Supermilch

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»Wenn wir den Berg anstrahlen und euch dann als Schatten davor bei eurer Arbeit zeigen – das ist das Bild, das ich haben will.«
»Was?«
»Euch als Schatten vor dem Berg.«
Achill blinzelte. Die Künstlerin lief nickend vor dem Berg auf und ab. Das Licht ihrer Stirnlampe flackerte durch den Schacht. An der Decke bildeten sich Fett-Stalaktiten dort, wo ein Teil des Bergs abgebrochen war.
»Euch als Schatten vor dem Berg – das ist das Bild und dann filmen wir das. Richtig lange. Könnt ihr die Jacken ausziehen? Diese Streifen stören.«
»Die Jacken sind Vorschrift«, murmelte Achill, während ihm Rocko zuzwinkerte.
Sie stellte sich als Mady vor und sprach sofort von ihrem Projekt, dass noch Scheinwerfer fehlten, und fragte, wo der Rest des Teams sei.
»Mir geht es vor allem um die Abfälle, um ihre Oberfläche«, sagte Mady.
»Okay«, sagte Achill.
»Das wird das Backdrop für eine experimentelle Komposition werden. Der Berg verschwindet im Rhythmus der Musik. Oder vielleicht lassen wir die Aufnahmen auch zurücklaufen: Der Berg wächst im Rhythmus der Musik.« Sie schüttelte den Kopf mehrmals hin und her. »Das hängt natürlich auch vom Stück ab, ob alles eher anwächst oder zusammenfällt. Aber wir brauchen die Bewegung.«
»Okay«, sagte Achill.
»Wunderschön«, sagte Rocko und schoss ein Bild von ihr, ohne um Erlaubnis zu fragen.
Achill dachte, dass die Berge nicht deshalb interessant waren, weil sie die Ausscheidungen der Stadt über ihnen einfingen, sondern weil sie sie verbargen. Das Fett nahm alles auf und verschloss es in seinem Inneren, bildete feste Krusten darüber, hinter denen alles verschwand, alle Formen und Farben: Dreck, Kot, Papier, verstorbene kleine Haustiere. Am Ende bildete sich eine Masse, ein wachsender Block. Niemand konnte mehr erkennen, wer das alles einmal verursacht hatte, keine Spur führte von hier nach oben, kein Alltag wurde in den Überbleibseln sichtbar. Das gefiel ihm: ein großes, alltägliches Verschwinden im Fettgebirge.
Achill dachte, dass es gut war, dass es irgendwo einen Ort gab, an dem Dinge verschwanden. Dinge sollten irgendwann verschwinden.
Jede Woche bekam er neue Mails. Journalisten wollten eine Reportage über ihn schreiben. Eine neue Auflage von: der Mensch hinter dem Meme. Das Schicksal, das Leben, das Konkrete, das Echte. Podcaster wollten Gespräche mit ihm führen. Alle wollten ganz nah herankommen. Sie hatten damals schon Dimitri den Nihilisten aufgespürt, den Hundemann und den Elephantiasis-Jungen, aber die Möglichkeit einer neuen Geschichte scheuchte sie alle wieder auf und Achill konnte nicht verschwinden. Nur wenn er hier unten war. Bei den dunklen Flüssen stand er in ewigem Gestank, sprach nicht, und was sich ihm näherte, waren Ratten, Spinnen und andere Dinge, die sich bewegten, aber keine Menschen mit Interesse an ihm. Hier unten war der Puls der Stadt ein dumpfer, und er musste keine Fragen beantworten.
So war es an gewöhnlichen Tagen.
»Hämorrhoiden«, sagte Achill.
»Bitte was?«
»Hämorrhoiden«, sagte er noch einmal. »Es liegt wohl an den Hämorrhoiden. Die Menschen bekommen immer mehr Hämorrhoiden und benutzen deshalb mehr feuchte Toilettentücher.«
»Oh mein Gott …«
»Und das Fett. Frittierfett vor allem. Es müsste anders entsorgt werden, aber die meisten Menschen spülen es hier runter. Es gibt da eine Untersuchung. In der steht, um wie viel Prozent in den letzten Jahren der Verbrauch von Frittierfett zugenommen hat. Aber ich habe die genaue Zahl vergessen.«
Er schnaufte: »Wir sind zu viele für diese Tunnel. Die Tunnel sind zu klein für das, was darauf gewachsen ist.«
Ihr Blick blieb für einen kurzen Moment an seiner Nase hängen, dann wirbelte sie herum und rief in den Tunnel, wo die Kamera bliebe. Die Kamera hätte schon längst geliefert werden sollen.
