Ware ist für jeden gut sichtbar im Nadelwerk und auf den Ästen der Kiefer verteilt, allerdings muss der Kunde ein wenig beweglich sein, da manche der Leckereien die Angewohnheit haben, einfach davonzufliegen, sobald ein Schnabel oder eine Kralle nach ihnen greifen will.
Für Vegetarier hat der Supermarkt auch noch die Samen der Kiefernzapfen auf Lager, aber die sind so gut verpackt, dass nicht jeder diese schmackhaften Happen erreichen kann, außer man heißt zufällig Eichhörnchen oder Rötelmaus. Manchmal kann sich auch ein vegetarisch gesinnter Specht oder sogar ein Kleiber an den Samen-Leckereien erfreuen, aber das ist dann mehr die Ausnahme und passiert eigentlich nur im Herbst oder Winter, wenn die fleischliche Küche anfängt knapp zu werden.
Natürlich wird der Kiefern-Supermarkt tagein und tagaus von vielen Kunden besucht, schon allein, weil ja alles umsonst ist und wer kann dann schon solchen geschmackvollen Gratisangeboten widerstehen? Da sind natürlich die Kleibers, die sich hier bestens auskennen und genau wissen, wo sie die leckersten Spezialitäten mit ihren spitzen Schnäbeln ergattern können. Meike Himmelblau, die Blaumeise, die neuerdings den Nistkasten bei der Lichtung Tannengrün bezogen hat, ist ebenfalls ein häufiger Kunde im Supermarkt der Kiefer. Ebenso ihre Verwandtschaft aus den Sippen der Kohlmeisen und Tannenmeisen. Grünspechte, Buntspechte und Schwarzspechte bevorzugen ausschließlich die Ware, die verpackt unter der Rinde gelagert ist. Übrigens: Fidelius Klopfer ist seit seinem überhasteten Auszug kein Kunde mehr im Supermarkt.
Weil das Lebensmittelangebot so reichhaltig ist, genehmigen sich auch Emil Elster und seine Gefährtin Ella Elster ab und zu ein paar besondere Leckerbissen aus dem Angebot der Kiefer, aber nur wenn es sich gerade so ergibt. Ansonsten suchen sie ihr Essen lieber auf den Feldern und Wiesen in der Umgebung. Das gemächliche Abschreiten der Wiesen im Tal, wobei jeder Stein umgedreht wird, um an die dicken Asseln und Spinnen zu gelangen, oder das Stochern nach saftigen Regenwürmern im Morast beim Krähenbach macht einfach viel mehr Spaß. Zwischendurch können es auch ruhig mal ein Pilz, ein paar heruntergefallene Beeren oder, wenn es schon mal passiert, auch eine unvorsichtige Feldmaus sein. Vogeleier und kleine Vogelkinder schmecken zwar auch nicht schlecht, aber erstens bekommt man sie nicht alle Tage und zweitens sind diese Dinge in der Wohngemeinschaft des Hochhauses absolut tabu. Emil und Ella Elster stammen aus dem Geschlecht der Rabenvögel und in dieser großen Familie ist es eigentlich üblich, dass alle Mitglieder rabenschwarze Anzüge tragen, und das nicht etwa, weil alle Krähen und Raben ausgesprochene Trauerklöße sind, sondern weil es sich einfach so gehört und weil es schon immer so war. Raben und Krähen mögen Elstern schon deshalb nicht leiden, weil Elstern sich weigern, schwarze Anzüge zu tragen, sondern schwarz und weiß gemusterte Federkombinationen vorziehen. Aber ich glaube, das alles wurde schon einmal erwähnt und braucht deshalb nicht mehr weiter vertieft zu werden.
Emil und Ella Elster wohnen schon lange im Kiefernhochhaus, länger als die ganze Nachbarschaft zusammen. Hoch oben, im wogenden Wipfel der Kiefer, hat das Elsternpaar schon vor Jahren die riesige, mit derben Zweigen und Ruten überdachte Elsternburg bezogen. Die Bezeichnung „Burg“ ist dabei wirklich nicht übertrieben, denn dieses stolze Bauwerk ist bestimmt mehr als fünfmal so groß wie ein gewöhnliches Elsternnest. Das ursprüngliche Nest, so sagt man, wurde gar nicht von Elstern gebaut, sondern soll vor langer Zeit die Heimstätte des letzten großen Greifvogelpaares im Brommelshausener Forst gewesen sein (ob es wirklich Adler waren, konnte mir keiner bestätigen). Erst nach dem endgültigen Verschwinden der großen Vögel wurde der riesige Horst von einem baufreudigen Elsternpaar in Besitz genommen und mit viel Müh und Plage elsterngerecht überdacht und umgestaltet. Das ist, wie gesagt, schon sehr lange her und seither hat jede Elsterngeneration die Burgwände immer mehr erweitert und verstärkt.
