Kooperatives Lernen im Englischunterricht

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Diese doppelte gesellschaftliche Funktion schlägt auch auf die Akteure durch. Aus mikroskopischer Perspektive lässt sich Unterricht dann als intergenerationelle Kommunikation rahmen, in der die Generation der Erwachsenen mit der nachwachsenden Generation in Interaktion tritt. Der nachwachsenden Generation stellt sich dabei eine komplexe Aufgabe, nämlich
in Auseinandersetzung mit einer überlieferten Kultur und mit der bestehenden Gesellschaft eine eigene Lebensform und dabei ein individuelles Selbstverhältnis zu finden. Eine Kultur wird nicht durch die Reproduktion von Genen weitergegeben. Sie überlebt nur, wenn Menschen sich je neu eine Vorstellung von der Lebensform machen, die ihnen aus der Geschichte angeboten wird, und wenn sie diese Lebensform daraufhin überprüfen, ob sie sich darin überhaupt verstehen können und ob ihnen in ihr ein gemeinsames Leben auf Zukunft hin möglich erscheint (Peukert 1998, 17).
Damit wird der Unterricht zu einem Ort, an dem die miteinander interagierenden Individuen in einem Spannungsverhältnis zwischen zwei entgegengesetzten Ansprüchen stehen: auf der einen Seite der Anspruch der einzelnen Individuen der nachwachsenden Generation, ihre je eigenen Entwicklungsbedürfnisse durchzusetzen, auf der anderen Seite der durch Lehrer*innen vermittelte Anspruch der erwachsenen Generation, erprobte und für wichtig erachtete kulturelle Wissensbestände weiterzugeben. Dieses Spannungsverhältnis findet sich in verschiedenen Unterrichtstheorien in unterschiedlicher Form. Es kann als dialektisches Verhältnis verstanden werden, so wie in Klingbergs Figur von „Führung und Selbsttätigkeit“ (Klingberg 1987). Es kann als Dualität aufgefasst werden wie im Verständnis der Bildungsgangforschung, die Unterricht als Ort der Vermittlung zwischen subjektiven Entwicklungsbedürfnissen und objektiven gesellschaftlichen Anforderungen versteht und diese Vermittlung mit den Konzepten der Entwicklungsaufgabe bzw. der Sinnkonstruktion konzeptualisiert (vgl. Meyer 2006; Trautmann 2004; Hericks/Spörlein 2001; Hericks 2004). Schließlich taucht dieses Spannungsverhältnis auch – im Anschluss an die Kantsche Frage der Kultivierung der Freiheit bei dem Zwange – als Autonomie-Antinomie (Helsper 1996) auf und weist das beschriebene Spannungsverhältnis als für Schule konstitutiv und unhintergehbar aus. In letzter Zeit geraten zudem zunehmend Fragen der Fachlichkeit von Unterricht in den Horizont schulpädagogischer Forschung; sie belegen, dass die hier diskutierten Spannungsverhältnisse auch in der Sachantinomie bedeutungsvoll sind (Helsper 2016; Bonnet 2019).
Folgt man der Bildungstheorie Peukerts, so haben sich die Pole dieser dialektischen, dualen bzw. antinomischen Struktur in der Postmoderne verändert. Durch zunehmend weniger zu kontrollierende Technologiefolgen und Raubbau an den globalen Ressourcen in der „Risikogesellschaft“ (Beck 2015 [1986]), die Relativierung universaler Normen durch das „Ende“ der traditionellen „großen Erzählungen“ (Lyotard 1994 [1979]) sowie die Flexibilisierung und Pluralisierung von Lebenspraxen im Zuge globaler Migration mache die nachwachsende Generation verstärkt Fremdheitserfahrungen mit den an sie herangetragenen kulturellen Deutungsmustern und Sinnangeboten. Sie sei „angesichts radikaler Widerspruchs- und Kontingenzerfahrungen“ (Peukert 1998, 22) zu besonderen Vermittlungsleistungen herausgefordert.
