Supermilch

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In einem Start-up-Büro verliert ein Werbetexter den Verstand. Unter der Stadt verstopfen Fettberge die Kanalisation, während sich in einer Sozialbausiedlung ein unerwünschter Mitbewohner in eine Kröte verwandelt. Der berühmteste Elvis-Imitator des World Wide Webs nimmt sein letztes YouTube-Video auf und jeden Monat gehen elternlose Jugendliche mit Fahrrädern und Kanthölzern auf Menschenjagd. Ein smartes Unternehmen verspricht den Dialog mit den Toten. Und immer wieder taucht eine bedrohliche, stetig wachsende Untergrundbewegung auf, die die Sozialen Medien mit einer einzigen Frage flutet: »Do you like scary movies?«
Die Geschichten in »Supermilch« erzählen von einer unruhigen, nervösen Zeit: von der Transformation der Arbeitswelt, von digitalem Alltag und der Zerstörung der Natur. Die Menschen sind überfordert von ihrer Lohnarbeit, die doch angeblich mehr sein soll als nur Arbeit. Sie sind ermüdet von der beständigen Suche nach der besten Version ihrer selbst und können doch nicht davon lassen. Sie haben Angst, aber können nicht sagen wovor. Einen normalen Tag herumzubringen, scheint in dieser Welt das Einfachste und Schwerste zugleich zu sein. Also stürzen sich ihre Bewohner in Privatobsessionen, suchen ihr Glück im Ausstieg, steigern sich in obskure Internet-Phänomene hinein oder wählen sinnlose Gewalt als letztes Mittel. »Supermilch« wirft einen Blick in die Zukunft – und die ist bedrohlich, flimmernd und weird.
Philipp Böhm wurde 1988 in Ludwigshafen geboren. Sein Debütroman »Schellenmann« erschien 2019 im Verbrecher Verlag. Er ist Mitglied der Redaktion des Literatur- und Kulturmagazins metamorphosen, schreibt für die Wochenzeitung Jungle World und arbeitet für das Kreuzberger Literaturhaus Lettrétage. Er lebt und arbeitet in Berlin.
Philipp Böhm
Erzählungen

»Supermilch« ist der 3. Band
der Reihe »kurze form«.
1. Auflage 2022
© Verbrecher Verlag Berlin 2022
www.verbrecherei.de
Druck und Bindung: CPI Clausen & Bosse, Leck
Lektorat: Alyssa Fenner
Satz: Christian Walter
ISBN 978-3-95732-514-3
eISBN 978-3-95732-527-3
Printed in Germany
Der Verlag dankt Anna Heller
und Johanna Seyfried.
INHALT
GERMAN CONTENT SUPERSTAR
DIE BERGE UNTER DER STADT
UNSER FLECKEN
DAS MACDOUGALL-PROJEKT
DER SCHLÜSSEL ZUM KELLER
SO KLAGTE DER KING
STERBEN MIT DEN PHILISTERN
PLAYHOUSE
BEI PAC-MAN GEWINNEN
More than iron, more than lead, more than gold I need electricity.
I need it more than I need lamb or pork or lettuce or cucumber.
I need it for my dreams.
Racter: »The Policeman’s Beard is Half Constructed«
GERMAN CONTENT SUPERSTAR
Niemand von uns fragt, wie es kam, dass wir so wurden. Wir sind einfach so. Gerade sah ich noch zwei Radfahrer mit Gasmasken die Allee hinunterfahren, dann beginnt schon der Tag. Der Tag ist immer sehr hell und immer sehr lang. Der Tag ist alles, was ist. Abends, lange bevor ich meine Augen schließe, weiß ich, dass der Tag näher rückt, denke ich an Targets, an das erste Meeting, an meinen ersten Satz in meinem ersten Meeting, in dem ich anfangen werde zu erzählen, wie ich alles vorangebracht habe. Abends, vor dem Beginn des Tages, denke ich an das Ende des Tages, der kommt. Und er kommt. Und er beginnt: Ich nehme den Lastenaufzug hinauf ins Loft, ich schlage in Hände ein, während ich von Zigaretten und Räumen voll Polstermöbel träume, wo sich vornehme Menschen einen guten Morgen wünschen, und mir wenigstens einen kurzen Moment ohne Target wünsche. Doch das Wünschen hilft nicht.