Das war aber noch nicht alles, denn von einem besonders geschickten und sicherheitsliebenden Elsternpaar wurde irgendwann einmal der Eingang in die Burg mit spiralförmig gebogenen und verflochtenen Zweigen so weit nach außen verlängert, dass eine Eingangsröhre entstand, ähnlich einem schmalen Windfang in einem Brommelshausener Wohnhaus. Diese Röhre ist länger als eine Elsternlänge und so bemessen, dass sich ein Elsternkörper gerade noch so hindurchbewegen kann. Eindringlinge mit größeren Körperabmessungen kommen entweder erst gar nicht hinein oder bleiben spätestens auf halber Strecke in dem Astgewirr innerhalb der Röhre stecken.
Kurz gesagt, die Elsternburg auf der allein stehenden Kiefer ist die größte und mächtigste Burg in der ganzen Gegend und wer weiß, vielleicht sogar die größte im ganzen Land. In dieser luftigen Höhe zu wohnen, hat natürlich seinen besonderen Reiz, denn von dort können die scharfen Elsternaugen das Wiesental, den Krähenbach und den Wald, fast bis zur Lichtung Tannengrün, überblicken. So ein Weitblick ist ganz nützlich, denn es ist doch immer gut, anreisende Gäste frühzeitig zu sichten.
In der gemütlichen, mit Moos und trockenen Gräsern ausgepolsterten Nestmulde haben Emil und Ella Elster schon einige Generationen an jungen Schwarzweißen aufgezogen. In diesem Jahr waren es zwei Mädchen und zwei Buben und nach langem Überlegen haben Emil und Ella sich entschieden, ihren Kindern typische Elsternnamen zu geben. Die Buben heißen Edgar und Erich, die Mädchen Elfriede und Elsa. Der Nachname ist natürlich Elster, denn alle Schwarzweißen heißen mit Nachnamen Elster, egal wo sie zu Hause sind, sei es in Europa, in Amerika oder sonst irgendwo. Das ist nun einmal uralte Elsterntradition.
Die kleine Elsa wurde allerdings von Anfang an nur Elschen genannt, weil sie eben die Kleinste von allen war und übrigens immer noch ist.
Erich, Edgar, Elfriede und Elsa haben das ganze Frühjahr und einen Teil des Sommers in der Nestmulde verbracht und ihre Eltern in dieser Zeit ganz schön auf Trab gehalten.
„Tschääck, tschääck, wir haben Hunger, tschääck, tschääck!“, schrien Edgar, Elfriede und Elschen und rissen gierig die Schnäbel auf. „Tschiick, tschiick, ich habe auch Hunger!“, jammerte dann der kleine Erich, der einen Sprachfehler hat und deshalb kein richtiges tschääck, tschäck oder täk schäckern kann, was aber keinen stört.
So klang es den ganzen Tag in den Ohren der geplagten Eltern und Emil und Ella Elster sind kaum nachgekommen, die weit aufgesperrten Schnäbel mit allerlei Essbarem zu stopfen. Vor Kurzem sind die lieben Kleinen aber selbstständig geworden und an einem sonnigen Morgen sind sie alle miteinander ausgezogen. Jetzt wohnen sie zusammen mit anderen Elstern-Teenagern auf einem schönen Schlafbaum, eine gute Strecke bachaufwärts im östlichen Teil des Wiesentales.
Nur Elschen, das kleine, quirlige Elsternmädchen, hat sich noch nicht so ganz entwöhnt und kommt öfters mal auf einen Sprung vorbei, um sich zu vergewissern, dass es Mama und Papa auch wirklich gut geht. Bevor sie dann wieder zu ihrem Schlafbaum zurückfliegt, kuschelt sie sich jedes Mal, nur für eine kurze Flügelschlaglänge, in die weich ausgepolsterte Nestmulde und genießt dabei das wohlige Gefühl, wieder ein kleines, umsorgtes Elsternkind zu sein.