Betrachtet man diese Situation nicht aus der Perspektive der Schüler*innen, sondern aus der Perspektive der erwachsenen Generation, so erwächst daraus auch ein Problem für Unterricht. Eine zentrale Problematik ist sein Technologiedefizit, also das ungewisse Verhältnis von Lehren und Lernen. Im Sinne des erweiterten Didaktikbegriffs nach Klafki könnte man es auch als methodisches Kontingenzproblem bezeichnen. Im Lichte der oben referierten Gegenwartsanalyse lässt sich aber ein zweites Kontingenzproblem beschreiben. Es ergibt sich daraus, dass unterrichtliche Ziele und (Fach-)Inhalte in der reflexiven Moderne verstärkt zur Disposition stehen; man könnte hier von einem didaktischen Kontingenzproblem sprechen. Damit ist gemeint, dass Lehrer*innen zunehmend mit dem Problem konfrontiert sind, die Auswahl unterrichtlicher Inhalte begründen bzw. rechtfertigen zu müssen – dies gilt auch und gerade für scheinbar kanonisierte Inhalte. Damit lässt sich feststellen, dass Unterricht angesichts seiner doppelten Kontingenzproblematik nicht nur für die Lernenden, sondern auch für die Lehrenden eine stetige Herausforderung darstellt und auf beiden Seiten mit Erfahrungen der Ungewissheit und Fremdheit verbunden ist. Wer die damit verbundenen Konflikte durch disziplinierende Machtausübung über Noten oder Techniken des classroom management zu überspielen versucht, läuft Gefahr, die innovative Funktion von Schule zu verfehlen. Um diese Funktion zu erhalten und in ihrer – angesichts immer kürzer werdender Innovationsintervalle in Technik und Gesellschaft – gestiegenen Bedeutung zu intensivieren, bedarf es einer intergenerationellen Kommunikation, die, mit Peukert gesprochen, „auf der Basis einer elementaren Solidarität Spielräume für die Selbsterprobung in alternativen Weisen des Umgangs mit Realität freigeben oder paradigmatisch vorführen“ (Peukert 1998, 25; Herv. i. Orig.).
Wie an anderer Stelle (Hericks 2007, 2008; Bonnet/Breidbach 2007) dargelegt, stellt die pädagogische Kommunikation über die Sache – sprich: der Fachunterricht – selbst den strukturellen Ort einer solchen Solidarität in der Schule dar. Der Ansatzpunkt hierfür ist die Experten-Laien-Differenz, aus der ein spezifisches Anerkennungsverhältnis zwischen Lehrperson und Schüler*innen erwächst. Indem das in der Experten-Laien-Differenz enthaltene Kommunikations- und Kooperationsproblem explizit zum Gegenstand der Unterrichtskommunikation wird, erfahren die Schüler*innen zugleich Anerkennung als diejenigen, die sich der Auseinandersetzung mit einer für sie zunächst unbekannten Sache und den mit dieser Auseinandersetzung verbundenen Fremdheitszumutungen stellen und dabei eigene, teils originelle und überraschende Fragen und Anschlüsse zu dieser Kommunikation beisteuern können. In einer auf Partizipation angelegten Fachvermittlung ist somit die Anerkennung der Lernenden als grundsätzlich partizipationsfähige Andere immer schon enthalten. Auf diese Weise kann die von Peukert beschriebene elementare Solidariät des intergenerationellen Verhältnisses in eine praktische Solidarität zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen überführt werden. Dies betrifft nicht nur die inhaltlich-curricularen Aspekte des Unterrichts, sondern darüber hinaus auch den interaktionalen und organisational-institutionalen Rahmen der Inszenierungsformen und Notengebung. Wir werden auf diesen Aspekt am Schluss unserer Untersuchung umfassend zurückkommen (Kap. 6 und Kap. 7).