Ich fahre aufs Meer: Marketing Island, Sales Peninsula, Tischgruppen, MacBooks, Stehlampen, eine Polstergarnitur auf neuen Paletten, die wie alte aussehen. Und dort sitzt mein Department, das Department der Inhalte, das Department des Quality Content. Jedes Department hat einen Head. Mein Head heißt Susanna, und manchmal fragt sie mich, ob ich something socialist in der Pressemitteilung schreiben könnte, um die Dinge etwas verrückter zu machen. Wenn Susanna ein kleines bisschen drauf ist, erzählt sie, dass sie alles, wirklich alles mitnehmen möchte auf diesem Weg, der ihr Leben ist. Irgendwann werde sie das Fliegen aufgeben, wegen des Kerosins, das alles vernichtet, was schön ist, aber erst in drei, vier, fünf Jahren. Bis dahin will sie noch alles mitnehmen. Die Welt sei so ein wundervoller Ort, voll von Magie und Chancen. Vor allem die Chancen interessieren sie. Wenn Susanna ein kleines bisschen drauf ist, erzählt sie das. Wenn sie etwas zu sehr drauf ist, geht sie nach Hause oder in einen Club. Ich komme nie mit.
Es ist der Monat, in dem eine Gruppe indischer Languren den Roboteraffen betrauert, der in ihrer Mitte ausgesetzt worden war und an einem Kurzschluss zugrunde ging.
An der Wand in unserem Loft hängt ein Bildschirm, auf dem wir alle das Monthly Target sehen können, das wir nur zu 70 Prozent erreicht haben, heute wandern alle murmelnd durch unsere Halle und werfen die Hände in die Luft, weil die Blended CPA steigt und nicht mehr fallen will. Niemand weiß warum, am allerwenigsten ich selbst, doch mein Head ruft mich trotzdem zu einem spontanen Meeting mit dem gesamten Marketingteam und fragt mich nach meinen Ideen. Jeder gibt sich Mühe, besonders geschäftig zu wirken. Alles ist möglich. Alles ist lösbar.
Ich spüre die Verzweiflung und sie interessiert mich sehr.
Später kann ich nicht sagen, ob irgendjemand aus diesem Meeting wirklich an eine der Ideen geglaubt hat. Vielleicht wissen alle längst, dass diese Yacht untergehen wird, obwohl sie über drei Queen-Size-Betten und ein elegantes Mahagoni-Furnier im Salon unter Deck verfügt, eine Traum-Yacht für einen unvergesslichen Urlaub auf dem kristallklaren Wasser der Adria.
Es ist der Monat, in dem ein Red Sprite, ein Blitz, der aus der Wolkendecke 80 km über Kansas ausschlug, die Form einer riesigen Qualle annahm und eine kleine, überschaubare Panik in den Twitterblasen der Apokalyptiker und Prepper nach sich zog.