Ach ja, der Elstern-Teenager-Schlafbaum, der übrigens gar nicht mehr so heißt, weil er von den Jungelstern neulich kurzerhand in „Schlafbaum der wilden Vorwaldbande“ umbenannt wurde. Elstern-Teenager-Schlafbaum klang doch wirklich so was von langweilig und altmodisch. Den Gangnamen „Wilde Vorwaldbande“ hatten sie sich schon vorher ausgedacht. „Wilde Vorwaldbande“ war dann einigen doch zu lang, deshalb nennen sie sich jetzt meistens nur noch „Vorwaldbande“.
Der ehrwürdigen Linde ist es egal. Sie beherbergt schon seit vielen Elstern-Generationen die Jungelstern aus der ganzen Umgebung und hat dabei schon einiges erlebt. Nur sie allein kann den Anspruch erheben, die angesagteste Jugendherberge im ganzen Stadtwald zu sein. Ihre Exklusivangebote sind Waldrandlage, bequeme waagerechte Äste zum Sitzen und Schlafen und ein bevorzugter Ausblick auf den Krähenbach. Leider ist der Krähenbach in diesem Teil des Tales im Sommer meistens ausgetrocknet, was Elsternaugen aber nicht im Geringsten stört.
Jetzt könnte sich doch mancher fragen, was die Jungelstern von der wilden Vorwaldbande den ganzen Tag eigentlich so treiben. Kämpfen sie tollkühn gegen grimmige Feinde? Retten sie unter Einsatz ihres Lebens kleine hilflose Elsternküken?
Ganz so dramatisch ist der Alltag der Vorwaldbande sicherlich nicht, trotzdem gäbe es viel zu erzählen. Wir beschränken uns aber erst einmal auf eine kleine Episode, die sich vor einiger Zeit an einem heißen Augusttag zugetragen hat.
Eine kleine August-Episode
Kann es für Elstern-Teenager eigentlich was Schöneres geben als Sommer, warme Sonne, blauen Himmel und so viel zu essen, dass die fetten Insekten fast schon freiwillig in die träge geöffneten Schnäbel marschieren? Wenn das nicht das pralle Leben bedeutet, was soll denn dann noch Besseres kommen?
Alles könnte perfekt sein, wenn, ja wenn es nur nicht ganz so heiß wäre, wie es heute wieder der Fall ist. Die gelbe Scheibe, die so heiße Strahlen aussenden kann, klebt noch hoch über dem Horizont und die meisten Mitglieder der Vorwaldbande haben sich in die schattigen Tiefen des Forstes zurückgezogen, um dort, vor sich hindösend, der drückenden Hitze zu entfliehen.
Nur Edgar, Elfriede, Erich und Elsa sind auf dem Schlafbaum geblieben und hoch oben auf seinem Beobachtungsposten hält wohl auch Eddy Elster, der Schwarmspäher, noch die Stellung. Vielleicht in der Hoffnung, mal wieder etwas zu erspähen, was einen schönen Alarm wert wäre.
Edgar, Elfriede und Erich kauern mit ausgestellten Flügeln in den beschatteten Bereichen des Schlafbaumes und sehen so aus, als wäre Bewegung das Allerletzte, wonach ihnen jetzt der Sinn stehen würde.
Nicht so die kleine, zierliche Elsa, die deutliche Anzeichen von Langeweile zeigt. Unruhig und mit wippendem Schwanz turnt sie auf ihrem Ast herum, während sie quengelig zu ihrem großen Bruder hinüberschäckert.
„Täk, täk, Edgar, mir ist so krääähenmäßig langweilig und es ist sooo heiß! Wollen wir nicht zur Burg fliegen? Der Krähenbach ist dort noch nicht ganz ausgetrocknet.
Wir könnten uns ein bisschen nass spritzen und vielleicht auch ein paar dicke Schnecken aus dem Schlamm ziehen, täk, täk!“
Edgar sitzt mit halb geöffnetem Schnabel unter einem üppig belaubten Zweig, der sich wie ein Sonnenschirm über ihm ausbreitet, und hechelt sich die Hitze aus dem Leib.
„Täk, täk, Elschen, dich hat wohl die Krähe gekratzt. Es ist viel zu weit und viel zu heiß. So lange die gelbe Scheibe so hoch steht, werde ich mich hier nicht von der Stelle rühren, verstehst du, täk, täk.“
Damit ist für Edgar die Sache wohl erledigt, denn er dreht sich demonstrativ von der nervenden Schwester weg und verfällt wieder in seine selbsterwählte Hitzestarre.
