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Das Ehegericht kam zum Schluss, dass Hans Sebastian sein Verhalten trotz freundlicher Ermahnung nicht geändert habe. Sein «Hurenvolk» belästige weiterhin die Nachbarn. Deshalb müssten er, aber auch Küng, der zugegeben habe, wiederholt bei der Metze gewesen zu sein, sowie die Metze selbst bestraft werden – so wie sie es verdient hätten. Mit dieser Empfehlung übergab die Schlichtungsbehörde den Fall dem Rat der Stadt Zürich.
Mitte Dezember nahm Hans Sebastian Stellung zu den Vorwürfen:
Er habe nicht gewusst, welch übel beleumdete Leute in seinem Haus wohnten.
Er habe auch nicht gewusst, was dort vor sich ging.
Zudem werde es sich als falsch herausstellen, dass er mit einer Metze Unrechtes getan habe.
Auch wolle er den Mann mit eigenen Augen sehen, der behaupte, er habe die Metze auf seinem Pferd von Zurzach in sein Haus geführt. Er kenne diese Frau nicht.
Nach der ersten Ermahnung durch das Ehegericht habe er seine bisherigen Mieter aus seinem Haus vertrieben und einen ande ren Bewohner aufgenommen. Er habe jedoch nicht gewusst, dass dieser ebenso berüchtigt sei wie die vorherigen Mieter.
Er bitte ergebenst, ihn aus dem Gefängnis zu entlassen.
Und er gelobe, sein Haus künftig nur noch an Leute zu vermieten, die weder den gnädigen Herren noch den Nachbarn Anlass zur Klage gäben.
Bei der erneuten Befragung verliess die Zeugen ihr Gedächtnis, und sie konnten nur noch vage antworten. Insbesondere Zimmermann, der Ältere, und Zimmermann junior bekundeten Mühe, sich an Details zu erinnern. Mag sein, dass sie weder an Amnesie litten noch es ihnen an Kooperationswille mangelte, sondern sie ihre Rollen ausgespielt hatten. Gut möglich, dass sie gegen ihren unliebsamen Nachbarn weniger aus moralischen denn aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen klagten. Vielleicht störte Hans Sebastian ihre Geschäfte, vielleicht wurde er ihnen zu mächtig.
Da befand der Rat, dass Hans Sebastian – was den Ausritt mit der Metze betraf – unschuldig sei. Gleichzeitig auferlegte er ihm eine Busse und ermahnte ihn, fortan nur noch ehrbare Mieter aufzunehmen.
Ein Jahr später starb Hans Sebastian. Seiner Frau Katharina Schüchler und ihren beiden gemeinsamen Kindern Baschi und Ursula hinterliess er ein ansehnliches Vermögen.8 Die Tochter erbte auf den Heller genau 6,093 Pfund, 7 Schilling und 4 Heller, ein astronomisch hohes Vermögen aus der Sicht eines Gesellen. Auch aus der Perspektive eines Landvogts ein nicht zu verachtender Betrag; er entsprach achtzehn Jahreseinkommen eines Territorialverwalters.9 Der Sohn bekam 1,200 Pfund sowie zwei Häuser – worunter sich die Hölzin Kilch befunden haben dürfte.
Offenbar hatte Hans Sebastians Ruf wegen des Prozesses um das «Hausgesindel» keinen Schaden genommen, und das Erbe war nicht zu verachten. Beide Kinder verbanden sich später mit Abkömmlingen aus der angesehensten Familie Zürichs.10 Ursula heiratete den Fabrikanten Heinrich Werdmüller – bald darauf der reichste Mann der Stadt. Baschi vermählte sich mit Regula Werdmüller, einer Grosscousine von Heinrich. Während Regulas Grossvater als Säckelmeister und Ratsherr zu den bedeutenden Zeitgenossen zählte, war ihr Vater lediglich ein «bescheidener» Händler.11 – Wie sein Vater und sein Schwiegervater begann Baschi, als Kaufmann zu arbeiten.