Jemand klatscht in die Hände und schaut mich aus großen, staunenden Augen an – Augen, die meinen Personal Key Performance Indicator wieder und wieder betrachtet haben. Dieser Mensch heißt Will, und er hat so viele Ideen, und seine Augen sind wie der blasse Himmel über dem ewigen Meer. Dieser Mensch sagt: »Let’s make this happen.« Und wir machen, dass es geschieht, wir schwärmen aus, wir arbeiten hart, wir feiern hart, ich schreibe das Listicle über die zehn schönsten Strände Kubas, die ich noch nie gesehen habe und nie sehen werde. Ich war seit Jahren nicht mehr verreist. Aber ich kenne die Details, ich habe die Bilder gesehen und kann sogar Restaurantempfehlungen in Strandnähe abgeben. Ich optimiere die Köpfe aller unserer Seiten, weil Google Tabellen liebt, ich schaffe es, im SERP-Snippet noch ein Keyword unterzubringen, ich weiß genau, wie ich auf einer Breite von tausend Pixeln kommunizieren muss, weiß, wie ich alles mit einem Call-to-Action verbinden kann und esse sehr wenig. Meine Nahrung heißt Leidenschaft. Jemand klopft mir auf die Schulter und sagt: »Toll, dass du an Bord bist.« Und ich sage: »Es ist toll, an Bord zu sein.«
Ich bleibe an Bord. Ich steigere den Organic Traffic um zehn Prozent. Die Conversion Rate steigt. Die Blended CPA sinkt. Wir lassen unsere Schultern sinken und schauen von den Schirmen auf. Die Sonne ist dabei, uns zu verlassen. Nichts würde ich lieber tun, als dicken Rauch aus meinen Nüstern steigen zu lassen, doch morgen beginnt schon wieder der Tag. Ausgeschlafene und trainierte junge Männer jubeln mir auf dem Weekly Team Meeting zu. Mein Herz ist ein stabiles, haltbares Kondom, das immer weiter aufgeblasen wird. Sie klatschen und jubeln. Es ist wie eine verschollene Szene aus einem tröstlichen und sehr alten Video, gedreht zu den Hochzeiten des Musikfernsehens. Es ist wie ein großes Friedenslied in Taizé. Es ist wie Heimat. Es ist wie der Ort, den du nie gesehen und nie vermisst hast, aber nie verlassen willst, den du mehr als alles andere brauchst. Aber dann fahre ich nach Hause, betrachte meine guten Füße, lösche das Licht nicht und könnte noch immer niemandem erklären, was Scham eigentlich bedeutet.
Ich tue das, was mein Head sich wünscht. Ich nehme alles mit. Ich halte die Geschichte meiner Company tief in meinem nervösen Herzen und kann nicht schlafen. Ich kann schon lange nicht mehr schlafen. Ich verfluche meinen schmerzenden Herzschlag.
Gerade noch sah ich zwei geschorene Jungs, die sich auf einem umzäunten Spielplatz mit ihren weißen Ladekabeln peitschten, dann beginnt schon der Tag. Will hat neue Ideen und ich höre zu. Ich höre immer zu. Ich bin für alles offen und zu allem bereit. Dann kehre ich auf meine Insel zurück und berichte unserem Head davon und sie lacht und sagt: »Wir werden Will sowieso feuern, aber das ist auch besser für ihn. Er hat sich nie so wirklich wohl in der Stadt gefühlt.«
Niemand erzählt Will davon. Er arbeitet weiter, kommt irgendwann in den frühen Morgenstunden und geht als Letzter. Will glaubt an die Zukunft. Er versucht, mir jeden Tag etwas Schönes und Aufmunterndes zu sagen, und ich weiß nie, ob er lügt oder ob er überhaupt fähig ist zu lügen.
In der Mitte unseres Büros, direkt neben dem Marketing Island, hängt ein Gong. Wann immer jemand einen Sale abschließt, geht die Person dorthin und schlägt den Gong. Dann klatschen wir alle. Rituale halten unsere hellen, ewigen Tage zusammen. Wir zwingen uns nicht. Wir wissen einfach, was dazugehört.
Gerade noch sah ich eine Gruppe Kinder ein Pfeifenkonzert für die letzten Veteranen des Großen Kriegs vor der Bushaltestelle pfeifen, dann beginnt schon der Tag. Wir feiern noch härter, als wir arbeiten. Wir feiern den Abschluss der letzten Investorenrunde. Wir tanzen pflichtschuldig auf den Tischen unseres Lofts, weil unser CFO einem jeden von uns sagte, dass er uns auf den Tischen sehen will. Diese Party sind wir schuldig. Wir machen, dass es geschieht.