Edgar ist der Älteste der vier Geschwister, denn er ist immerhin etliche Elstern-Flügelschläge vor Elfriede, der Zweitältesten, aus seinem Ei geschlüpft. Erich folgte erst eine Weile später und Elsa ist sowieso die Kleinste und die Jüngste. Für sein jugendliches Alter ist Edgar schon eine stattliche Elster und überragt alle anderen Elstern-Teenager um mindestens eine und seinen etwas klein geratenen Bruder Erich sogar um zwei Schnabellängen. Kein Wunder, dass Edgar der Schwarm vieler Elstern-Mädchen ist, denn er ist nicht nur groß und stark, sondern meistens auch nett und hilfsbereit.
Jetzt gerade findet Elsa ihren Bruder überhaupt nicht nett und schon gar nicht hilfsbereit, doch sie will noch nicht aufgeben und wendet sich deshalb mit einschmeichelndem Geschäcker an ihre anderen zwei Geschwister.
„Täk, täk, ihr zwei seid doch sowieso meine Lieblingsgeschwister und wenn diese große Faulkrähe nicht will, dann fliegen wir eben alleine zum Krähenbach und werden dann viel Spaß haben, täk, täk.“
Doch auch hier scheint Elsa nicht landen zu können, denn Elfriede hat für das aufgedrehte Elschen nur einen kurzen, müden Blick übrig, bevor sie wieder in sich zusammenfällt und es dann gerade noch schafft, die Schwester gereizt anzuschäckern.
„Täk, täk, Elschen, spar dir bloß dein dummschnäbliges Gesülze. Hier fliegt keiner irgendwohin und wenn, dann werde ich bestimmt nicht dabei sein, täk, täk.“
Elfriede ist etwas größer und deutlich stämmiger als die zierliche Elsa und ihre Geschwister ärgern sie manchmal, indem sie sich über ihren angeblich dicken Hintern lustig machen. Elfriede kann allerdings recht streitlustig sein und ist bestimmt auch nicht auf den Schnabel gefallen. Vor allem der oft etwas begriffsstutzige Erich ist ihr liebstes Opfer und wird bei fast jedem Streit (und streiten tun die zwei eigentlich ständig) gnadenlos in Grund und Boden geschäckert.
Dieser kleine Erich, der bisher noch keinen Mucks von sich gegeben hat, muss sich wohl gerade an Elsas Unternehmungslust angesteckt haben, denn anstatt weiterzudösen, streckt er auf einmal umtriebig den Hals weit nach vorne und schickert eifrig los, als hätte er etwas äußerst Wichtiges zu verkünden.
Jawohl, Erich schickert immer noch, denn er bekommt das tief aus der Kehle kommende tschäck oder täk einfach nicht hin, aber das war schon immer so und den anderen fällt es schon gar nicht mehr auf.
„Tik, tik, hört mal alle her! Wir könnten doch zum Eichenwald gehen und mit Strix Waldkauz ein bisschen Eulenstupsen spielen. Wir wissen doch, wo er sich dort immer verkriecht, tik, tik.“
Eulenstupsen ist bei allen Schwarzweißen ein beliebtes Gesellschaftsspiel. Bei diesem lustigen Spiel wird ein ahnungslos schlafender Nachtjäger überfallen und so heftig mit den Schnäbeln attackiert, dass der zu Tode erschrockene Nachtvogel meistens mit einem jämmerlichen Eulenschrei vom Ast fällt. Ein besonders geeigneter Spielpartner ist dabei der überaus ängstliche und neurotische Strix Waldkauz, der deshalb auch oft Strix Angstkauz genannt wird.
Wie gesagt, ein sehr beliebtes Gesellschaftsspiel, aber dieses Mal scheint sich Elfriede über den Vorschlag von Erich nur maßlos zu ärgern. Vielleicht ist die Hitze daran schuld oder vielleicht hat sie es auch einfach nur satt, dauernd in ihrer Mittagsruhe gestört zu werden. Mit bewundernswerter Energie rappelt sie sich plötzlich auf und fährt ihren Bruder mit gesträubten Federn heftig an.
„Tschäck, tschäck, ich glaub es einfach nicht, jetzt muss dieser Dummschnabel auch noch sein Geschicker dazugeben. Hat man denn hier nie seine Ruhe!“
Mit beißendem Hohn giftet sie weiter, während der völlig überraschte Erich seine ausgerastete Schwester entgeistert anstarrt.
