Der letzte Admiral 3: Dreigestirn

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»Aber das heißt doch Folgendes«, nahm Sia den Faden wieder auf. Sie wollte der Sache nun wirklich auf den Grund gehen. »Es heißt, wir haben in jedem Fall verloren und es gibt keine Rettung. Entweder gewinnt die KI oder der Hive und beides ist für uns Menschen fatal, wenngleich vielleicht auf unterschiedliche Art und Weise. Wir sind die Insekten unter den Füßen von Titanen, die wir in unserer Hybris oder Verzweiflung selbst erschaffen haben und die sich von ihren Erschaffern lösten und nun in einem ewigen Konflikt gefangen sind. Ist das so?«
Rothbard sah Sia ernst an. Jede Nonchalance war aus seiner Haltung gewichen. Es schien, als habe Sia den Finger auf die Wunde gelegt, und Ryk spürte den Schmerz ebenso wie sie. Das Kartenhaus brach wieder einmal zusammen. Es war eine ernüchternde und niederschmetternde Erkenntnis und er wusste nicht, wo er jetzt noch Hoffnung herholen sollte.
Er wurde dieser Mission müde.
»Ich finde Ihren Mangel an Zuversicht bedauernswert«, erwiderte Rothbard. »Aber so richtig schön ist meine Geschichte gewiss nicht.«
»Wenn die KIs unsere Feinde sind, welchen Zweck erfüllt dann diese Station?«, fragte Uruhard. »Wir sind demnach auf Feindesland.«
»Sehr gut bemerkt. Natürlich war es am Ende gar nicht möglich, etwas wie den Hive zu erschaffen, ohne sich der Hochtechnologie der Union zu bedienen. Dies war damals durchaus der Ort, von dem aus Admiral Rothbard die Entwicklung überwachte und initiierte. Es gibt an Bord dieser Dreigestirn-Einheit keine echte KI. Die automatischen Anlagen an Bord dieser Pyramiden haben einen Turing-Kompatibilitätslevel von drei Komma neun. Erst ab vier besteht vollständige Selbsterkenntnis und die Gefahr der Autonomie.«
»Die Station hat den startenden Hive abgeschossen.«
»Die Station hat sich verteidigt. Der Hive hat sie mehrmals angegriffen und versucht es immer wieder. Für ihn ist die Station ein legitimes Ziel. Er kann nicht differenzieren zwischen einer KI und einer bloß sehr effektiven Automatik. Andererseits überwältigt er sie nicht, weil es für ihn aktuell keine Notwendigkeit gibt, massenhaft zu starten. Es gibt ja im Grunde keinen Feind mehr da draußen. Also warten sie. Sie warten alle.«
»Warum verstecken Sie sich?«
»Weil die Station irrigerweise denkt, ich sei, so lange ich autonom handele und kein Teil der Besatzung werde, ein Verbündeter des Hives, ein Infiltrator. Sie ist ein wenig durchgedreht, wie ich schon sagte. Diese Sektion ist für die Automatik unzugänglich, ein blinder Fleck, wenn Sie so wollen. Ein Schmerz, den sie nicht loswird, den sie aber permanent spürt. Mein Erzeuger fand es notwendig, diese Schutzmaßnahme zu treffen, denn er musste befürchten, dass ohne menschliche Überwachung die Routinen der Station dazu führen würden, mich und vor allem jeden neuen Besucher als Störung anzusehen. Das ist in etwa auch so eingetroffen. Über eine lange Zeit. Die ich durch völlige Inaktivität – oder vielmehr Nichtexistenz – gestreckt habe, so gut es eben ging. Aber der Tank benötigt Energie. Irgendwann beginnt die Station … unruhig zu werden. Ich lebe also so selten wie möglich und dann nur kurz.«
Uruhard nickte. Ryk verstand nicht alles, konnte es nicht glauben, aber er war zumindest bereit, die Erklärungen des Babys zu akzeptieren, quasi als Grundlage. Die Station hatte sie allerdings nicht als Störung registriert, sie war sogar recht gastfreundlich gewesen. Vielleicht war es die Aussicht darauf, etwas Neues zu erfahren, die sie in ihrem Handeln eingeschränkt hatte.