Achill fuhr mit der Bahn in seinen Vorort zurück. Er dachte an Madys Gesicht in dem Moment, in dem sie über seine Erklärungen nachdachte. Sie hatte ihren Unterkiefer nach vorn geschoben und sich mit den Zähnen die Oberlippe gekratzt. Ihre Züge verformten sich dabei zu einer Grimasse wie aus einem Gruselfilm für Kinder. Aber direkt danach, vielleicht weil die Bewegung anstrengend war, hatte sich ihr Gesicht vollkommen entspannt und da sah sie einfach nur müde aus und sehr viel jünger und gleichzeitig sehr viel älter. Achill starrte auf Reklame hinter Reklame, die jenseits der Scheibe an ihm vorbeirauschten, und fragte sich, wie das gehen konnte, dass jemand in einem solchen Moment sowohl jünger als auch älter aussah.
Währenddessen deuteten pastellfarbene Frauen vor pastellfarbenen Hintergründen mit viel zu langen Fingern auf ihn und fragten, an welchem Tag er aufgehört hätte, die Zukunft als offenen Raum der Möglichkeit zu betrachten.
»Die Zukunft«, sagten die Untertitel in der nächsten pastellfarbenen Werbung, die über eine ganze Gebäudefront flackerte, »die Zukunft, das bist du.«
Die Zukunft, dachte Achill. Die Zukunft ist alles, was nicht ist. Die Zukunft ist unsichtbar. Niemand weiß, wie sie aussieht. Wenn sie da ist, ist sie nicht mehr die Zukunft, sie verschwindet permanent. Niemand kann in der Zukunft leben. Das gefiel ihm.
Während er weiterfuhr, erhielt er eine Mail seines Chefs, der ihm schrieb, dass er es richtig schön fände, wenn Achill in einem der Podcasts auftreten würde. Es wäre schön – für ihre Arbeit, für ihn, für das Team. Es wäre auch eine Chance, für ihn, für das Team. Deshalb solle er sich das doch noch einmal überlegen, weil Chancen – die kämen nicht jeden Tag.
Auf dem niedrigen Flachdach auf der anderen Straßenseite filmte sich ein breiter Mann mit öliger Haut. Er tanzte vor der Kulisse heruntergekommener Urbanität im Licht eines Strahlers und fuchtelte mit einer Machete in der Luft herum. Der Beat war unhörbar in seinen Ohren. Die Bewegungen wiederholten sich. Immer wieder dieselbe stumme Warnung an Konkurrenten, Feinde, namenlose Existenzen und andere Kleinunternehmer, die nur darauf warteten, gefickt zu werden.
Achill beobachtete ihn aus dem zehnten Stock und aß ein hartgekochtes Ei, das in Sojasauce schwamm. Die Kulisse dort unten war beliebt bei allen Persönlichkeiten digitaler Plattformen. Er hatte schon Capoeira-Tänzerinnen der Welt ihre Leidenschaft erklären sehen, dutzende Yoga-Trainer, die zwischen Schornsteinen und Antennen durchs Vinyasa flossen, Paare tanzten Tango, um tangoferne Produkte zu bewerben. Das Nachmittagslicht war einfach perfekt.
»Was tut er da?«
»Er ist der Fettflüsterer.«
»Ernsthafte Antwort bitte.«
»Er hat ein Gefühl dafür. Ich kann es auch nicht so wirklich erklären. Jemand muss nach den Sollbruchstellen an der Kruste suchen, also die Stellen, an denen wir anfangen, den Berg aufzubrechen. Das wird sonst eine ziemliche Plackerei. Richtig böse und alles.«
Achill stach mit einem Metallstab in die Fettkruste und spürte vorsichtig dem Widerstand nach. Dann wiederholte er die Bewegung einen Meter weiter links und arbeitete sich langsam die gesamte Breite des Fettbergs entlang.
Achill hörte hinter sich falsche Kamerageräusche, als Mady anfing, Fotos von ihm zu schießen, während Rocko sie erneut fragte, ob er dann auch zur Premiere kommen dürfe. Achill seufzte. Wenigstens war sein Gesicht nicht zu sehen. Der Metallstab blieb hängen und für einen Augenblick war er sich sicher, eine Vibration durch das Material zu spüren, als wäre eine Bewegung durch das Fett gegangen. Aber vermutlich war das nur eine Täuschung, durch seine Nervosität entstanden und gewachsen.