Freie Ware
Nach der Hochzeit wohnte Baschi mit Regula bei seiner Schwiegermutter – damals nicht unüblich für junge Männer. Die Frau des «bescheidenen» Händlers brauchte Hilfe im Haus, das in der sogenannt Kleinen Stadt am Münsterhof stand. Sie suchte aber auch Unterstützung im Laden, den sie nach dem Tod ihres Mannes weiterhin von der Stadt mietete und der auf der Rathausbrücke beim Richthaus lag. Dort durfte Baschi Ware verkaufen, die sie nicht selbst im Angebot hatte.12
Er hielt unter anderem Pelze feil, die er in Lyon bezog. Wie die meisten Kaufleute aus Zürich, St. Gallen oder Bern und wie seine Verwandten, die Werdmüllers, kaufte Baschi seine Ware vor allem in der französischen Handelsmetropole ein. Die Stadt, bei der Saône und Rhône zusammenfliessen, lag günstig zwischen dem Mittelmeerhafen Marseille und Paris, mit Verbindungen nach Spanien und in dessen Kolonien, mit einem starken Bezug zu Italien und dem Levantehandel und mit engen Beziehungen zu Genf und der Eidgenossenschaft. Ihre besondere Stellung verdankte sie einem exquisiten Faden: Zu Tausenden webten Heimarbeiter die seidenen Stoffe, die am französischen Hof in Paris ebenso begehrt waren wie in Marseille, Zürich und anderen Städten. Baschi reiste regelmässig dorthin – trotz des gefährlichen Wegs: Einmal überfielen ihn Reisläufer und raubten ihn aus.
Er hatte jedoch nicht nur mit Wegelagerern zu kämpfen, sondern auch mit Leuten aus den eigenen Reihen. Wegen seiner Ware kam Baschi, Mitglied der klassischen Krämerzunft, der Zunft zur Saffran, ab und an in Konflikt mit Mitgliedern anderer Zünfte.13 Als Berufsorganisationen wahrten die Zünfte die Interessen ihrer Mitglieder und funktionierten häufig wie Kartelle. Baschi verkaufte Ware, auf die andere Zünfte ein Vorrecht hatten – zumindest sahen einige Zunftmitglieder das so.14 Im Herbst 1597 berichteten die Glasermeister dem Rat von Zürich von folgendem Ereignis: Das Klirren des Glases in seinem Handwagen kündigte die Ankunft des Fremden an. Schnell schickte Baschi einen seiner Knaben los, den «Welschen» abzufangen und zu seinem Haus zu führen. Die Zünfter warfen Baschi vor, die Ware nicht – wie für alle Kaufleute vorgeschrieben – zuerst ins sogenannte Kaufhaus gebracht zu haben, um sie dort zu wägen und zu verzollen. Der «Grempler» habe ihr Monopol missachtet, klagten sie.
Er habe den Glasern nicht schaden wollen, entgegnete Baschi dem Rat. Die Ware habe er in Lyon bestellt und sie auch schon bezahlt. Einen Teil der Glasware brauche er in seinem grossen Haushalt, den Rest wolle er hier und anderswo verkaufen, führte er weiter aus. Man könne ihm dieses Geschäft nicht verbieten, da das Glas «ein frye kauffmanschatz» sei, eine Ware, die Kaufleute ohne Einschränkungen handeln dürften. Und er betonte: Andere Händler täten es ihm gleich. Der Rat entschied, dass Baschi Glas kaufen und verkaufen dürfe – unter der Bedingung, dass er das Glas wie alle Händler über das Kaufhaus einführe.
Immer wieder musste der Rat Streitigkeiten zwischen Zünften schlichten. Auch wenn die Standesorganisationen das wirtschaftliche Leben ihrer Mitglieder zu regeln hatten, war es die Obrigkeit, welche die Leitlinien vorgab. Im Ernstfall entschied sie für oder gegen den Markt, pro oder kontra Regulierung. Im Fall des Streits um das Glas hatte sie sich für den Wettbewerb ausgesprochen.
Nur einige Monate zuvor hatte der Rat ganz anders entschieden. Im Frühling 1597 hatten die Kürschnermeister geklagt, dass Baschi und weitere Händler Felle und Pelze verkauften. Sie schadeten damit der Zunft zur Schneidern, betonten sie und beschrieben die Ware: In ihren Häusern und Läden würden die Kaufleute Wolfsfelle versilbern, ebenso «auf romanische Art» gefärbte Felle, auch Schlaf- und Unterröcke aus Pelz.15 Der Rat verteidigte das Monopol der Kürschner und gab den Klägern recht. Er verbot Baschi und den anderen den Verkauf von Fellen und Pelzen. Gegen den Kauf für den Eigengebrauch hatte er jedoch nichts einzuwenden.