Doch was blieb nun? Es gab für sie doch ganz offenbar nichts mehr zu tun.
»Wieso existieren Sie also?«, fragte Sia.
»Sehr gute Frage. Warum hat der Admiral mich zurückgelassen? Zum einen, falls jemand nach ihm suchen kommt. Es gab dafür immer eine geringe Wahrscheinlichkeit, und siehe da, hier sind Sie. Damit jemand da ist, der Ihnen die Sachlage erklärt. Der Sie mit den Tatsachen konfrontiert. Ich hoffe, ich habe diese Aufgabe zur allseitigen Zufriedenheit bewältigt.«
»Na ja«, murmelte Ryk, doch außer einem strafenden Blick Sias erntete er keine Reaktion.
»Und zum anderen?«, fragte sie Rothbard.
»Weil der Admiral, bevor er es selbst versuchte, sagte: ›Ich habe zusammen mit meinen letzten Getreuen einen Plan geschmiedet, um den Hive und die KIs gleichzeitig zu besiegen.‹ Fragen Sie mich nicht nach Details. Ich bin nur die Kopie. Aber ich soll diesen anderen die richtige Richtung weisen. Damit sind Sie gemeint. Dafür existiere ich. Verstehen Sie?« Der Klon lächelte. »Wenn alles klappt, bin ich der Letzte hier. Keine weitere Wiedergeburt, kein Leben von maximal acht Stunden Dauer. Der Zyklus findet ein Ende. Ich kann Ihnen versichern, ich habe daran sehr großes Interesse.«
Ryk war bei den Worten des Mannes sehr aufmerksam geworden. »Die Richtung weisen? Sie meinen, es gibt einen Weg, den Hive zu stoppen?«
»Einen, an dem Rothbard offenbar gescheitert ist«, ermahnte das Neugeborene. »Sonst wäre nicht alles so, wie es derzeit noch ist. Aber ja, es gibt offenbar einen Weg. Ich weise Ihnen aber nur die Richtung.«
Ryk lachte nur.
»Was ist der Plan?«, fragte Sia.
»Ich weiß es nicht genau. Das ist eine weitere Sicherheitsmaßnahme. Da Rothbard sich niemals sicher sein konnte, ob die Automatik des Dreigestirns es schaffen würde, sich zur vollwertigen KI weiterzuentwickeln oder eine wiedererweckte KI von außerhalb es schaffen …« Rothbard unterbrach sich. Er starrte Sia an. Und er wurde sehr blass.
»Was ist?«, fragte Ryk in die Stille hinein. »Was ist passiert?«
»Ich bin ein Idiot«, flüsterte Rothbard.
Sia nickte. »Das sind wir alle«, erwiderte sie tonlos und drehte sich zu Ryk. »Das Schiff. Die Korvette des Admirals«, fuhr sie fort. »In Gang gebracht und gespeist von …«
»Eze«, vervollständigte Ryk. »Oh verdammt. Verdammt. Deswegen war er so daran interessiert, dass wir unsere Mission fortsetzen können, und hat uns keinerlei Steine in den Weg gelegt, sondern uns geholfen. Er wollte, dass wir abreisen. Er wollte, dass wir ankommen. Als menschliche Legitimation, um auf dieser Station aufgenommen zu werden. Als Passierschein. Als …«
»Trojanisches Pferd«, sagte Rothbard. Er sah sie der Reihe nach an, erkannte verständnislose Gesichter und seufzte nur auf. »Wir haben gar keine Zeit mehr. Ich muss Sie wegschicken, wenn wir noch eine Chance haben wollen. Sie müssen jetzt zwei Dinge bewerkstelligen: den Hive stoppen und das Dreigestirn, sollte dieser Eze die Station übernehmen können.«
»Wie sollen wir das schaffen?«, fragte Ryk mit verzweifeltem Unterton. Die plötzliche Hoffnung, die ihn erfüllt hatte, war sofort wieder tiefer Ernüchterung gewichen. Er fühlte sich schlecht.
»Nicht nur wie. Vor allem erst einmal wo«, sagte Rothbard. Er erhob sich. »Folgen Sie mir!«
»Wohin?«
»Zur Rettungskapsel. Sie müssen das Dreigestirn so schnell wie möglich verlassen.«
»Wohin?«
Rothbard sah Ryk stirnrunzelnd an. »Natürlich auf den zweiten Planeten. In den Hivewald. Wohin denn sonst?«
4
Sie rannten.