Nachdem die Pädagogizität des Unterrichts als Gleichzeitigkeit oder Dialektik konservativer und innovativer Absichten sowie eines gelenkten und selbstläufigen Geschehens bestimmt wurde, stellt sich die Frage, ob und wenn ja wie sich daraus die spezifische Interaktionsstruktur des Unterrichts bestimmen lässt. Was also macht die Sozialität von Unterricht aus? Auf der Mikroebene finden sich unterschiedliche Ansätze, je nachdem welcher der beiden Pole betont wird. So kann Unterricht von seiner gleichsam konservativen Funktion her bestimmt und dann als Interaktionsform des Zeigens definiert werden (Strobel-Eisele 2011). Diese pädagogische Mikroperspektive geht davon aus, dass die Gestaltung der unterrichtlichen Sache vom Wissensvorsprung des Lehrenden ausgeht. Dies ist aber nicht mit Belehrung gleichzusetzen. Den Lehrenden kommt vielmehr die anspruchsvolle Aufgabe zu, die unterschiedlichen Dimensionen des repräsentativen Zeigens „in eine synchronisierende Handlungsabfolge und damit ‚in Bewegung‘ [zu] bringen“ (ebd., 73), wobei keinesfalls von einer kausalen Folge von Zeigen und Lernen ausgegangen wird (ebd., 74). In dieser Sichtweise werden nur solche Interaktionen als für Unterricht typisch angesehen, die eine immanent zeigende Struktur aufweisen. Andere Sprachspiele wie Forschung oder Beratung werden bewusst nicht als Unterricht aufgefasst (ebd., 75ff.), jedoch sehr wohl als für Schule sinnvoll erachtet. Damit wird die innovative Funktion von Schule auf der Ebene des Unterrichts eingeschränkt, denn diese ist darin immer nur als eine Neuerung denkbar, die die Lehrperson bereits kennt, oder für deren Erschließung sie inhaltlich den Ausgangspunkt vorgegeben hat. Ein Geschehen, in dem für beide Seiten Neues emergiert, ist damit begrifflich vom Unterricht ausgeschlossen.
Derartige Prozesse werden hingegen von solchen Ansätzen erfasst, die neben dem Zeigen und dem dafür konstitutiven Wissensgefälle zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen andere Interaktionsmodi betonen. Dies ist besonders dezidiert bei Dewey der Fall, der, so Meyer (2006, 96), die Schule als „Experiment der Gesellschaft mit der nachwachsenden Generation“ verstehe. Dementsprechend habe die Interaktion zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen in der unmittelbaren Unterrichtsgestaltung weniger direkt zeigenden als vielmehr vermittelnden Charakter. Aufgabe der Lehrer*innen sei es nicht, erklärend oder gar belehrend tätig zu werden, sondern vielmehr einen organisatorischen Rahmen zu schaffen, in dem die Schüler*innen occupations nachgehen, an deren Planung und Ausgestaltung sie in hohem Maße mitwirken. Ein über das Zeigen hinausgehendes Verständnis von Unterricht ist aber auch im strukturtheoretischen Ansatz verwirklicht (Combe 1996). Man kann daher festhalten, dass es als erster Eigenschaft einer für Unterricht besonderen Sozialität bedarf: Einer auf Aneignung bzw. Vermittlung gerichteten, gemeinsam-prozesshaft von Schüler*innen und Lehrer*innen hervorgebrachten, „den Gegenstand konstituierenden Interaktionsbedeutung“ (ebd., 277). Dieses Geschehen steht im Spannungsfeld objektiver gesellschaftlicher und individueller Deutungen.
