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Elbert Elster, der geniale Kopf der Vorwaldbande, hat daher mit messerscharfem Verstand die These aufgestellt, dass aus der Sippe der Braunen wohl nie eine Geistesgröße, wie er selber ja eine ist, hervorgehen wird. Dazu sind die Kerle einfach zu dumpfbackig.
Wie dem auch sei. Schon bei der ersten Erwähnung des Braunen verwandeln sich gerade noch hitzeschlappe Vogelgestalten in angriffslustige Bussardjäger. Schläfrigkeit und Hitzestress sind auf einmal wie weggeblasen und vier Augenpaare suchen aufgeregt nach dem gar nicht so unwillkommenen Eindringling. Lange brauchen sie nicht zu suchen. Der große, braune Vogel, der sich im Tiefflug nähert, ist nicht mehr zu übersehen und auch nicht zu überhören, denn er stößt immer wieder miauende Schreie aus, die entfernt an eine Katze erinnern.
Begeistert schäckert Edgar zum Schwarmspäher empor: „Tschäck, tschäck, Eddy, wir sehen den Braunen jetzt auch und wie es aussieht, will er uns tatsächlich besuchen. Wir sollten ihm zur Begrüßung wirklich ein bisschen die Federn zerzausen. Leute, das wird ne Riesensache, dagegen ist Eulenstupsen das reinste Kükenspiel, tschäck, tschäck!“
Gemächlich gleitet der Bussard mit halb angewinkelten Schwingen dicht über dem Grasboden des Wiesentales dahin und direkt auf den Schlafbaum der lauernden Schwarzweißen zu. Sein Blick ist nach unten gerichtet, wahrscheinlich ist er auf der Suche nach seiner Leibspeise, nämlich nach Mäusen, und diese Tätigkeit nimmt ihn so in Anspruch, dass er seiner Umgebung keine Beachtung schenkt.
Gespannt verfolgen die Schwarzweißen den ruhigen Schwebeflug des ahnungslosen Mäusejägers und was sie sehen, ist beeindruckend. Allein die Spannweite der Schwingen beträgt mehr als das Doppelte von dem, was eine große Schwarzweiße vorzuweisen hat, und selbst Edgar wirkt gegen dieses Kraftpaket nur wie ein schwächlicher Zwerg.
Dann ist es endlich so weit. Ein kurzer, nicht einmal besonders lauter Signalschäckerer ertönt und der Schlafbaum spuckt fünf schwarzweiße, flatternde Gestalten aus, die sich ohne Umschweife und mit lautem Geschrei auf den überraschten Bussard stürzen.
Bevor dieser überhaupt reagieren kann, hängen Elfriede und Elsa bereits an seinen Schwanzfedern und beginnen heftig daran zu zerren. Edgar und Eddy nutzen den Schwung des Anfluges und stoßen mit aller Wucht auf den tief fliegenden Bussard herab, und zwar so zielgenau, dass es beiden gelingt, ihn mit den Schnäbeln empfindlich am Rücken zu attackieren. Der Braune miaut entsetzt und versucht durch ungeschickte Wendungen seine Peiniger loszuwerden.
„Hiääh, hiääh, ihr schwarzweißes Lumpenpack, lasst mich in Ruhe, hiääh, hiääh!“
Verzweifelt versucht der Bussard zu entkommen, doch seine Gegner sind hartnäckig. Zwei davon hängen immer noch schwer an seinem Stoß und behindern durch ihr Gewicht seine Fluchtversuche. Von oben wird sein Rückengefieder durch einen Hagel von Schnabelhieben so heftig bearbeitet, dass überall abgelöste und herausgerissenen Federn und Federchen herumstieben. Der Bussard wird langsamer und das gibt auch Erich, der bisher nur hinterhergeflattert ist, endlich die Gelegenheit, zum Bussard und zu seinen kämpfenden Geschwistern aufzuschließen. Eine abstehende Feder des zerzausten Bussardstoßes ist das Ziel seiner Begierde und schon zum Hineinbeißen nahe, wirklich schon ganz nahe, doch dann breitet der bedrängte Bussard seine Schwingen zur vollen Spannweite aus und beginnt heftig damit zu rudern. Der dabei entstehende plötzliche Luftwirbel schleudert Erich seitlich weg und sein zuschnappender Schnabel klappt ins Leere. Erich stößt einen enttäuschten Schrei aus, aber auch seinen Schwestern geht es nicht viel besser. Beide müssen den Bussardstoß abrupt loslassen, als ihr unfreiwilliger Spielpartner sich plötzlich mit gewaltiger Kraft fast senkrecht in den Himmel hochkatapultiert. Mit ärgerlichem Gekrächze flattern sie jetzt umher und schimpfen dem Spielverderber empört hinterher.