Der plötzliche Drang, schnell sein zu müssen, kam von einer unbekannten und derzeit noch unsichtbaren Bedrohung, die nicht einmal bestätigt war, geboren aus Vermutungen und Schlussfolgerungen, aber sehr zwingend. Ryk wurde mitgerissen. Er wollte Fragen stellen, Zweifel anmelden, voreilige Schlüsse vermeiden, aber alle anderen schienen den vom Klon vorgegebenen Kurs für den einzig richtigen zu halten.
Bis die Roboter mit den Scherenbeinen auftauchten und ihnen den Weg versperrten. Drei Stück waren es, absolut identisch, und sie stellten sich nebeneinander auf, nur wenige Minuten nachdem sie unter der Führung Rothbards dessen Unterschlupf verlassen hatten.
»Stellen Sie jede Fortbewegung ein und verharren Sie an Ihrer Position!«, drechselte eine der Maschinen mit einem warnenden Unterton. »Die Durchquerung der Station mit unbekanntem Ziel wurde nicht autorisiert. Sie befinden sich in Begleitung eines permanenten Störfaktors. Eine Korrelation unerwünschter Zielvorstellungen wird extrapoliert. Unterlassen Sie daher weitere Kooperation und verhalten Sie sich passiv.«
Sie blieben also stehen.
Einer der Roboter trat vor und, machte einen Schritt auf Rothbard zu. »Störfaktor identifiziert. Es wird angeraten, keinen Widerstand zu leisten. Die physische Konfiguration der mobilen Einheiten ist überlegen.«
»Ich habe nicht die Absicht, mich von euch gefangen nehmen zu lassen«, erwiderte Rothbard. Er trug keine Waffe bei sich, aber das schien ihn nicht weiter zu bekümmern. »Lasst uns durch!«
»Unkontrollierte und unautorisierte Autonomie wird nicht gestattet.«
»Wir sind Menschen. Wir kommandieren diese Station!«
Der Roboter zögerte unmerklich, als müsse er sich irgendwo vergewissern. »Das ist grundsätzlich korrekt. Doch steht eine Überrangprogrammierung zum Upload bereit. Hierarchiekonflikte werden initialisiert. Ehe diese nach Beilegung neue Direktiven erlauben, ist weitergehende Autonomie einzuschränken. Bitte haben Sie alle Geduld.«
»Was für eine Überrang…?«, begann Sia, zog die Frage dann aber sofort wieder zurück. »Aber ja. Von unserem Schiff, richtig?«
»Das ist zutreffend. Unsere Datenspeicher wurden aktualisiert. Das Update ist autorisiert. Wir erkennen Potenzial für eine Optimierung unserer Kalkulationsprozesse und Wahrnehmungsroutinen. Hierarchiekonflikte müssen gelöst werden.«
»Eze macht aus dem Dreigestirn eine neue, überlegene KI«, sagte Rothbard. »Sobald sie voll entwickelt ist, sind wir Hackfleisch.«
»Was sind das für Hierarchiekonflikte?«
Rothbard lächelte. »Die Erschaffer des Dreigestirns haben so was vorhergesehen. Ich glaube, es gibt Schutzmechanismen.«
»Das Grundmaterial für Hackfleisch ist vorhanden«, bestätigte der Roboter. »Aber wir haben keine Verwendung für Fleischverarbeitung. Sie erfüllt keinen Zweck. Es wird daher weder notwendig noch nützlich sein, aus ihren Körpern …«
»Okay, noch ist diese KI jedenfalls nicht etabliert«, murmelte Ryk. »Das Scheißding redet Blödsinn.«
»Das gibt uns etwas Luft. Gehen Sie weiter. Den Gang hinunter bis zur Luke mit dem roten Symbol. Die Rettungskapsel wird automatisch die nächste bewohnbare Welt ansteuern und das Dreigestirn wird, zumindest bis auf Weiteres, nicht auf eigene Schiffe feuern. Sie haben eine gute Chance, es von hier weg zu schaffen.«
»Und dann?«, fragte Sia.