Kaum formuliert, muss man diese Festschreibung allerdings bereits relativieren. Für die Sozialität von Unterricht scheint nämlich paradoxerweise konstitutiv zu sein, dass sich die aus seiner Pädagogizität ableitende Absicht der Bezugnahme auf eine Sache gar nicht erfüllen muss. Der Begiff der „Routine“, dem im strukturtheoretischen Modell der Begriff der „Krise“ dialektisch gegenübergestellt wird (Oevermann 1991)1, verweist auf habitualisierte und sich wiederholende Interaktionsmuster, wie sie die Diskursanalyse mit dem IRE-Schema gefunden hat (Meseth et al. 2011). Es ist das Verdienst der ethnographischen Unterrichtsforschung (Breidenstein 2006), gezeigt zu haben, wie inhaltliches Lernen bzw. Bildung aus dem Blick geraten, wenn Lehrpersonen und Schüler*innen in erster Linie Geschäftigkeit inszenieren. Die praxistheoretische Forschung hat diesem „Schülerjob“ eine weitere Facette hinzugefügt, indem sie zeigt, wie auch die Inszenierung von Reflexivität und individueller Sinnkonstruktion an die Stelle inhaltlicher Arbeit treten können (Rabenstein 2009). Aus dieser Perspektive scheint es so, als ereigne sich unterrichtliche Interaktion nur mehr ritualisiert in normalisierten Zugfolgemustern. Die äußere Form dieser Muster verweist noch auf die Pädagogizität des Unterrichts, in der Erstarrung der Form ist deren Funktion aber bereits verloren gegangen.
Warum wird diese Praxis aber aufrecht erhalten, wenn Bildung gar nicht mehr stattfindet und ihre Abwesenheit von allen Beteiligten stillschweigend akzeptiert zu werden scheint? Im strukturtheoretischen Modell taucht diese Funktion von Unterricht auf, wird aber mit dem Begriff der Erziehung in den Dienst der Vermittlungsabsicht (Didaktik und Bildung) gestellt. Betont man hingegen stärker die institutionelle und organisationale Verortung von Unterricht, dann wird deutlich, dass die Sozialität von Unterricht nur hinreichend erfasst werden kann, wenn auch die Frage der Macht thematisiert wird.
Man muss wohl auch einer Denktradition entsagen, die von der Vorstellung geleitet ist, daß es Wissen nur dort geben kann, wo die Machtverhältnisse suspendiert sind, daß das Wissen sich nur außerhalb der Befehle, Anforderungen, Interessen der Macht entfalten kann. […] Eher ist wohl anzunehmen, dass die Macht Wissen hervorbringt (und nicht bloß fördert, anwendet, ausnutzt); daß Macht und Wissen einander unmittelbar einschließen; daß es keine Machtbeziehung gibt, ohne dass sich ein entsprechendes Wissensfeld konstituiert, und kein Wissen, das nicht gleichzeitig Machtbeziehungen voraussetzt und konstituiert (Foucault 1994 [1976], 39).
Die Analyse dieser Machtbeziehungen aus historischer Perspektive vermag das scheinbare Paradoxon eines Unterrichts, der ohne Sachbezug und Bildungswirkung auskommt, zu erklären. In dieser Perspektive zeigt sich Unterricht als institutionell-organisational gerahmter Ausübungsort staatlicher Herrschaft, dessen Verwahrcharakter – z. B. zur Vermeidung von Delinquenz oder umstürzlerischen Umtrieben – nicht Unfall, sondern genuiner Zweck dieser „lernbezogenen Menschenhaltung“ (Caruso 2011) ist: „Im Unterricht werden heranwachsende Menschen auch gehalten, damit sie nicht nur in den Genuss kognitiv wertvoller Interaktionen kommen, sondern auch, damit sie bestimmte andere mögliche Interaktionen vermeiden“ (ebd., 25). Hier wird nicht nur Bildung, sondern sogar Lernen als für Unterricht konstitutiv in Frage gestellt.