„Hiääh, hiääh, hiääh, hiääh!“
Triumphierende Katzenschreie ausstoßend, schraubt sich der Bussard immer höher in den blauen Himmel hinauf, nur noch von Edgar und Eddy mit wütendem Geschäcker verfolgt. Trotz wildem Flügelflattern sind die beiden aber bereits hoffnungslos abgehängt und der Abstand wird mit jedem Flügelschlag größer und größer. Schließlich geben sie die Verfolgung auf und kehren mit müden Flügelschlägen zu ihren Geschwistern zurück.
„Hiääh, hiääh, hiääh, hiääh!“
Mit der Erfahrung eines perfekten Segelfliegers lässt sich der Bussard von der Energie des Aufwindes immer höher tragen, bis er endlich, hoch über den Geschwistern, seine ruhigen Kreise zieht. Wohl wissend, dass ihm die schwarzweißen Quälgeister mit ihren kurzen Flügeln und ihrem unbeholfenen Flatterflug dorthin nicht mehr nachfolgen können.
Wahrscheinlich hat er den Zwischenfall auch schon wieder vergessen, denn Bussarde sind zwar geniale Segelflieger, aber, wie schon gesagt, nicht gerade Geistesriesen.
Auf dem Aussichtspunkt des Schlafbaumes, dort, wo normalerweise Eddy seinen Platz hat, sitzt eine etwas klein und schwächlich geratene Elster und beobachtet kopfschüttelnd das Spektakel.
Eine ungewöhnlich weiße Ringfärbung rund um beide Augen verleiht der Schwarzweißen das Aussehen eines Brillenträgers, was, zumindest bei einem menschlichen Beobachter, unweigerlich den Eindruck von überdurchschnittlicher Intelligenz und Gelehrsamkeit hervorruft, und dieser Eindruck täuscht in keiner Weise. Elbert Elster ist so umfassend gebildet, dass oft kein Schwarmfreund mehr versteht, wovon Elbert eigentlich schäckert, wenn er vergeblich versucht dem Schwarm die Ergebnisse seiner wissenschaftlichen Ausarbeitungen zu erläutern. Es geht dann meistens um so komische Sachen wie „Psychologischer Abbau von Flugangst bei Jungelstern“ oder „Wie können wir die Elsternwelt im Zuge der Wissenschaft verändern“. Woher er seine allumfassende wissenschaftliche Ausbildung bezogen hat, ist nicht bekannt und interessiert im Schwarm auch niemanden so wirklich.
Bedächtig kratzt Elbert Elster, der große Universalgelehrte, sich am Kopf und schäckert leise vor sich hin. „Täk, täk, was ich da so mit wissenschaftlichem Interesse verfolge, untermauert meine These bezüglich des recht bescheidenen geistigen Entwicklungsstandes der braunen Einfaltspinsel, täk, täk. Gute Segler, aber alles andere als Gehirnakrobaten, täk, täk.“
Elbert macht eine kleine Pause und verfolgt jetzt mit schief gelegtem Kopf interessiert den Heimflug der deutlich erschöpften und überhitzten Schwarmfreunde.
„Täk, täk, allerdings scheint das Geistesniveau einiger Artgenossen auch nicht wesentlich höher zu liegen. Rohe Gewalt statt geistiger Analyse und das noch bei dieser Hitze, täk, täk, das zeugt bestimmt auch nicht von überragender Intelligenz, täk, täk.“
Damit lässt Elbert es vorerst gut sein. Er schwingt sich energisch von seinem Ausguck, um den angeschlagenen Helden entgegenzufliegen und ihnen mit wissenschaftlichen Ratschlägen zur Seite zu stehen, ob sie diese nun hören wollen oder nicht.