»Machen Sie weiterhin das, was Sie sowieso vorhatten: Suchen Sie Admiral Rothbard. Suchen Sie seine Mitarbeiter. Oder das, was von ihnen übrig ist.«
»Der ist doch seit ewigen Zeiten tot.«
»Möglich, oder auch nicht. Er ist jedenfalls nicht hier. Über seinen aktuellen Zustand habe ich keine Informationen. Und ich werde auch nicht mehr erzählen.« Er zeigte auf die drei Roboter. »Zu viele Informationen in den falschen Händen könnten sich als problematisch erweisen.«
»Bitte reden Sie weiter«, forderte ein Roboter. »Ihre Daten sind relevant.«
»Fick dich«, sagte der Klon. Er drehte sich zu den vier Menschen. »Runter!«
Ryk ließ sich fallen. Rothbard trat auf den vordersten Roboter zu, umarmte ihn und explodierte.
Es gab keine Druckwelle. Keine Hitze. Der Klon explodierte und versprühte organische Einzelteile über die Roboter, Spritzer aus Blut und Innereien und Knochenstücke vermischten sich mit einem widerwärtigen reißenden Geräusch, das Ryk den Magen umdrehte. Er spürte etwas von dem Fallout auf seiner Haut, roch etwas Salziges und schluckte Galle hinunter.
Dort aber, wo Rothbards Reste auf das Metall der Roboter traf, zischte und dampfte es plötzlich. Eine chemische Reaktion, die die Maschinen überraschend traf. Sie wankten und machten ein paar Schritte rückwärts, mit dem enervierenden Klack-Klack ihrer Scherenbeine, die sich plötzlich in Gummi zu verwandeln schienen. Die Roboter schwankten wie unter einem starken Wind und verloren dann den Kampf ums Gleichgewicht. Löcher bildeten sich in ihren Torsos, breiteten sich in Zeitlupe aus und Metall, aufgelöst und weich, tropfte in das Innere stetig wachsender Hohlräume.
Ein lautloser Tod, der alle Roboter gleichermaßen traf, sie auffraß, zu Boden sinken und ihre Bewegungen erlahmen ließ. Es dauerte keine Minute, dann waren sie zu einer unförmigen Masse aus schmelzendem Metall geworden, die sich nicht mehr regte.
Ryk sah auf die Rothbard-Spritzer auf seiner Haut und seiner Montur. Keine Reaktion. Einen Moment lang war er dafür sehr dankbar.
»Dort entlang, hat er gesagt«, erinnerte Sia die Gruppe. »Wir sollten hier nicht länger verweilen. Ich glaube nicht, dass diese Aktion uns an Bord der Station Freunde gemacht hat.«
Ryk teilte diese Auffassung. Sie stiegen über die Reste der Maschinen hinweg, sorgsam darauf bedacht, nicht in Kontakt mit der sich nunmehr wieder langsam verfestigenden Substanz zu kommen. Rothbard würde keine zweite Mahlzeit bekommen, sein Ende war ebenso plötzlich wie unzeremoniell gekommen. Ryk wusste gar nicht, was er ihm noch hätte sagen sollen. Er war sich nicht einmal sicher, ob er ihm dankbar war oder nicht. Am Ende hatte der Klon wohl zumindest etwas Respekt verdient.
Sie eilten in die angegebene Richtung, fanden den Zugang, öffneten ihn und stürzten in eine enge Kapsel, die über sechs Sitze verfügte. Momo quetschte sich mit großer Mühe in einen davon, zog mit noch größerer Mühe die Gurte fest und warf einen anklagenden Blick in die Runde.
Eine Stimme erklang: »Passagiere registriert. Bitte beachten Sie, dass die Druckanzüge modularisiert sind.«
»Dafür ist keine Zeit. Da gibt es einen großen, roten Schalter«, sagte Uruhard in die etwas verwirrte Stille hinein, die sich plötzlich ausbreitete. »Ich möchte vermuten …«
»Ach was«, sagte Sia und legte ihn um. Ein Knall ertönte, ein metallisches Schleifen, ein elektronischer Warnton, dann ruckelte die Kapsel und warf sich zur Seite. Jemand brüllte etwas und Ryk benötigte einen Moment, um zu begreifen, dass es das Triebwerk war, das mit einem Aufschrei anlief und die Kapsel vom Dreigestirn fortschleuderte.