Einst war ich eine Maus und glücklich. Jetzt bin ich ein Ficker, ein Go-Getter, ein German Content Superstar und niemand fragt, wie es kam, dass ich so wurde. Unser Designer mit dem Knast-Tattoo im Gesicht bietet der Venture Capital-Frau den Joint an und sie kichert und sagt, wie verrückt wir doch seien, und wir antworten: »Ja, wir sind schon ganz schön verrückt.« Aber Will mit den staunenden Augen trinkt zu viel, weil er mittlerweile weiß, was alle wissen, dass er nächste Woche gefeuert wird, wegen der Blended CPA und noch ein paar anderer Sachen. Er stolpert und fällt hart auf die Sales Peninsula und ich bringe ihn hinaus, wegen des Teams und der Party und noch ein paar anderer Sachen. Draußen legt er mir seine Hand auf die Schulter, um sich festzuhalten und weil er mir sagen will, dass es toll ist, mich an Bord zu haben. Nächste Woche wird er eine Mail an das ganze Team schreiben, dass er nach neuen Herausforderungen sucht und dass er an uns alle glaubt und wir es schaffen werden. Ich bringe ihn nach Hause, aber kurz vor der Umsteigestation sehe ich, dass er kotzen muss, und schaffe es gerade noch, ihn aus der Bahn zu bringen. Er spuckt alles in einem großen Schwall in den nächsten Mülleimer und sagt zwischen den einzelnen Würgern, ich solle seiner Mutter nichts davon erzählen, und ich verspreche es ihm.
Wir sind allein an der Haltestelle, weil alle anderen auf Partys sind und von Projekten erzählen. Wir sind allein, bis auf einen Flaschensammler und er steuert direkt auf unseren Mülleimer zu. Wir sagen: »Nein, bitte tu das nicht. Tu das auf keinen Fall. Lass es sein. Lass es sein.«
Aber er hört nicht auf uns, er ignoriert unser Flehen, er greift hinein und zieht eine von Kotze triefende Bierflasche heraus. Der Hals ist abgebrochen und er schüttelt den Kopf und sagt: »Alles kaputt. Alles kaputt.«
Ich bringe Will mit den staunenden Augen nach Hause. Ich achte darauf, dass er auf der Treppe nicht stolpert, öffne die Tür für ihn und decke ihn zu. Sein Gesicht ist glatt und ruhig. Er wird sehr lange schlafen.
Es ist der Monat, in dem ein Unternehmen, das Scheinselbstständige beschäftigt, die Vermietern dabei helfen sollen, Menschen aus ihren Wohnungen zu räumen, mit seinem Elevator-Pitch spontan berühmt wird.
Es ist der Monat, in dem Kugelfischtätowierungen zum nächsten Tattoo-Trend erklärt werden.
Es ist der Monat, in dem ein YouTube-Tarot-Kanal eingerichtet wird, mit dem Ziel, depressiven Teenagern eine sinnstiftende Beschäftigung nahezulegen.
Es ist dieser Monat.
Zu Hause spüre ich deutlich, wie mein Herz an- und abschwillt. Schließe ich die Augen, sehe ich eine Fläche von mir bis zum Horizont, ohne Krümmung, ohne Hügel, ohne Gefälle. Sie reicht endlos weiter. Tag auf Tag auf Tag, eine einzige Masse. Nur schlafen kann ich nicht. Im Badezimmer stelle ich mich vor den Spiegel und lege meine Stirn in Falten. Ich schaue mich an und sage: »Sag ihnen, ich hätte Nein gesagt.«
Immer wieder: »Sag ihnen, ich hätte Nein gesagt.«
Den Satz probe ich zwanzigmal, aber auch nach dem zwanzigsten Mal weiß ich nicht, wie das geht, dass wir unser Geld verdienen, und wie das kommt, dass wir so sind, und warum das so ist, dass ich jetzt hier bin und allen immer wieder sage, dass ich den Job nur mache, damit ich ein Buch schreiben kann.
Es ist der Monat, in dem die Londoner Kämpfe um Cannabis-Gewächshäuser starten.
Es ist der Monat, in dem die Löschteams der drei größten Pornoseiten – xvideos.com, pornhub.com und xnxx.com – zum ersten Mal ihre Arbeit niederlegen und streiken.
Es ist dieser Monat und am Ende dieses Monats werde ich endlich um eine Gehaltserhöhung bitten.