Er rief Rocko zu, dass er die Hochdruckreiniger in den Schacht bringen solle. Als Achill sich umdrehte, sah er, dass Mady ihr Phone und ihre Kamera hatte sinken lassen. Sie starrte auch nicht mehr ihn an. Ihre ganze Aufmerksamkeit war auf den hellgrauen Berg gerichtet. Sie blinzelte sehr oft.
»Wie fängt es an?«, fragte sie leise.
Gemeinsam betrachteten sie den Berg eine Weile, ehe Achill antwortete.
»Sie entstehen nicht immer unter den Vierteln, in denen die meisten Menschen wohnen. Man würde das ja vermuten, aber es ist nicht so. Am Anfang gibt es immer einen Zufall, irgendeinen kleinen Faktor, ein kleines Hindernis und dann staut sich alles. Aber wir werden erst zu den Bergen gerufen, wenn sie schon so groß sind, dass niemand mehr sagen kann, wie sie gewachsen sind.«
»Der Anfang verschwindet«, sagte sie.
»Der Anfang verschwindet immer«, sagte er.
»Die Kamera ist immer noch nicht angekommen.«
»Das macht nichts«, sagte er. »Wir werden noch eine Weile hier unten sein.«
»Gewöhnt man sich irgendwann an den Geruch?«
»Irgendwann riecht man überhaupt nichts mehr.«
»Gut.«
Der Rapper mit der Machete hatte sich einen Freund mit aufs Dach genommen. Der Freund unterbrach ihn alle fünf Minuten und dirigierte seine Bewegungen mit der Machete. Am Rand des Dachs warteten zwei Yoga-Lehrerinnen darauf, dass sie als nächstes den guten Platz im späten Sonnenschein benutzen dürften.
Achill las zwei weitere Mails seines Chefs, der ihn jetzt weniger freundlich dazu aufforderte, sich bei den Podcastern zu melden.
Achill las: »Wir brauchen das jetzt.«
Achill las: »Ich weiß, dass du dich, genau wie alle anderen, weiterentwickeln willst. Du willst dich doch weiterentwickeln?«
Achill legte sich schwitzend auf sein Bett und stellte sich vor, wie die Bilder seines Lebens, alle Zeichen seiner Existenz, alle Spuren, alle Gegenstände, die er jemals besessen hatte, in einem großen Massiv aus sich verhärtendem Fett verschwanden.
Das Fett wurde immer härter und härter, wuchs und wuchs, wurde hart wie Stein und verstopfte das gesamte System der dunklen Flüsse, bis sich nichts mehr bewegte.
»Was hältst du von ihr?«, fragte Rocko, während sie, bevor sie hinabstiegen, darauf warteten, ob das Multiwarngerät wegen explosionsgefährdeter Atmosphäre zu piepsen begann. Er kaute angestrengt und nervös und ließ dann eine Kaugummiblase direkt auf den tätowierten Schnurrbart unter seiner Nase platzen.
»Ich dachte, das wird geil mit ihr«, sagte Rocko, und die nächste Blase platzte. »Ich dachte, die hat was drauf. Fick mich hart. Da passiert doch nichts. Das ist doch nichts. Das ist doch überhaupt nichts.« Er wartete nicht auf eine Antwort, sondern schimpfte weiter über Mady, die ihm immer noch nicht gesagt hatte, ob sie ihn mit zur Premiere der Videoarbeit nehmen würde.
Dann zogen sie das Multiwarngerät aus dem Schacht.
Rocko war ehrlich gekränkt, weil Achill zum Meme geworden war und nicht er. Jede Woche sagte er mindestens einmal, wie schrecklich es sei, dass ausgerechnet Achill, der mit diesem Ruhm nichts anfangen konnte, zur Berühmtheit erkoren wurde. Ein paar Monate unscharfen Ruhms. Rocko hätte etwas damit anfangen können. Rocko hätte es nicht einfach so ignoriert. Er hätte einen Weg heraus aus den stinkenden Gängen gefunden. Rocko hatte nur 1.122 Follower auf seinem Account für Tätowierungen im Ignorant Style. Rocko war eigentlich immer unzufrieden. Die Anwesenheit einer Frau wie Mady zeigte ihm diese Unzufriedenheit noch deutlicher. Sie brachte Unruhe, weil ihre reine Anwesenheit von Zukunft erzählte.