„Tschäck, tschäck, dann geh mal schön zum Eulenstupsen, du Dummschickerer! Ich für meinen Teil würde es zumindest mal mit fliegen versuchen, oder hat dir die gelbe Scheibe den Kopf so ausgetrocknet, dass du vergessen hast, was Federn und Flügel sind, tschäck, tschäck!“
Die Hitze scheint Elfriedes Angriffslust aber schneller zu dämpfen, als ihr selber lieb ist. Abrupt beendet sie ihre Schimpftiraden und zieht sich, sichtlich erschöpft, in ihre Ruhestellung zurück, den Bruder jetzt nur noch mit kalter Missachtung strafend.
Erich öffnet gerade den Schnabel, um Elfriede ebenfalls ein paar Gemeinheiten zu verpassen, doch bevor noch ein einziger Schickerer seinen Schnabel verlassen kann, zerreißen ohrenbetäubende Schreie die hitzeflirrende Luft.
„Tschääääääck, tschääääääck, tschääääääck!“
Die Schreie sind so durchdringend und so laut, dass die Geschwister erst einmal erschrocken zusammenzucken, dann richten sich alle Hälse und Schnäbel ruckartig nach oben, denn der Lärm kommt zweifellos von da her und der Verursacher kann sich nur im Wipfel des Schlafbaumes aufhalten.
Merklich gereizt von der lautstarken Störung schäckert Edgar unwirsch in Richtung der Lärmquelle: „Tschäck, tschäck, was ist los, Eddy? Gibt es vielleicht auch einen Grund für dein Geschrei, oder willst du uns einfach nur die Mittagsruhe verderben, tschäck, tschäck!?“
Eddy Elster, der Schwarmspäher, der auf seinem luftigen Beobachtungsposten seiner Arbeit nachgeht, hat wieder einmal Alarm geschlagen. Eddy ist, was Größe und Statur anbelangt, kaum mehr als eine Durchschnittselster, aber seine Warnschreie sind berühmtberüchtigt im ganzen Stadtwald und wahrscheinlich auch noch weit darüber hinaus. Sie sind so ziemlich das Lauteste, was Elsternohren hier im Forst je zu hören kriegen. Leider bekommen sie es öfters zu hören, als ihnen lieb ist, denn Eddy Elster ist auch dafür bekannt, dass er sein eindrucksvolles Organ sehr gern und sehr oft einsetzt. Natürlich nur zum Wohl und zum Schutz der Bande. Eine vorbeihuschende Fledermaus oder manchmal sogar nur ein paar verirrte Nachtfalter genügen dem aufmerksamen Schwarmspäher, um einen nächtlichen Großalarm auszulösen.
Aber jetzt, am helllichten Tag und dazu noch bei dieser Bruthitze? Was mag der Schwarmspäher bloß wieder entdeckt haben? Ein paar Feldspatzen vielleicht, die sich ungebührlich nahe herangewagt haben?
Die Geschwister wirken daher auch mehr genervt als verunsichert und ihr Murren bleibt dem Schwarmspäher natürlich nicht verborgen. Doch Eddy lässt sich davon nicht im Geringsten beeindrucken und schäckert im saloppen Ton zu den Schwarmfreunden hinunter.
„Tschäck, tschäck, Überraschung, Freunde. Einer von diesen großen, braunen Krummschnäbeln hat gerade den Wald verlassen und es sieht ganz so aus, als ob er bei uns auf einen Sprung vorbeischauen will, tschäck, tschäck!“
Das Geschäcker des Schwarmspähers wird jetzt eine Spur hektischer und aufgeregter, aber Angst und Panik scheint das Auftauchen des großen Greifvogels nicht gerade zu verbreiten, komischerweise eher das Gegenteil.
„Tschäck, tschäck, mich kratzt die Krähe! Der große Braune flattert tatsächlich direkt auf unseren wunderschönen Baum zu, tschääck. Leute, ich spür’s in den Schwanzfedern, dass wir mit diesem Riesendummschnabel gleich einen Riesenspaß haben werden! Macht ihr mit oder soll ich mich allein amüsieren, tschäck, tschäck!?“
Was jetzt passiert, kann nur der verstehen, der weiß, dass es für alle Rabenvögel nichts Spaßigeres gibt, als einen Bussard zu belästigen. Das Allerspaßigste daran ist, dass Bussarde sich trotz ihres gewaltigen Schnabels und ihrer Dolchkrallen niemals, und zwar wirklich niemals gegen ihre lästigen Peiniger zur Wehr setzen. Es wirkt schon fast lächerlich, wie sich der schwer bewaffnete Greifvogel so lange von den viel kleineren und schwächeren Schwarzweißen piesacken lässt, bis ihm endlich die Flucht gelingt oder seine Verfolger keine Lust mehr haben.