Manchmal kommen mir fremde Gedanken. Ich denke: Ich bin besser als mein Job und ich bin schwächer als mein Job. Mein Rücken bleibt gesund. Ich gebe acht. Ich krümme ihn nie zu weit, ich halte Maß, ich sitze auf einem guten Bürostuhl. Aber ich wünschte, ich würde ihn viel zu weit beugen. Ich wünsche mir einen schlechten Bürostuhl. Ich wünsche mir einen Bandscheibenvorfall und eine gute Arbeitsunfähigkeitsversicherung.
Aber das führt zu nichts. Ich gebe mir Mühe an etwas anderes zu denken.
Also raffe ich mich auf, füge mich zusammen, trimme meinen Bart so, dass ich immer noch ein bisschen rau aussehe, setze mich an meinen Computer, schließe die offenen Word-Dokumente, auf die ich eigentlich starren wollte und schreibe stattdessen eine Mail an Jeff, weil ich weiß, dass er jede Mail liest oder es zumindest behauptet und weil ich nicht weiß, an wen ich sonst schreiben sollte. Also schreibe ich:
Lieber Jeff,
ich habe drei verschiedene Desktophintergrundbilder und ich frage mich seit Tagen, welches ich im Büro verwenden soll: Es sind ein Wasserfall in einem tiefen Wald, der mich aus irgendeinem Grund an den Schwarzwald erinnert, aber es könnte natürlich auch jeder andere Wald sein; abblätternde Fassaden in Tiflis, die ich selbst fotografiert habe auf einer tollen Reise, die mich auch als Mensch weitergebracht hat; und ein altes Bakelit-Telefon, das ich auf dem Flohmarkt gekauft habe, um es zu Hause zu fotografieren. Ich habe wirklich keine Ahnung, welches ich nehmen soll, deshalb habe ich immer noch den Wolkenhimmel. Wenn ich nachts schlafe, zerkratze ich mir die Stirn. Ich wache davon nicht auf, aber ich kann die Spuren am nächsten Morgen im Spiegel sehen. Sie sind rot und verlaufen parallel zueinander. Mein Smartphone hat einen Sprung, aber jeden Morgen in der U-Bahn spielt es mir trotzdem meinen ganz individuellen Mix der Woche ab. Ich höre »IPhone Flashes Lead the Way to the Underground Clubs« von Croatian Amor und Rose Alliance vom Album »Genitalia Garden« und denke mir, dass die Musik etwas mit mir macht. Alles macht etwas mit mir: die Musik, die Clubs, die ich nie betrete, aber betreten könnte, der Weg zur Arbeit, der letzte Moment, der noch ein kleines bisschen mir gehört, und meine ganz persönliche Dokumentation der innerstädtischen Veränderungen im sehr späten Kapitalismus, die ich auf meinem Instagram-Kanal sammle. Die Werbeanzeigen, die kleinen Videoschnipsel an den Haltestellen, der Takt der Push-Nachrichten, der Trost in meinen Timelines. Ich finde diesen Trost, und allgemein komme ich erst so richtig in Stimmung. Jeff, da wird noch viel mehr passieren. Ich werde Fortbildungen buchen und im Zug meinen Laptop aufschlagen, um eine Präsentation über Storytelling zu erstellen. Ich werde eine Story entwerfen, die das ganze Konzept unseres Unternehmens, seine Philosophie und seine revolutionäre Technologie beinhaltet, mit der wir den ganzen Holiday-Sektor erschüttern werden. Ich werde niemals wieder eine Maus sein. Mit meinen Kolleginnen werde ich auf Barcelonas Flughafen den Harlem Shake tanzen und jemand wird alles aufnehmen und das Video anschließend online stellen. Ich bin bereit dafür. Ich war immer bereit. I