»Ich weiß nicht, Rocko«, sagte Achill, der es wirklich nicht wusste. »Sie wird einen Film drehen und dann wird sie wieder gehen und alles wird wieder normal sein.«
Er glaubte es selbst nicht. Während sie langsam hinabstiegen und mit jeder Sprosse die Geräusche der Stadt verstummten, dachte er: Nichts würde wieder normal werden. Heute Abend würde er zwei neue Mails seines Chefs in seinem Postfach vorfinden, und auch wenn er die Push-Nachrichten seines Mail-Programms deaktiviert hatte, würde er wissen, dass die Mails warteten. Und in den Mails die Gekränktheit eines Mannes, der sich ernsthafte Gedanken um Achills Team Spirit machte. Niemand durfte nur seinen Job erledigen.
»Fick mich hart«, stöhnte Rocko. »Denk doch mal an uns. Sie wird irgendwo einen schönen kleinen Vortrag halten und schöne kleine Sätze aufsagen, und wir werden immer noch hier unten sein.«
»Ich finde es nicht schlimm, hier unten zu sein, Rocko«, sagte Achill und meinte es auch so. Niemand beobachtete seine Schritte, die Tunnel rauschten sanft und warm. Niemand sah ihn. Niemand stellte Fragen. Irgendwo wartete der Berg und irgendwo anders wuchs bereits der nächste.
»Ich finde es nicht schlimm, Rocko. Einer muss sich ja darum kümmern. Es ist eine wichtige Arbeit.«
»Es ist Scheißarbeit. Es ist Scheißarbeit im wahrsten Sinne des Wortes.«
»Wie bei einem Verkehrsstau«, sagte Mady und warf den nächsten flüchtigen Blick auf ihr Phone.
»Ja«, sagte Achill und überprüfte die Pumpen.
»Alles friert ein. Nichts bewegt sich mehr.«
»Genau.«
»Stillstand«, sagte sie.
»Immer noch keine Kamera?«
Wieder konnte er für die Dauer eines kurzen Augenblicks die Müdigkeit sehen, die sich hinter ihren angestrengten Zügen verbarg. Das harte Licht der Scheinwerfer um sie herum warf dunkle Kanten auf ihre Haut.
In den Schatten wanderte Rocko umher, gekränkt und wütend.
Sie schüttelte den Kopf.
»Morgen dann«, sagte Achill.
Sie schüttelte wieder den Kopf. »Ich weiß auch nicht. Manchmal habe ich das Gefühl, dass außer mir niemand dieses Projekt ernst nimmt. Manchmal frage ich mich, warum ich das mache.«
Achill schwieg und betrachtete seine schmutzigen Arbeitsschuhe. Mady hob und senkte etwas hilflos ihre Hände.
»Am Ende weiß auch niemand, ob das Video überhaupt gezeigt wird. Und dann verbleiben Stunden an Filmmaterial auf irgendeinem Server. Stunden an Arbeit und all das Schöne, was da vielleicht passiert, und es werden Dateien daraus, die niemand betrachtet. Und ich sage mir, ich nehme es auf, weil es um euch geht, wie ihr da arbeitet, aber es geht eigentlich um mich.«
»Es geht immer um irgendwen«, sagte Achill.
»Und ich dachte, ich könnte mal etwas machen, das wirklich etwas bedeutet, das Menschen aufrüttelt und ihnen die Welt anders zeigt und irgendwie wirklich wichtig wäre. Geht es nicht darum? Dass man am Ende etwas gemacht hat, das wirklich wichtig ist? Etwas, das auch noch bleibt und woran jemand denkt?«
Sie sagte, dass sie manchmal ganz unerträgliche Gedanken habe: dass sie eines Tages gehen müsse und nichts hinterlasse, das jemanden berühre.
Sie fragte ihn, ob er das verstehen könne.
Achill sagte: »Vielleicht.«
Müde, dachte Achill in der Bahn. Sie sah immer müde aus, auch wenn sie mit wacher Stimme sprach. An eine glatte Betonwand hatte jemand in riesigen Lettern »Do you like scary movies?« gesprüht. Eine weitere pastellfarbene Werbung fragte ihn, ob er es nicht langsam leid sei, sich so viele Sorgen zu machen.
Ich mache mir keine Sorgen, sagte er stumm und ignorierte weiterhin sein Mail-Programm. Die ganze Welt macht sich Sorgen, aber ich lebe ohne. Ich weiß, was zu tun ist. Ich weiß, wo alles stehen bleibt. Ich weiß, wo die dunklen Flüsse erstarren. Ich weiß alles, was ich wissen muss.