Emil Elsters Leidenschaft
Nach diesem kurzen Ausflug zum Elster-Teenager-Schlafbaum oder besser zum Schlafbaum der Vorwaldbande, kehren wir zur mächtigen, allein stehenden Kiefer zurück, wo der Alltag in seinem gewohnten Gang verläuft.
Neue Bewohner kommen, andere ziehen wieder aus. Nester werden gebaut und wieder verlassen, denn Nestbauer wie Gildo und Gerlinde Grünkern, das Grünfinkenpaar, oder Buchhart und Berta Samenknacker, die Buchfinken, wohnen nur für die Zeit der Kinderaufzucht im Hochhaus der Kiefer. Sind die Kleinen aus dem Haus, packen auch die Eltern ihre Sachen und ziehen weg. Vielleicht werden wir die eine oder andere Familie irgendwann mal näher kennenlernen. Ansonsten sind die Bewohner genug damit beschäftigt, die Kinder zu versorgen, Lebensmittel zu beschaffen, sauber zu machen und mit allem anderen, das der Alltag eben so mit sich bringt. Man wohnt nebeneinander in guter Nachbarschaft und respektiert sich gegenseitig, sodass es nur selten Streitereien zwischen den doch so verschiedenen Gemeinschaften gibt. Alles in allem, es lässt sich wirklich gut leben in der Hochhaussiedlung der mächtigen, allein stehenden Kiefer.
Es hätte eigentlich immer so weitergehen können, wenn Emil Elster nicht dieses eine Hobby hätte. Er sammelt nämlich mit Leidenschaft kleine glänzende Gegenstände und hat davon auch schon eine schöne Sammlung zusammengetragen. Diese kostbare Kleinteile-Ausstellung besteht aus verschiedenen Sorten von Aluminiumfolien, glänzenden Kartoffelchipstüten, aus ein paar Metallscheiben, Nägeln und Schrauben und als Hauptattraktion aus einem wunderschön silberglänzenden Kugelschreiber. Gerade auf dieses Prachtstück ist der Sammler natürlich zu Recht sehr stolz. Die Sammlung wird dann auch jedem, der sie sehen will (oder auch nicht sehen will), mit viel Fachwissen und noch mehr wichtigem Geschäckere vorgeführt.
Jetzt ist es aber so, dass ein echter Sammler nie genug von seinen Schätzen bekommen kann und deshalb sehr viel tut und wagt, um in den Besitz von noch schöneren und noch selteneren glitzernden Dingen zu kommen.
Wer so einer Sammelleidenschaft verfallen ist, der darf sich dann auch nicht wundern, wenn es dabei immer wieder zu aufregenden und vielleicht auch gefährlichen Abenteuern kommt.
Und damit beginnt, wenn man so will, das eigentliche Abenteuer.
Diebstahl im Wald
Es verspricht ein wunderschöner Sommertag zu werden, als der alte Forstmeister Sägebrecht, frühmorgens um halb sieben, in seinen Geländewagen steigt und sich zur Arbeit in seinen Wald aufmacht.
Die Sonne scheint schon kräftig von einem sattblauen Himmel und dieses Blau wird heute Morgen von keinem noch so kleinen Wölkchen getrübt. Im Autoradio verkündet der Wetterfrosch, dass das Wetter auch in den nächsten Tagen warm und niederschlagsfrei bleiben wird. Es ist also ein perfekter Morgen und nichts deutet darauf hin, dass der Tag weniger perfekt verlaufen könnte.
Langsam rumpelt der Wagen den Feldweg Nummer 3 entlang in Richtung Stadtwald. Am Steuer sitzt ein bestens gelaunter Forstmeister, der die Dauer der Fahrt nutzt, um sich noch ein paar Gedanken über den Ablauf des anstehenden Arbeitstages zu machen. Wie es sich für seinen Berufsstand so gehört, ist er ganz in Grün gekleidet, also grüne Hose, grünes Hemd und darüber noch eine grüne Lodenjacke mit großen Taschen. Neben ihm auf dem Beifahrersitz liegt zudem noch ein großer Försterrucksack, natürlich ebenfalls in Grün. In einer der Jackentaschen befindet sich selbstverständlich seine gut gefüllte Schnupftabakdose, denn ohne seinen geliebten Schnupftabak macht unser guter Forstmeister keinen Schritt aus dem Haus.