So schlug sich Baschi mit der Obrigkeit und den Zünften herum und bemühte sich zusammen mit seiner Frau Regula, durch den Verkauf ihrer Ware die materielle Grundlage ihres Haushalts zu sichern. Mit einem Darlehen des Thalwiler Junkers Max Vogel wollte er sich mehr Spielraum verschaffen.16 1400 Sonnenkronen hatte er aufgenommen, was 27 Jahreslöhnen eines Zimmermeisters entsprach. Als Pfand setzte er das am Münsterhof gelegene Haus zum Bärenberg samt Nebengebäuden ein.
Doch er schaffte es nicht, den Wucherzins zu bezahlen, geschweige denn das Darlehen zurückzuerstatten. Als ihm 1602 das Wasser bis zum Hals stand, floh er aus der Stadt. Nach seiner Flucht drohte die Schliessung des Ladens.
Gewürze verstecken
Schwer wog der Zucker. Davon hatte Vater Baschi am meisten an Lager. Insgesamt 45 Kilogramm, die 20 Kilo Kandelzucker mitgerechnet. Er hatte sich offensichtlich gute Absatzchancen ausgemalt. Auch schwarzen Pfeffer hatte er massenhaft eingekauft. Ingwer gab es ebenfalls mehr als genug. Wo sollte er die Ware nur verstecken?
Nachdem sich Baschi aus dem Staub gemacht und seine Frau mitsamt den Kindern ihrem Schicksal überlassen hatte, zögerte sein zweitältester Sohn nicht lange: Sebastian begann, heimlich im Laden und im Lager Ware zu «flöchnen», Verkaufsgüter auf die Seite zu schaffen.17 Er fürchtete, dass die Obrigkeit den Laden dichtmachen und die Ware beschlagnahmen würde. Dem wollte der 18-Jährige zuvorkommen, indem er einen Teil des Bestands an sich nahm. Er hatte sich für die Gewürze entschieden, denn die waren wertvoll. Und für die Textilien, denn die waren leicht. Darüber hinaus suchte er ein paar Luxusartikel aus, die er ebenfalls unauffällig verschwinden lassen wollte.
Er musste sich beim Verpacken der exquisiten Ware beeilen. Die Muskatnüsse schlugen sanft gegeneinander und machten ein ploppendes Geräusch, als er sie in ein Tuch einschlug. Die Zimtstangen rollte er in ein Papier, und den Safran verstaute er in Dosen. Die Zitronen warf er in einen Korb, das Gummiarabikum in eine Schale. Dann nahm er einen Sack und stopfte die Mercerieware hinein: Bändel und Bordüren, Schnüre und Stoffe, Hüte und Hauben, noch mehr Bändel und noch mehr Bordüren. Zu guter Letzt packte er die sperrigen Güter ein: Papier, Hefte und Schreibzeug. Auch Messer und Löffel. Farbe und Rötel. Die Goldware und die Anhängsel stopfte er in ein Täschchen, das Kölnischwasser verstaute er im Beutel mit den Textilien.
So oder ähnlich muss sich Sebastians Aktion abgespielt haben. Dann setzte er sich hin und schrieb in akkurater Schrift in sein kleines Handbuch: «Folgett hab ich gefflöchnet uß dem Laden und kram kamer an waren.» Stück für Stück listete er die Ware auf, die er «aus dem Laden und der Warenkammer weggeschafft» hatte, insgesamt 72 Posten. Er begann das Inventar mit der Auflistung von sieben gelben französischen Gürteln und anderem Zierrat. Dann folgen Anhängsel aus Mailand. An dritter Stelle schrieb er «Goldtafeln», daneben einen saftigen Preis. Darauf folgte ein «Bindseckli», ein Säckchen. Er notierte viel Seidenes: Seidenbändel, Seidenwesten, Seidenhauben, seidene Hosenbändel, seidene Hemdenfäden, seidene Haarschnüre. Seide aus Mailand, Seide aus Verona, Seide aus Venedig. Nicht nur Seide, auch Samt. Dann eine ganze Reihe von Kappen, Hüten und Hauben, Hutböden und Hutschnüren. Hosenbänder, ganz und gerissen. Dazu Fäden und Schnüre in verschiedenen Formen und Farben. Die Bestandesliste zeugt von der Wichtigkeit der Textilien in jener Zeit, das Angebot entsprach einem wirtschaftlichen Trend.