WAS BORN READY, YOU PRICK. Ich war schon immer da, du hast ja keine Ahnung. Ich war schon lange vor dem Hype da, und wenn diese Stadt niederbrennt, werde ich da sein, um sie wieder aufzubauen. Und ich werde gemeinsam mit meinen Chefs saufen und gemeinsam werden wir abstürzen. Bald habe ich eine normale Größe erreicht. Ich war so lange so klein. Jetzt werde ich größer und kooperativer. Meinem Head drehe ich unten auf dem Parkplatz eine Zigarette und erzähle ihr von dem Kapitallektürekurs, den ich einmal besuchte. Ich diskutiere mit ihr über sämtliche Thesen der Gesellschaft des Spektakels. Wie gut alles funktioniert. Manchmal läuft es so gut, dass es mir Angst macht. Dann schaue ich mir zusammen mit meinen Mitarbeitern die YouTube-Zusammenschnitte über die Jugendlichen an, die gerade vor Gericht erfahren, dass sie lebenslänglich bekommen, wo die Jungs vor Verzweiflung weinen und sich vollkotzen und alles. Dann geht es mir wieder besser. Ich glaube nicht, dass die anderen manchmal Angst haben. Sie feiern wirklich hart. Jeff, du kannst dir nicht vorstellen, wie hart sie feiern und ich gebe mir Mühe, genauso hart zu feiern. Nicht für dich oder mich, nicht für uns, nicht einmal für die Company. Wir sind es einfach schuldig.
DIE BERGE UNTER DER STADT
»Moby Fett!«, sagte Rocko und deutete auf den Berg. Er hatte seine Handschuhe abgestreift, sodass die Tätowierung des bösen Hasen aus Watership Down auf seinem Handrücken gut zu sehen war.
Achill nickte: »Er ist wirklich sehr groß.«
»Kapierst du nicht? Moby Fett so wie Moby Dick. Weil er weiß ist.« Rocko lachte meckernd. »Wie das riecht, wie das riecht. Fick mich hart. Verstehst du wirklich nicht?«
Achill nickte noch einmal. Er verstand den Witz nicht. Der Witz interessierte ihn nicht. Ihn interessierte der Berg. Für diesen Berg war er hinabgestiegen zu den dunklen Flüssen unter der Stadt. Für diesen Berg war er hier, für diese stinkende, geronnene Masse. Dieser Berg war seine Aufgabe.
Achill räusperte sich: »Wir müssen nach der weichen Stelle suchen.«
So fing es meistens an: mit der Suche nach einer weichen Stelle, an der das Fett noch nicht vollständig hart geworden war. Erst kamen die Hochdruckreiniger, dann die Pickel. Wenn es Zeit für die Pickel wurde, fing die wahre Plackerei an.
Achill ging langsam um den Berg herum. Es war nicht sein erster. Sie hatten in den letzten Jahren zugenommen, immer häufiger wurde er per Nachricht hinab in die Kanalisation geschickt, wenn eines dieser Objekte den Fluss des Abwassersystems unterbrach. Achill hatte gedacht, er würde sich an ihren Anblick mit der Zeit gewöhnen, doch er musste jedes Mal innehalten.
Rocko hatte ihm am Morgen eine aufgeregte Textnachricht geschickt und von einem richtigen »Big Boy« geschrieben, einem »Big Bad Boy«, einem richtigen Koloss. Er hatte nicht gelogen. Achill schätzte ihn auf vielleicht sechzig Kubikmeter, wie er da vor ihm lag, die Zuflüsse verstopfte und im Licht der Scheinwerfer glitzerte. Eine feste, glänzende Masse, voller Kerben und Beulen, harten Kanten und glatten Flächen, schmierig schimmernd hier und matt geronnen dort, ein Massiv, das den ganzen Schacht ausfüllte. Ein ganzer Berg aus Fett.