Auf dem Flachdach spiegelte sich die späte Sonne in öligen Pfützen, die metallisch glänzten. Der Rapper mit der Machete war an diesem Tag nicht erschienen. Nur sein Freund stand etwas verloren zwischen drei jungen Männern, die am Rand des Dachs entlangliefen, sich selbst dabei filmten und in die Kameras ihrer Phones sprachen. Er stand da, drehte sich mit den Bewegungen der anderen, die ihn vollkommen ignorierten, und blinzelte gegen das Licht.
Der Berg blendete ihn, als er um die letzte Ecke bog. Er wurde von vier Seiten aus angestrahlt. Neben Mady stand ein Mann, der seinen Oberkörper rhythmisch vor und zurückbewegte. Immer wieder vor und zurück. Der untere Teil seines Gesichts wurde von mehreren OP-Masken bedeckt.
»Wie haltet ihr diesen Geruch aus? Es riecht wie eine Festivaltoilette, die jemand mit Gammelfleisch gefüllt hat.«
Rocko grunzte.
Mady blinzelte sehr schnell: »Ich weiß gar nicht mehr, ob ich euch filmen will. Am liebsten würde ich einfach nur den Berg filmen, ohne dass sich etwas verändert. Einfach nur diese Landschaft aus Fett. Eine ewige Landschaft aus Fett. Aber so, dass sie strahlt und glitzert. Mit der Kamera durch die Täler fahren und wieder hinaus.«
»Was?«, sagte Rocko.
»Was?«, sagte Mady, ohne den Blick vom Berg abzuwenden.
»Ich kotze gleich«, sagte der Mann mit den Masken.
»Wo bleibt das Equipment?«, fragte Mady schwach, dann kniff sie ihre Augen angestrengt zusammen und wurde laut: »Das hätte alles schon vor Stunden hier sein sollen. Vor Stunden. Eigentlich gestern schon. Und jetzt warte ich immer noch.«
Ein paar Ratten flüchteten, und Achill winkte ihnen hinterher. Es war Zeit für die Hochdruckreiniger.
Mady rief ihrem Assistenten die Frage zu, wie er sich das alles vorstelle und ob er vielleicht schon einmal daran gedacht habe, einen Anruf zu tätigen, oder ob er davon ausgehe, solche Probleme lösten sich von ganz allein. Achill fiel auf, dass ihre Stimme während der wütenden Ansprache schnell höher wurde und dann nach einer kurzen Pause plötzlich sehr tief, als wäre es ihr selbst aufgefallen.
Für einen Augenblick schaute ihr Achill hinterher, dann winkte er Rocko zu sich heran.
»Wir brauchen die Hochdruckreiniger.«
»Das war ein Fehler«, sagte Rocko und bewegte sich nicht von der Stelle. »Das ist nicht cool, sage ich dir. Ich dachte, sie wäre in Ordnung, aber die ist doch nicht ganz richtig, findest du nicht? Hast du ihr nicht zugehört?«
»Ich weiß nicht, was du meinst, Rocko.«
»Das ist doch die Lahmheit, diese Aktion hier unten. Die schlimmste Lahmheit überhaupt. Hör dir doch an, was sie sagt. Ich weiß nicht mal, ob sie eine richtige Künstlerin ist. Professionell ist auf jeden Fall anders.«
»Die Hochdruckreiniger, Rocko …«
Rund um seine Füße floss das Fett ab und wurde von einer großen, bläulich glänzenden Maschine abgepumpt. Der Berg schrumpfte. Alles, damit der Strom an Fäkalien und Abfällen wieder geregelt fließen konnte.
Auf der Straße dämmerte es, als Achill wieder an die Oberfläche trat. Er streckte sich und ließ seinen Blick über die bunten, warmen Lichter der Stadt schweifen. Keine zehn Meter entfernt saß Mady auf einer Bank und tippte wütend und schnell auf ihrem Phone herum. Der Himmel war klar und warm, und die Luft roch nach verbranntem Gummi.
»Wieder keine Kamera heute?«
Sie schüttelte den Kopf und kratzte ihre Lippe mit dem Unterkiefer. Achill hätte sich gerne zu ihr gesetzt, aber er traute sich nicht.
»Es müsste etwas geschehen«, sagte sie.