Neben jeder Ware notierte er die Menge und den Wert. Da gab es manche Kostbarkeit: etwa die Pariser Strümpfe. Selbstverständlich auch den Schmuck (den Zierrat, die Anhängsel, die «Lyoner Glöckchen», die «schwarzen Steine») und das Gold (Lyoner Gold und Goldtafeln). Ebenso «1 Stück des feinsten Kölnisch Wasser» à acht Gulden. Er protokollierte und addierte. Zählte er die Beträge der Textilien und anderer Güter zusammen, kam er auf rund 450 Gulden. Sebastian schrieb die Wörter ohne Fehler, nur ein paarmal korrigierte er die fortlaufenden Zahlen. Er war sich seiner Sache sicher. Für uns bleibt einiges offen. Bezeichnete er mit «Margin» das Maroquinleder, ein feines Ziegenleder, das ursprünglich aus Nordafrika kam? Verstand er unter dem «rauen Faden aus kamben» einen Faden aus Kamelhaar? Und waren die «Chrallestei» rote Korallen?
Schliesslich widmete er sich dem «Gwürtz». Er notierte 11 Kilogramm Pfeffer, rund 45 Kilogramm Zucker und Kandelzucker, 6 Kilogramm Safran, knapp 4 Kilogramm Gummi, 5 Kilogramm Nelken, 7 Kilogramm Muskat, 8 Kilogramm Ingwer, 2 Kilogramm Zimt. Dazu Zitronen und Gewürzgebäck. Schliesslich Produkte, die auf den ersten Blick nichts in der Liste zu suchen haben. Etwa Gummiarabikum, aber auch Mastix, das Harz der Pistazienbäume, auch Grünspan oder Wurmsamen. Doch gemäss der damals gängigen Humorallehre, der Krankheitslehre der Körpersäfte, trennte keine klare Grenze die Kulinarik von der Arznei. Neben die einzelnen Posten schrieb Sebastian den Wert. Dann zählte er die Zahlen zusammen. Mit rund 300 Gulden machten die Gewürze fast die Hälfte des gesamten Warenwerts aus.
Gewürze waren kostbar, denn die meisten Würzmittel kamen von weit her. Deshalb avancierten sie ab dem Mittelalter zu einem Statussymbol und bald zu einem globalen Produkt schlechthin – auch wenn sich die Bedeutung von «global» je nach Standpunkt verschiebt.18 Aus europäischer Sicht begann der Prozess, den wir heute «Globalisierung» nennen, mit dem Pfeffer und dem Muskat, mit den Nelken und dem Zimt. Aus der Perspektive Europas waren es die Gewürze, welche die Epoche der Entdeckungen mit auslösten. Europa wollte sich einen direkten Zugang zur wertvollen Ware verschaffen, die seit dem späten Mittelalter Reichtum und Macht bedeutete, und den von den Arabern dominierten Handel von Asien nach Europa an sich reissen. Deshalb machten sich die portugiesischen, spanischen und italienischen Seefahrer auf den Weg nach Osten – und landeten manchmal im Westen.
Aus nichteuropäischer Sicht war die Welt bereits vor den europäischen Entdeckungsreisen und Eroberungszügen globalisiert.19 So kauften asiatische Händler Gewürze wie Nelken oder Muskat direkt bei den lokalen Produzenten, verschifften sie in Häfen in Südostasien, Indien oder China und verkauften sie an arabische Kaufleute. Diese brachten sie auf dem Landweg in den Mittleren Osten und zum Mittelmeer, von wo sie europäische Zwischenhändler zu regionalen Märkten brachten. Dort kauften sie schliesslich lokale Krämer wie Baschi.