Berge wuchsen langsam. Achill hatte bei seinem ersten Einsatz vor drei Jahren ein kurzes Dokument einer Expertin gelesen, die irgendwo im Norden studiert hatte und sich mit Abflusssystemen beschäftigte, mit ihren Strömen, ihren Dämmen und ihren verzweigten Tunneln. Sie sprach in ihrem Paper andauernd von Verseifung, was Achill nicht verstand, weil Seife nicht der Faktor war, der die Berge wachsen ließ. Es war das Öl, das literweise in die Abflüsse gegossen wurde, altes Öl, ehemaliges Frittierfett, ranzige Ströme, die nicht versiegen wollten. Irgendwo in den Schächten unter der Stadt trafen diese Ströme auf feuchtes Toilettenpapier und hinabgespülte Damenbinden, Material, das nicht zerfiel, und fanden dort die Oberfläche, an der sie gerinnen konnten. Berge wuchsen langsam. Irgendwo blieb das Fett hängen und zog weitere Elemente an sich, immer mehr kleine Partikel verfingen sich an der Oberfläche und wurden ins Innere der Masse gezogen, die sich erweiterte und heranwuchs. Achill hätte dieses Wachstum sehr gerne beobachtet, doch was er sah, war nur das Verschwinden.
Etwas auf der Oberfläche des Bergs erregte seine Aufmerksamkeit.
»Wächst da etwas?«
»Kann sein«, nuschelte Rocko und tippte auf seinem Phone herum. »Vielleicht sind es aber auch nur Haare, die sich da gesammelt haben. Letztes Mal waren auch Haare drauf.«
Er betrachtete sich auf seinem Phone und schoss ein Selfie vor dem Fettberg: »Eine kleine falsche Perücke für unseren gestrandeten Wal.«
Achill suchte weiter nach Fragmenten des Lebens, die hier in geronnenem Fett eingeschlossen waren, doch er sah nur eine Masse.
»Wann kommt jetzt diese Künstlerin?«
Sie hatte geschrieben. Nach vier oder fünf falschen Adressen war sie tatsächlich bei Achills Abteilung gelandet und hatte seinen Chef davon überzeugt, ihr die Erlaubnis zu geben, die Arbeit an den Bergen zu filmen.
Wie sie auf die beiden aufmerksam geworden war, hatte sie in ihrer sehr freundlichen E-Mail nicht geschrieben, aber Achill wusste, dass es mit ihm zu tun hatte.
Achill war ein Meme geworden. Ohne dass er zunächst etwas davon mitbekam, war er zu einer mittelgroßen Berühmtheit herangereift, Tausende hatten sein Bild mit weißer Schrift versehen, geteilt und wieder geteilt, hatten ihn in immer wieder neue digitale Räume gestellt, 107 Kilobyte mit seinem Gesicht und dem Schriftzug »Weg vom Gebirge!«.
Ein Screenshot einer Dokumentation. Das war das letzte Kamerateam gewesen, das sie hier unten besucht hatte, hier unten bei den dunklen Flüssen. Bevor er den Hochdruckreiniger anwarf, hatte sich Achill noch einmal umgedreht und den Kameramann angewiesen zurückzutreten: »Weg vom Gebirge!«
Monatelang hatte er sich keine Gedanken darüber gemacht, was dieser Satz einmal bedeuten könnte. Jeden Morgen hatte er einen neuen Song gehört und war hinabgestiegen, wenn es etwas zu tun gab, wenn die dunklen Flüsse nicht mehr fließen konnten.
Doch jemand hatte die Dokumentation aus schwerer Langeweile in einer schlaflosen Nacht angesehen und ihn darin erblickt: ein schwitzendes, aufgeregtes Gesicht, das diese Worte sprach: »Weg vom Gebirge!«
Vielleicht waren es seine weit aufgerissenen Augen gewesen, seine glänzende Stirn oder der massive Fettberg im Hintergrund. Achills Bild hatte eine Reise begonnen, die 107 Kilobyte wurden vervielfältigt und verbreitet und er selbst wuchs zu einer Berühmtheit heran, warnte vor Sexbots und Clickbait-Seiten, vor ermüdenden Blockchain-Diskussionen und nachbearbeiteten Porträts, ohne dass er davon etwas erfuhr. Achill wurde zu einer namenlosen Berühmtheit, hatte einen eigenen Eintrag bei knowyourmeme.com und fuhr doch jeden Tag in den Vorort hinaus, wo keine Bäume an den Straßen wuchsen.