Achill dachte nach. »Es geschieht doch schon.«
»Nein, anders. Man wächst sein ganzes Leben mit dem Versprechen auf, dass noch etwas geschieht, etwas Großes, etwas Warmes. Etwas mit Bedeutung. Und darauf arbeitet man dann hin, weil man weiß, dass es kommen wird. Und wenn es geschieht, wird man es erkennen. Man wird es erkennen als das, was es ist. Aber was, wenn das alles Lügen waren? Wenn nicht jeder etwas Großes bekommt?«
Ihre Augenlider flackerten. »Was, wenn das alles Lügen waren?«
Achill dachte nach: »Es sind Lügen.«
Sie lachte kurz auf und sackte dann auf der Bank zusammen.
»Sag doch so was nicht. Ich bin noch nicht bereit dafür.«
»Es sind Lügen, aber das ist nicht schlimm.«
Die Zukunft, dachte Achill, während ihm Mady eine Angst nach der anderen aufzählte und die Sonne sich langsam hinter das Glas der Stadt zurückzog und andere Lichter die Straßen übernahmen, die Zukunft konnte keine Versprechen einlösen.
Achill dachte an seinen Kontostand, an die Quadratmeterzahl seiner Wohnung und die dutzenden traurigen Menschen auf dem flachen Dach, die von dort nachts in einen Himmel voller Lichtsmog blickten, der auch den Sternen die Sicht verwehrte, und sagte trotzdem: »Nein, es ist nicht schlimm.«
Die Schächte blieben unbeeindruckt vom Wechsel zur Nacht. Der Lichtkegel von Madys Phone flackerte über das schlammige stinkende Wasser. Beide waren fast beschwipst von dem Gefühl, hier etwas verlieren zu können.
Ihr Berg wartete auf sie.
Sie streiften vorsichtig an seinen Ausläufern entlang, und Achill zeigte ihr die Stalaktiten und Stalagmiten aus beinahe versteinertem Fett. Gemeinsam suchten sie den bleichen Berg nach den Stellen ab, an denen noch zu sehen war, aus welchen Materialien er einmal gewachsen ist, und waren glücklich, dass sie nichts erkennen konnten.
Achill versuchte, ihr das Verschwinden zu erklären, und fand keine richtigen Worte dafür, weil er noch nie in seinem Leben Worte hatte suchen müssen, doch Mady lachte ihn nicht aus und wartete nicht auf den Moment, in dem sein Gestotter vorbei wäre, sondern hörte zu, nicht ungeduldig, nicht abschätzig, sondern so beiläufig, dass sie ihm beinahe das Gefühl gab, niemand höre zu.
Es war schön, dass sie nicht dauerhaft so fühlen würden wie in diesem Moment, in dem sie außerhalb von allen Strömen dieser Stadt und dieser Welt standen, an dem Punkt, an dem alles Stillstand war, und es keine Zukunft, keine Bewegung, keine Erwartung, kein Versprechen gab. Hier war nur der Berg, aber der Berg würde verschwinden.
Eine handtellergroße Spinne mit bläulichen Haaren krabbelte über einen der Fettfelsen, flüchtete vor dem Lichtkegel des Phones und ihren Stimmen. Achill war jedes Mal erstaunt, dass die Ratten hier unten viel kleiner als erwartet waren und die Spinnen mit jedem Jahr größer wurden.
Achills Reden verliefen sich im steten Tropfen, im dumpfen Rauschen der Ferne und des Untergrunds. Mady streckte ihre Hand aus. Sie wollte ihm etwas zeigen, doch Achill ergriff ihre Hand und hielt sie fest. Erst sah sie ihn überrascht an, ihr Kiefer ging wieder nach vorne, dann stieg sie vorsichtig über einen Fettausläufer in der Form einer Kugel und drückte ihre klebrige Stirn auf seine.
Der leise Piepton des Multiwarngeräts verriet das Sinken des Sauerstoffgehalts im Schacht.
Etliche Stationen entfernt stieg ein erfolgloser Rapper langsam das Treppenhaus eines Betongebäudes mit Flachdach empor, die stumpfe Machete unter dem Arm eingeklemmt. Auf dem Dach angekommen sah er sich langsam um, suchte die Fläche nach weiteren Menschen ab, suchte in jeder Ecke und jedem Schatten. Dann atmete er tief ein und aus, baute seine Amateurkamera auf und drückte auf Record. Die Aufnahme lief, er hob langsam die Machete dem Nachthimmel entgegen und schwieg.
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