Dieser wird sich mit dem exquisiten Gut vor allem in Lyon eingedeckt haben, ab und an sicher in Begleitung seines Sohnes.20 Sebastian kannte die französische Handelsmetropole gut, denn als Jugendlicher hatte er dort fast zwei Jahre verbracht, um Französisch zu lernen, die Handelssprache von damals.21 Und um das ABC des Kaufmanns zu büffeln, vor allem alles Wissenswerte rund um die Seide. Sebastian hatte dort etwas von der grossen Welt geschnuppert und seinen Horizont über die Grenzen seiner Heimatstadt und des Marktfleckens Zurzach hinaus erweitert. Eine Ahnung von der Welt konnte er auch in Zürich gewinnen.
Manches Produkt aus der Neuen Welt fand bereits früh seinen Weg in die Limmat-Stadt. So berichtete man etwa Kurioses vom grossen Conrad Gessner, der zwanzig Jahre vor Sebastians Geburt starb. Der Universalgelehrte soll bei sich zu Hause in der Frankengasse «Liebesäpfel», wie er die Tomaten nannte, gezüchtet und Meerschweinchen, die wuselnden Nagetiere aus Peru, gehalten haben.22
Als Sebastian die Gewürze auflistete, die er «geflöchnet» hatte, wird ihm manches durch den Kopf gegangen sein. Die drei Buchstaben «Pip» – für Piper Negrum, schwarzen Pfeffer – lösten sicher eine Reihe von Assoziationen aus.23 Teure Körner. Eines der beliebtesten Gewürze. Auch in Zürich sehr gefragt. Dauernde Kriege zwischen den Niederländern und den Engländern, die beide den Handel aus Asien kontrollieren wollten. Noch war nichts entschieden. Der Pfeffer konnte über die übliche Landroute nach Lissabon oder Venedig und von dort nach Zürich gelangt sein. Er konnte aber geradeso gut von den Niederländern nach Amsterdam verschifft und von dort in Baschis Laden verfrachtet worden sein.
Während Sebastian das Wort «Safran» notierte, sah er womöglich die flinken Hände vor sich, welche die Narben aus den Blüten brachen.24 Eine aufwendige Arbeit, die den hohen Preis für das rote Gold rechtfertigte. 150 Gulden notierte er für die sechs Kilogramm, damit machte das Pulver die Hälfte des Gesamtwerts der Gewürze aus. Gut möglich, dass Baschi den Safran aus Italien bezogen hatte; er wurde aber auch in Frankreich oder Nordspanien angebaut. Man handelte ihn vor allem auf dem Markt in Nürnberg, bekam ihn aber auch in Lyon, wahrscheinlich auch in Zurzach.
Ich stelle mir vor, dass Sebastian bei den Wörtern «Nelken», «Muskat» und «Zimt» den Honiggeschmack des Züritirggels auf der Zunge hatte.25 Fast möchte ich wetten, dass er in Gedanken mit der Zunge das flache Gebäck gegen den Gaumen drückte, bis der harte Fladen weich war, als er in seiner Liste die fünf Kilogramm «Nägelli», die sieben Kilogramm «Musgatnussen» und die zwei Kilogramm «Zimet» festhielt. Die Produktion und den Handel mit diesen Gewürzen aus Asien teilten sich damals noch viele Akteure: Araber, Asiaten, Europäer. Deshalb konnten sie über viele Wege nach Europa gelangt sein – und schliesslich von den Häfen in Venedig, Sevilla, Amsterdam oder Lissabon nach Zürich.
Beim Begriff «Gumi» für Gummiarabikum wird er die verschiedenen Kunden vor Augen gehabt haben, welche die eigentümlichen Stücke kauften.26 Er sah die Textilproduzenten die glänzenden, fahlen und geruchlosen Klümpchen erstehen, um der Seide Glanz zu verleihen und sie zu glätten. Die Arzneikundigen, um Schmerzen zu stillen und Entzündungen zu heilen. Und dann die Handwerker, um Farben zu verdicken oder Leder zu polieren. Sie alle brauchten das Harz der Akazienbäume, die in der nördlichen und südwestlichen Sahara wuchsen, für ihre unterschiedlichen Zwecke.