Habe ich ihn auch wirklich eingesteckt?
Seine rechte Hand löst sich vom Steuerrad und betastet die besagte Tasche. Erst als er die Konturen der Dose spürt, greift er wieder beruhigt zum Lenkrad und widmet sich weiter seiner Arbeitsplanung.
Da wäre die morsche Fichte im Nadelholzforst, die dringend gefällt werden muss. Diese anstrengende Arbeit will Forstmeister Sägebrecht möglichst noch in den kühleren Morgenstunden angehen. Später wird er den Baum noch entasten und den Stamm in grobe Klötze zersägen. Morgen Früh soll dann der junge Forstanwärter Horst Förster das ganze Zeug mit dem Ladewagen abholen. Übrigens: Der junge Forstanwärter heißt wirklich Förster und es hat wohl mit seinem Nachnamen zu tun, dass er seit seiner Kindheit davon träumt, nicht nur Förster zu heißen, sondern auch Förster zu werden.
Mittlerweile hat der Geländewagen den Feldweg Nummer 3 verlassen und ist auf einen unbefestigten Forstweg abgebogen. Der Weg führt zuerst durch einen Mischwald, dann wird die Lichtung Tannengrün durchquert und nach weiteren 500 Metern Holperstrecke hat der Forstmeister sein Ziel erreicht. Da hinten, im Nadelwaldstück, steht die Fichte. Es war einmal ein recht stattlicher Baum, aber die dürren Äste, die nur noch an wenigen Stellen mit braunen Nadeln bestückt sind, zeugen von seinem schlechten Zustand. So schlecht, dass der Forstmeister ihn bereits letzte Woche mit einem roten Farbkreis zum Fällen markiert hat.
Für einen erfahrenen Forstmeister sind solche Arbeiten nichts Besonderes, aber manchmal gibt es Tage, an denen nicht einmal die alltäglichsten Tätigkeiten gelingen wollen. Noch ist Forstmeister Sägebrecht aber damit beschäftigt, fröhlich vor sich hinpfeifend, Axt, Beil, Keile und Motorsäge auszuladen, und er kann natürlich nicht wissen, was heute noch alles auf ihn zukommen wird.
Dabei ist es doch wirklich ein herrlicher Tag. Die Sonne scheint immer kräftiger vom Himmel und dem Forstmeister wird es bei der Arbeit mit Axt und Motorsäge schnell warm in der dicken Försterjacke.
„Puh, ist das heiß!“, ächzt er und wischt sich mit seinem grünen Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Schwerfällig schält er sich aus der Jacke und schaut sich suchend um. Er will die gute Jacke nicht einfach so auf den Waldboden legen, denn der ist mit einem Teppich aus dürren Fichtennadeln bedeckt und dürre Fichtennadeln auf der Lodenjacke sind etwas, was seine liebe Frau, die Forstmeisterin Waldtraud Sägebrecht, einfach nicht ausstehen kann.
„Waldemar, wie oft muss ich es dir denn noch sagen! Fichtennadeln lassen sich von der Lodenjacke nur ganz, ganz schwer abbürsten. Also, Waldemar, leg deine Jacke bitte nicht einfach so auf den Waldboden, ich bekomme sie sonst nicht mehr sauber!“ Genau so hat ihn Frau Sägebrecht schon öfters gescholten und auf neuerliche Zurechtweisungen ist Forstmeister Sägebrecht nicht sonderlich erpicht.
Sein suchender Blick fällt auf einen hohen Pfahl. Besser gesagt auf einen Wegweiser, denn auf der Spitze des Pfahles ist ein Schild mit der Aufschrift „Zur Lichtung Tannengrün 500 m“ angeschraubt.
Sieh an, das ist doch der ideale Kleiderständer, denkt sich der Forstmeister und ein paar Sekunden später hängt die Jacke sicher an der Pfahlspitze. Dort oben kann das gute Stück bestimmt nicht schmutzig werden. Zufrieden mit seiner Lösung wendet er sich wieder seiner Arbeit zu.