Folgt man der Analyse Foucaults, der den Prozess der politischen Modernisierung als Entwicklung einer neuen Kontrolltechnik – als Übergang von äußerer Strafe zu innerer Disziplinierung – konzeptualisiert, dann ist Unterricht nicht nur Verwahrung, sondern sogar die pädagogische Einflussnahme selbst steht im Zeichen der Machtausübung. Mit dem Konzept der Gouvernementalität wird sowohl theoretisch beschreibbar als auch empirisch rekonstruierbar, wie Erziehung und Lernen als Ausübung von Herrschaft im Sinne der Weitergabe von Handlungsimperativen, deren Verinnerlichung bei den Lernsubjekten zur „Selbst-Beherrschung“ führt, interpretiert werden kann.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Foucault (2004) mit der Einführung seines Konzepts der Gouvernementalität darauf abzielt, Machtbeziehungen unter dem Blick von Führung untersuchen zu können, um damit die Frage, wie andere zu regieren sind, also nach den Techniken der Fremdführung, mit der Frage wie man sich selbst regiert, also nach den Formen der Selbstführung, zu verknüpfen (Rabenstein 2007, 42).
Mikroskopisch gewendet kommt dann mit Hilfe der Diskursanalyse in den Blick, welche Machtstrukturen in einem gegebenen Unterricht aktualisiert werden und wie in der unterrichtlichen Interaktion Handlungsimperative erworben oder auch Herrschaftsansprüche zurückgewiesen werden. Diese historische Entwicklung ist auch beim Übergang von frontalen zu individualisierten bzw. kooperativen Unterrichtsformen zu beobachten. So verweisen die Analysen von Rabenstein (ebd.) darauf, dass gerade diese neuen Unterrichtsformen mit ihren hohen Ansprüchen an Autonomie und Reflexivität die Schüler*innen zu sehr komplexen Selbst-Inszenierungen nötigen, für die jeweils geklärt werden muss, ob die Übernahme dieser Rituale durch die Schüler*innen Akte der Selbst-Unterwerfung oder der ironisierenden Distanznahme darstellen.
Diese machttheoretische Betrachtung könnte den Eindruck erwecken, dass sich der Unterrichtsbegriff mit der Thematisierung der Sozialität maximal von der Pädagogizität entfernt hat. Bei näherer Betrachtung erscheint es allerdings eher so, als schließe sich damit der Kreis. Schon im strukturtheoretischen Modell wird Erziehung als hierarchischem Steuerungsprozess die Funktion zugeschrieben, die interaktionalen Voraussetzungen für die Umsetzung didaktischer Absichten zu schaffen. Bezieht man aktuelle Subjekttheorien ein, löst sich der konstruierte Gegensatz von Pädagogizität und Sozialität auch hinsichtlich der innovativen Seite, d.h. in Bezug auf emergente Bildungsprozesse auf. Das Konzept der subjection (Butler 2001, 2006) beschreibt, dass Individuen eine Handlungsmacht generierende Ich-Position nur einnehmen können, indem sie sich herrschenden Strukturen unterwerfen – diese dann aber durch Prozesse der Resignifikation, also der sprachlichen Umdeutung, in der Interaktion verändern. Im Lichte dieses Ansatzes erhielten auch die von Rabenstein (2009) geschilderten Inszenierungen von Reflexivität und persönlicher Sinnkonstruktion der Schüler*innen in individualisierten bzw. kooperativen Settings noch eine etwas andere Deutung. Sie erscheinen dann nicht mehr (nur) als subversive Akte, in denen Individuen trotz der an sie herangetragenen Herrschaftsansprüche agency entfalten, sondern (auch) als interaktionale Akte, in denen Individuen eine Subjektposition nur deshalb einnehmen können, weil sie sich zuvor einer herrschenden Form unterworfen haben. Es wäre, so gesehen, gerade der Interaktionsrahmen der neuen Unterrichtsformen, der es den Schüler*innen ermöglicht, in der Inszenierung von Reflexivität und Sinnkonstruktion aus diesem Rahmen herauszutreten, sich in Opposition zu ihm zu positionieren und dessen in leerer Form erstarrte Inhaltslosigkeit bloßzustellen. Dabei entstünde ein neues Paradoxon mit einem gehörigen Schuss Ironie: Die neuen Unterrichtsformen ermöglichen den von ihnen programmatisch vertretenen Autonomiegewinn nicht dadurch, dass man ihren Prozeduren folgt, sondern vielmehr in dem Maße, in dem man sich zu ihnen in Opposition setzt. Letzeres wiederum scheint durch ihre Offenheit erleichtert zu werden.