Es gab zwar Reiseberichte über die Sahara – etwa von Herodot, den Griechen oder den Römern –, doch die wenigsten kannten sie. Ich behaupte, dass Sebastian nicht wusste, dass das Gummiarabikum damals vor allem von der Westküste Afrikas kam, dem heutigen Mauretanien. Dort ernteten es die Zawayas beziehungsweise deren Sklaven und verkauften es an europäische Händler. Diese erzielten mit dem Verkauf des Produkts in Europa ein Vielfaches des Einkaufspreises. Die Firma Werdmüller bezog das Gummi unter anderem aus Venedig, möglicherweise auch Baschi.27
Gummiarabikum aus Afrika. Ingwer aus der Karibik. Zucker vermutlich aus Brasilien. Nelken, Muskat und Zimt aus Asien. Seide aus Italien. Kölnischwasser aus Deutschland. Strümpfe aus Frankreich. Baschis Handelsbeziehungen gingen in alle Windrichtungen und reichten in fast alle Kontinente. In seinem Laden in der «minderen» Stadt von Zürich war fast der ganze Globus vertreten – einhundert Jahre nach der sogenannten Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus und der Pionierfahrt Vasco da Gamas nach Indien. Noch war die globale Welt, die sich um 1600 in Baschis Handlung auf wenigen Quadratmetern zeigte, nicht von Europa dominiert. Noch mischten verschiedene Produzenten und Handelsmächte im lukrativen Geschäft mit den Gewürzen mit.
Mit seiner «Flöchnerei» hatte Sebastian die Welt aus Baschis Geschäft gerettet. Was er vor der Obrigkeit jedoch nicht verstecken konnte, waren die Immobilien. Das Haus am Münsterhof samt Nebengebäuden kam unter den Hammer. Um Baschis Schulden zu begleichen, liess die Behörde zudem den Laden schliessen und den Restbestand veräussern.28 Sebastian hatte dennoch ein gutes Geschäft gemacht. Die Ware, die er zur Seite geschafft hatte, machte zusammen mit dem Erbe seines Grossvaters und anderen kleinen Beiträgen einen Gesamtwert von 2200 Gulden aus.29 Um diese Summe zu erwirtschaften, hätte ein Zimmermeister zwanzig Jahre arbeiten müssen.30 Für Sebastian bildete das Vermögen den willkommenen Grundstock für einen Laden, den er 1602 zusammen mit seiner Mutter eröffnete, und für die Unterstützung seiner vielen Geschwister.
Ostende
Langsam scrolle ich durch die Fotos, verschiebe auf dem Bildschirm die Fundstücke aus dem Familienarchiv. Da und dort bleibe ich an einem Wort hängen, hangele mich von Buchstaben zu Buchstaben. Einmal mehr versuche ich, im Handbuch zu entziffern, «was sich mit Hans Baschi Kitt zuo tragen hatt in 1602».31
Hoch verschuldet war Baschi nach Mähren geflohen, wo er Zuflucht bei einer der unzähligen Täufer-Gemeinschaften gefunden hatte, reime ich mir zusammen. Nach ein paar Wochen zog er nach Wien, wo ihn sein zweitältester Sohn Sebastian bei einer Frau aus St. Gallen fand. Gemeinsam kehrten Vater und Sohn nach Zürich zurück. Da Baschi nicht in der Stadt bleiben durfte, machte er sich erneut auf. Diesmal setzte er sich mit seinem ältesten Sohn Hans Jacob in die Niederlande ab. So weit kann ich dem Verfasser des Berichts und seiner Beschreibung von Baschis Fluchtroute folgen. Dann macht er eine Bemerkung zum Geld, das die beiden aus der Haushaltskasse mitlaufen liessen, und nimmt den Faden wieder auf: Vater und Sohn gingen im September 1602 nach Ostindien. Ostindien? Ich zoome das Wort heran. Tatsächlich. So steht es schwarz auf weiss. Ich bin elektrisiert. Baschi und Hans Jacob hielten sich also in einer der europäischen Kolonien auf. Da sie zuerst in die Niederlande fuhren, standen sie wahrscheinlich im Sold der Niederländischen Ostindien-Kompanie (VOC).