Aber die hat heute ihre Tücken. Immer wieder verkantet sich die Kettensäge in dem verwachsenen Holz der Fichte und klemmt so fest, dass er das Sägeschwert nur mit viel Mühe, viel Schweiß und mithilfe etlicher Keile wieder freibekommt.
„Verflixt und zugenäht, so ein störrisches Biest! Das hab ich ja seit meiner Lehrzeit nicht mehr erlebt“, brummelt er verdrießlich in sich hinein. Prüfend betrachtet er sein bisheriges Werk.
Der Einschnitt hinten ist eigentlich tief genug. Jetzt noch ein Einschnitt hier vorne, dann müsste der Baum doch fallen, überlegt er sich und setzt, keuchend vor Anstrengung, die Motorsäge noch einmal an. Die Säge jault auf, frisst sich ins Holz und dann passiert etwas, was einem altgedienten Forstmeister nie und nimmer passieren darf. So etwas dürfte nicht einmal dem jungen Horst Förster passieren und wenn, würde ihm gehörig der Marsch geblasen werden. Die Stelle für den Einschnitt war wohl falsch gewählt, denn die störrische Fichte fällt zwar endlich um, aber nicht in die Richtung, in die sie eigentlich fallen sollte. Nein, sie fällt ganz anders, und zwar genau auf den Holzpfahl mit dem Wegweiser „Zur Lichtung Tannengrün 500 m“ und damit auch auf die Försterjacke, die da hängt, um nicht mit Nadeln verschmutzt zu werden. Was für ein gewaltiges Knistern und Knacken, als der stürzende Baum den Wegweiser mitsamt der Försterjacke umreißt und dann mit einem ohrenbetäubenden Plumps zu Boden fällt. Wäre das Knistern und Knacken der fallenden Fichte nicht so laut gewesen, hätte man in einer Tasche der Försterjacke noch ein anderes, leiseres Knacken hören können. So ein typisches Geräusch, als wenn etwas Wertvolles zu Bruch gehen würde.
„Verflixt und zugenäht, das darf doch nicht wahr sein!“, schimpft Forstmeister Sägebrecht und betrachtet missmutig seine Schnupftabakdose, die er gerade aus der Tasche seiner jetzt über und über mit dürren Fichtennadeln bespickten Jacke gezogen hat. Es ist die schöne Dose aus goldglänzendem Metall und mit dem Waldbild auf dem Deckel. Das zerknautschte Ding, das er jetzt in der Hand hält, hat allerdings kaum mehr Ähnlichkeit damit und das Schlimmste daran ist – aus einem großen Loch auf der Unterseite der einstmals schönen Dose rieselt ein schwarzbraunes Pulver.
„Mein guter, teurer Schnupftabak!“, ruft Forstmeister Sägebrecht entsetzt und presst seinen dicken Zeigefinger so fest auf das Loch, dass kein einziger Krümel es mehr schafft, zu entfliehen. Mit dem Zeigefinger auf dem Loch in der Dose rennt er dann, so schnell ihn seine alten Beine tragen, zu seinem Rucksack, den er ein Stück weiter weg an einem Buchenstamm abgelegt hat. Der gute Schnupftabak muss gerettet werden, koste es, was es wolle. Und unser Forstmeister hat auch schon eine Idee. Im Inneren des Rucksackes befindet sich neben verschiedenen Sachen, die ein Forstmeister eben so braucht, wie Jagdmesser, Feldflasche und Regenumhang, auch ein leckeres Vesperbrot, welches Frau Forstmeisterin Sägebrecht heute Morgen liebevoll mit Schinken und Käse belegt hat. Dabei erinnert er sich noch gut an ihre Worte.
„Waldemar, hör mir zu! Deine Vesperdose ist kaputt. Ich verpack dein Vesperbrot heute ausnahmsweise in eine Aluminiumfolie und besorge dir heute noch im Supermarkt eine neue Dose.“ So hat seine Waldtraud heute Früh doch gesprochen. Frau Sägebrecht denkt sehr umweltbewusst und will die wertvolle Alufolie wirklich nur für diesen Notfall als Vesperbrotverpackung benützen.