Als zweite Eigenschaft einer für Unterricht charakteristischen Sozialität kann man damit die interaktive Herstellung von Machtverhältnissen in Lerngruppen betrachten, in denen sich Lehrer*innen und Schüler*innen zueinander positionieren. Diese Machtverhältnisse stehen in einer gegenseitigen Beziehung der Dualität von Struktur zu den sie umgebenden organisationalen (Schule) und institutionalen (Bildungssystem) Machtverhältnissen. Einerseits werden die Machtverhältnisse in der Einzelklasse durch den sie umgebenden organisational-institutionalen Kontext maßgeblich bestimmt, andererseits können Verschiebungen der Hierarchien einer Einzelklasse im Sinne der Butlerschen Resignifikation potenziell Veränderungen auf der organisational-institutionalen Ebene bewirken.
3.1.2 Theorierahmen der Unterrichtsstudie
In der Diskussion ausgewählter Ansätze der rekonstruktiven Unterrichtsforschung und deren Verknüpfung mit schul- und bildungstheoretischen Überlegungen hat sich Unterricht als komplexes Phänomen und seine theoretische Erfassung als schwieriges Unterfangen erwiesen.
Die zentrale Herausforderung für die Unterrichtstheorie besteht darin, das Pädagogische in einer Weise zu integrieren, dass weder pädagogische Intentionalitäten mit ihrer Realisierung gleichgesetzt noch vorschnell alle Fragen der erzieherischen Beeinflussung von Schülerinnen und Schülern aus der Theoriebildung über Unterricht ausgeklammert werden (Proske 2011, 15).
Dies verweist darauf, dass eine gegebene Unterrichtsstunde nur dann ausreichend charakterisiert ist, wenn sowohl ihre Pädagogizität als auch ihre Sozialität sowie deren gegenseitige Bezugnahmen betrachtet werden.
Vor der Erörterung dieser Aspekte ist zunächst festzuhalten, dass ein insgesamt rekonstruktiver Ansatz für diese Studie notwendig ist, der die Betrachtung des Unterrichts nicht von vornherein auf Aspekte des KL engführt. Aufgrund der fehlenden empirischen Studien in diesem Bereich ist zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht ausgemacht, welche Aspekte der Pädagogizität und Sozialität des Unterrichts sich als wichtig erweisen könnten. Dementsprechend wird insgesamt ein rekonstruktiv-qualitatives Verfahren gewählt.
Wie im vorangegangenen Abschnitt (vgl. Kap. 3.1.1) dargelegt wurde, ist die Frage der Pädagogizität von Unterricht im Kern die Frage nach dessen Gegenständen und Zielen. Gemäß der beiden herausgearbeiteten gesellschaftlichen Funktionen von Unterricht (innovativ vs. konservativ), stehen sich mit der Weitergabe von Kulturbeständen einerseits und der Findung von Lösungen für neue Problemlagen andererseits zwei Zielsetzungen gegenüber. Der gewählte Theorieansatz muss daher erfassen können, inwieweit die Interaktion in einer Unterrichtsstunde eine auf Verständnis, Vermittlung und Aneignung bezogene Verhandlung einer Sache darstellt oder eher als bloße Geschäftigkeit inszeniert wird. Die vorangegangene Analyse hat außerdem gezeigt, dass Unterricht durch die Individualität und Konstruktivität von Lernen sowie durch deren Verschärfungen in der reflexiven Moderne mit einem doppelten Kontingenzproblem auf methodischer und didaktischer Ebene konfrontiert ist. Auch dies muss theoretisch beschreibbar und empirisch rekonstruierbar werden.