Endlich ein weiterer Hinweis, dass die Kitts selbstverständlich in die globale Geschichte eingebunden waren: Baschi bezog von den Niederländern nicht nur Gewürze, er stellte sich auch in ihren kolonialen Dienst. Fiebrig suche ich nach mehr Hinweisen und erfahre beim Überfliegen des Berichts, Baschi habe sein Geld verloren und eineinhalb Jahre unter Graf Moritz gedient, bis er 1604 auf einem Schiff gestorben sei. Ich lese nochmals die Geschichte von den Schulden und dem geschlossenen Laden und stosse schliesslich auf eine Liste mit Namen und Daten. Darin zählt der Berichterstatter die Kinder auf, die Baschi mit seiner Frau Regula gezeugt hatte. Als Ersten erwähnt er Baschis ältesten Sohn: «Hans Jacob starb 1603 in Ostindien erschossen, ward 21 Jahr alt.»32 Nun sind alle Zweifel ausgeräumt: Hans Jacob diente als Söldner, obwohl Zwingli das verboten hatte. Und er war im Einsatz in einer niederländischen Kolonie. Kurz nach der Gründung der VOC muss er einer der ersten Schweizer gewesen sein, die für die Niederländer und ihren Gewürzhandel starben.
Atemlos beginne ich, andere Dokumente zu durchforsten. Als Erstes nehme ich mir das «Memoriebüchlein» vor, die von verschiedenen Familienmitgliedern geführte Chronik der Kitts. Sebastian erzählt darin nochmals, aber in anderen Worten als im Handbuch, wie man den Laden dichtgemacht hat, berichtet von der Flucht des Vaters nach Mähren und von der Heimkehr aus Wien. Dann fährt er fort, im September 1602 sei der Vater «mit dem eltisten son nach dem Underland in Ostende zogen».33 Ostende? Ich vergrössere die Schrift. Kein Zweifel. Hier steht, dass die beiden ins Unterland, die Niederlande, gereist seien, genauer nach Ostende, in die flämische Stadt am Meer. Sollte meine Hoffnung auf eine koloniale Verwicklung mit einer anderen Endung, mit dem Wortteil -ende so schnöde zerstört werden? Es bleibt noch eine Möglichkeit, dies zu überprüfen. Als ich die Familiengeschichte konsultiere, die David Kitt im 18. Jahrhundert geschrieben hat, dämmert mir, dass ich Abschied nehmen muss von der Vorstellung, die beiden Kitts seien in Ostindien gewesen. Ich lese, Baschi habe im April 1604 einen Brief aus Gorcum geschrieben und im September desselben Jahres aus Sluis.34 Beide Städte liegen im Süden der Niederlande.
Ich schlucke die Enttäuschung herunter und recherchiere zum Grafen Moritz, in dessen Dienst sich Baschi offenbar befand. Es muss sich um Moritz von Oranien handeln, der bei der Belagerung von Ostende eine wichtige Rolle spielte. Um die Jahrhundertwende lag das von den calvinistischen Niederländern dominierte Ostende als Exklave im von den katholischen Spaniern beherrschten Flandern. 1601 wollten die Spanier und ihre Verbündeten die Stadt zurückerobern und begannen, sie zu belagern. Während der dreijährigen Kämpfe kamen unzählige Soldaten ums Leben, auch Hans Jacob starb auf dem Schlachtfeld. Man habe ihm sein linkes Bein und seine linke Hand weggeschossen, entziffere ich, und zwei Stunden später war er «ein lich».35 Als sich die Versorgungslage in Ostende zuspitzte, ging Moritz von Oranien – und mit ihm Baschi – nach Sluis, um die Spanier zu einer Feldschlacht zu bewegen und zur Beendigung der Belagerung. Der Schachzug misslang, und Baschi fand den Tod. Er sei auf einem Schiff «elendiglich gestorben», heisst es.36
Verbandeln
Es war die Crème de la Crème der Zürcher Gesellschaft, die sich am 26. Juli 1613 im Grossmünster versammelte. Männer und Frauen aus den sogenannten guten Familien hatten dem – seit Jahrzehnten im Hochsommer üblichen – Winterwetter getrotzt und waren zu Sebastians Hochzeit gekommen: die Werdmüllers, die Holzhalbs oder die Grebels.37 Sebastian hatte nach dem Tod seines Vaters und seines Bruders den Laden mit seiner Mutter offenbar so gut geführt und so gut gewirtschaftet, dass er für die noble Familie Grebel als Schwiegersohn infrage kam. Seine Braut Margarethe stammte aus dieser Junkerfamilie. Ihr Vater war der Stiftskämmerer Georg Grebel, ihre Mutter eine Holzhalb und Tochter des Landvogts Heinrich Holzhalb.