Diese Alufolie soll nun der Notbehälter für seinen Schnupftabak werden. Mit der freien Hand wickelt Forstmeister Sägebrecht umständlich die Folie von der Brotstulle und lässt Brot, Käse und Schinken fast achtlos in den Rucksack zurückgleiten. Bis zur Brotzeit geht es auch ohne Verpackung. Vorsichtig nimmt er jetzt den Finger von dem Loch und lässt sein geliebtes Pulver behutsam in die Alufolie rinnen.
„Eins, zwei, drei, da noch zwei Krümel und hier noch drei Körnchen und da hinten in der Ecke ist ja noch eine ganze Portion, aber jetzt – das dürfte alles gewesen sein“, murmelt er erleichtert, als das Pulver endlich sicher in der Folie aufbewahrt ist. Bevor er die Folie aber sorgfältig zusammenfaltet und in der Seitentasche seines Rucksackes verstaut, nimmt er erst noch einmal eine deftige Prise. Anschließend schnäuzt er sich kräftig in sein Taschentuch und noch während des Schnäuzens beschließt er, sich zu seinem Geburtstag eine neue Schnupftabakdose zu wünschen. Nach diesem Beschluss und mit dem guten Gefühl, dass sein Schnupftabak sicher verwahrt ist, wendet er sich wieder seiner Arbeit zu.
„So, Sägebrecht, jetzt wird es aber höchste Zeit weiterzumachen, sonst wird es Feierabend und die verflixte Fichte ist immer noch nicht zersägt“, brummt er in sich hinein und hat es auf einmal sehr eilig, zu seiner Motorsäge zurückzukehren, die er achtlos auf dem Waldboden zurückgelassen hat.
Gut versteckt im Blättergewirr der Buche hat Emil Elster das ganze Geschehen mit wachsendem Interesse verfolgt. Zuerst war es ja nur der Rucksack, der ihn hierhergelockt hat. Dieser grüne Rucksack, der direkt unter ihm am Stamm der Buche lehnt. Emil weiß, dass grüne Männer immer grüne Rucksäcke dabeihaben, und er weiß auch, dass in diesen Rucksäcken immer etwas Essbares steckt. Mehr als einmal ist es Emil gelungen, sich aus so einem Rucksack zu bedienen, und es waren bestimmt nicht die schlechtesten Mahlzeiten in seinem Elsternleben. Doch im Augenblick hat die Nahrungsaufnahme für Emil keinerlei Bedeutung. Schuld daran ist dieses wunderschöne, glänzende Ding, das aus der offenen Seitentasche des Rucksacks hervorlugt und verführerisch zu ihm hochfunkelt. Was für ein Schatz. Angesichts dieser Schönheit wäre jeder Gedanke an schnödes Essen geradezu vulgär. Nervös trippelt Emil von einem Krallenfuß auf den anderen. Wie gerne würde er sich das glänzende Schmuckstück jetzt sofort holen. Ganz behutsam würde er es aus der Tasche herausziehen und dann … Aber er weiß, es ist noch zu früh. Schweren Herzens muss er sich zurückhalten. Zumindest noch so lange, bis der grüne Mann wieder mit seinem Baum beschäftigt ist. Leise und beschwörend schäckert Emil in sich hinein, als könne er das Tun des grünen Mannes damit beeinflussen.
„Täk, täk, grüner Mann, auf was wartest du denn noch, geh doch zu deinem Baum und lass dem guten Emil den glänzenden Schatz, täk, täk.“
Eine kurze Weile passiert gar nichts, aber dann hallt plötzlich das Kreischen der Motorsäge durch den Wald und zeugt davon, dass der grüne Mann wieder die sinnlose Tätigkeit aufgenommen hat, einen Baum in kleine Stücke zu zerlegen. Emils Beschwörungen wären dazu aber sicher nicht notwendig gewesen, denn grüne Männer tun ja schließlich nie etwas anderes, als Bäume zu zerlegen.
Als Freund der schönen Künste verachtet Emil natürlich solche unsinnigen Beschäftigungen und wer so etwas macht, der kann einfach keinen Anspruch auf glänzende Kunstgegenstände haben. Sowieso wäre der Schatz in seiner Sammlung viel besser aufgehoben.