Die Frage der Sozialität von Unterricht ist im Kern die Frage nach der Struktur der Interaktion selbst. Bezogen auf die Erziehungsebene des strukturalistischen Modells des Unterrichts und in der Gegenüberstellung der beiden gesellschaftlichen Funktionen von Unterricht könnte man sagen, dass es hier darum geht, inwieweit fremdbestimmte und selbst ausgehandelte Interaktionsstrukturen und Machtverhältnisse einander gegenüberstehen oder miteinander in Konflikt treten. Der gewählte Ansatz sollte also erfassen können, welche sozialen Normen bestehen, woher diese stammen und in welcher Weise sie ggf. ausgehandelt werden und dabei die Aspekte Macht und Herrschaft in den Blick nehmen. Hier ginge es insbesondere darum, durch Rekonstruktion der herrschenden Interaktionsregeln und darin sich manifestierenden Hierarchien herauszuarbeiten, inwieweit Unterwerfung stattfindet und agency entfaltet wird. Mit Foucault gesprochen ginge es darum, Prozesse der Gouvernementalität zu erfassen, mit Butler gesprochen darum, Subjektivation und Resignifikation zu rekonstruieren.
Mit der oben dargestellten stark pointierenden Kontrastierung wird ein Forschungsprogramm formuliert, das in einer einzelnen Studie allein nicht einlösbar ist. Doch auch wenn es also unmöglich sein dürfte, Unterricht in seiner gesamten inhaltlichen und sozialen Komplexität abzubilden, so verfolgt diese Studie dennoch den Anspruch, beide Pole in den Blick zu nehmen und in Bezug auf die Fragestellung in allen untersuchten Unterrichtsstunden zu analysieren. Geht man also von einer untrennbaren Wechselwirkung von Pädagogizität und Sozialität des Unterrichts aus, so wird ein Theorierahmen benötigt, der die interaktionale Konstruktion von Bedeutung – sowohl in Bezug auf inhaltliche Gegenstände als auch auf soziale Beziehungen – theoretisch zu fassen vermag. Dies ist mit dem symbolischen Interaktionismus gegeben. Dessen Grundannahme besagt,
that human beings act towards things on the basis of the meaning the things have for them […]. The second premise is that the meaning of such things is derived from, or arises out of, the social interaction one has with one’s fellows. The third premise is that these meanings are handled in, and modified through, an interpretative process used by the person in dealing with the things he encounters (Blumer 1969, 2).
Die Grundeinheit dieser sozialen Aushandlung von Bedeutung ist die interaktionale Geste (verbal, mimisch, körperlich), die interpretativ eine Bedeutung erhält. Aus dieser Perspektive kann Unterricht – noch vollkommen unspezifisch – als eine Form von Interaktion betrachtet werden, in der durch Bedeutungsaushandlung zwischen Individuen Gegenständen in einem interpretativen Prozess Sinn zugeschrieben wird. Es ist wichtig zu betonen, dass der symbolische Interaktionismus diese Zuschreibung weder intentional versteht noch sie als bewusstseinspflichtig annimmt. Bedeutung und Sinn entstehen zunächst in der Interaktion selbst, und können – müssen aber nicht – von den Individuen reflektiert werden.
Das Konzept von Unterricht als Improvisation (Erickson 1982; Kurtz 2001; Sawyer 2004, 2011) ermöglicht es, die für Unterricht charakteristische Unterscheidung zwischen Pädagogizität und Sozialität theoretisch genauer zu fassen. Unterricht wird darin analog zur symbolisch interaktionistischen Auffassung als Diskurs aufgefasst, in dem Bedeutung ausgehandelt wird. In diesem Diskurs werden – analog zur kommunikationstheoretischen Unterscheidung von Inhalts- und Beziehungsebene – analytisch eine inhaltliche und eine soziale Dimension unterschieden. Die inhaltliche Ebene wird als academic task structure (ATS), die soziale Ebene als social participation structure (SPS) gefasst. Die ATS bildet die logische Struktur der thematisierten Inhalte ab, während die SPS die Verteilung der Rechte diskursiver Teilhabe beschreibt.