Seelisch und moralisch gestärkt durch diese Elsternlogik wirft Emil noch einen Blick in Richtung des grünen Mannes, aber der ist hinter den Bäumen verschwunden und nur der Lärm der Motorsäge verrät, dass er noch da ist.
So lange das knatternde Ding zu hören ist, kann von dem grünen Mann keine Gefahr drohen, so kombiniert Emil und macht sich daran, den ersehnten Schatz endlich in seinen Besitz zu bringen. Eilig breitet er die Schwingen aus und lässt sich wie ein Stein in die Tiefe fallen, vom betörenden Glanz des Schatzes magisch angezogen.
Die Landung auf der Rucksackspitze erfolgt weniger magisch und schon gar nicht elegant, denn der labbrige Stoff bietet kaum feste Standfläche. Nur mit viel Geflatter schafft es Emil, sich so auszubalancieren, dass er nicht sofort wieder herunterfällt. Schwer atmend thront er auf der Rucksackspitze und schielt verlangend nach der offenen Seitentasche, die das Objekt seiner Begierde enthält. Der Schatz ist zum Greifen nah. Emil verharrt noch einen kurzen Flügelschlag lang, um den Anblick aus dieser Nähe zu genießen. Wie er doch glitzert und leuchtet. Dann bückt er sich vorsichtig, öffnet den Schnabel und umfasst blitzschnell, aber doch mit viel Gefühl, den wunderbaren Schatz. Wie gut sich das doch anfühlt. Gerade will Emil den Schatz aus der Tasche ziehen und somit endgültig in seinen Besitz bringen, da verdunkelt sich der Himmel über ihm.
Ein heftiger Stoß in die Seite nimmt ihm den Atem und wirft ihn hochkant vom Rucksack herunter. Der Angriff kam so überraschend, dass er vergisst die Flügel zu benützen, um den Sturz abzumildern. Hart schlägt Emil auf dem Boden auf, kommt aber strampelnd und flatternd sofort wieder auf die Füße. Erst jetzt erkennt er den heimtückischen Angreifer, der, höhnisch krächzend, seinen Platz auf der Rucksackspitze eingenommen hat. Es ist ein großer, schwarzer Vogel, ein Schwarzbefrackter von der allerschlimmsten Sorte. Es ist Korax Krähe, geistig nicht der Hellste, aber ein übler Rabauke und Elsternhasser. Das Schlimmste aber ist, dass diese Dummkrähe seinen kostbaren Schatz im Schnabel hat. Sorgfältig legt Korax den Schatz vor sich auf den Rucksackstoff und hält ihn mit dem rechten Krallenfuß fest. Dann plustert er sich mächtig auf.
„Kraab, kraaab, Emil, mach mal den Flattermann, aber im Schnellflug! Ich habe Hunger und in solchem glänzenden Plunder steckt immer was zu essen. Also verschwinde, wenn dir deine albernen schwarzweißen Federn lieb sind, kraaab, kraaab!“
Schon beginnt Korax Krähe den silbernen Schatz mit dem Schnabel zu bearbeiten, um an die erhoffte Mahlzeit zu kommen. Emil kocht vor Wut über diese unfassbare Unkultiviertheit. Der rüpelhafte Schwarzbefrackte ist größer und stärker als er, aber das ist ihm in diesem Moment vollkommen egal. Mit wildem Geschäcker flattert er senkrecht in die Höhe.
Oben angekommen, legt er die Flügel an und stürzt sich mit vollem Schwung auf den verdutzten Schwarzbefrackten herab, der nicht mit Gegenwehr gerechnet hat. Emil hat Glück und sein zuschlagender Flügel trifft den stärkeren Widersacher so hart, dass dieser den Schatz loslässt und flügelschlagend um sein Gleichgewicht ringt. Wieder steigt Emil steil nach oben, will jetzt den wütend krächzenden Schwarzbefrackten endgültig von seinem Sockel stoßen. Doch der ist dieses Mal besser vorbereitet. Bevor Emil ihn erreichen kann, schnappt er sich den Schatz mit dem Schnabel und flattert vom Rucksack herunter, um den Gegner auf hartem Boden zu erwarten. Dort wird der ungeliebte Verwandte keine Chance gegen ihn haben. Unten angekommen, macht er sich bereit und faucht dem anfliegenden Emil drohend entgegen.