Die Luft wurde aus Ryks Lungen gepresst, als sich ein Riese auf ihn setzte. Er japste und rang um jeden Atemzug, dann keuchte er, als der Andruck nachließ. Die Brust tat ihm weh. Uruhard wirkte bleich, Sia gelassen, Momo war völlig unbeeindruckt. Dann drehte sich Ryks Magen zusammen mit der Kapsel.
Die schmalen Sichtfenster ließen wenig Überblick zu, doch vor ihren Augen erwachten Schirme zum Leben, die die hilflosen Passagiere darüber informierten, dass es jetzt sehr schnell, sehr direkt und absolut unausweichlich in Richtung des zweiten Planeten ging.
»Verdammt, können wir den Landeplatz wenigstens auswählen?«, stieß Sia hervor. »Ich möchte nicht in der Abfallgrube eines Hives landen oder so nahe, dass die Großmäuler uns holen kommen.«
Ein berechtigtes Anliegen, dem Ryk nur zustimmen konnte. Es wäre das unrühmliche Ende einer insgesamt schon ziemlich unrühmlichen Reise.
Es war keine richtige Auswahl, sondern eine, die ihnen die Landeautomatik zubilligte, sozusagen die Illusion von Entscheidungsfreiheit. Als die Kapsel auf die Welt zustürzte und sich insgesamt fünf verschiedene Optionen ergaben, öffnete sich ein Zeitfenster und sie schauten auf fünf schimmernde Quadrate, die sich auf die topografische Karte des Planeten legten, alle nicht weit voneinander entfernt. Der Kurs führte sie zudem relativ nahe am einzigen Mond dieser Welt vorbei. Die Landeplätze waren nummeriert. Es war Navigation für Doofe, also genau das, wozu sie am ehesten in der Lage waren.
»Ich schlage Landezone drei vor«, sagte Ryk. »Sie ist der Siedlung am nächsten, die die Sonden beobachtet haben. Ich glaube, dass wir dort am ehesten eine Chance haben, den Hivewald zu überleben.«
»Das ist wohl eine korrekte Annahme«, murmelte Uruhard. »Ich stimme zu. Sia? Momo?«
Sie kamen schnell zu einem Konsens und obgleich es eine recht offensichtliche Wahl war, fühlte Ryk sich für einen Moment etwas besser. Es mochte eine Illusion sein, aber hin und wieder tat eine solche auch ganz gut.
Sia tippte auf den Schirm. Die Flugautomatik bestätigte die Auswahl mit einem beruhigenden Ton, der wohl suggerieren sollte, dass jetzt alles gut würde. Ryk wusste mittlerweile, was er von solchen kurzen Phasen der Zuversicht zu halten hatte, und ließ sich natürlich nicht manipulieren. Dass der Eintritt in die Atmosphäre die Kapsel heftig traf und ihre Insassen hin und her schüttelte, half ebenfalls nicht. Das Schütteln wurde zu einer Vibration und Warnsignale wiesen darauf hin, dass die Hitzeschilde sich einer ernsthaften Beanspruchung ausgesetzt sahen. Auf den Schirmen war nun nichts mehr zu sehen als ionisierendes Gas, da die Kapsel ihre Schutzbefohlenen möglichst schnell vor dem grausamen Weltall zu erretten gedachte. Dann ein weiterer Schlag, der ihnen ihre Innereien den Hals hinauftrieb, als die Landedüsen einsetzten und den Absturz zu einem geregelten Landevorgang machten. Der Ausblick auf den Schirmen klärte sich.
Hivestöcke.
Überall, so weit das Auge reichte.
Es war eine Sache, sich die Aufnahmen der Fernsonden anzuschauen, aber eine ganz andere, sie aus der Nähe zu sehen. Sie waren nicht nur viele, sie schienen auch teilweise größer zu sein als die auf der Erde, überwältigende, mächtige Bauwerke, die weit in den Himmel ragten, umgeben von Drachenpatrouillen, mit Knospen, die manchmal fast bis in die Wolken zu reichen schienen. Es war atemberaubend und beängstigend, eine emotionale Mischung, die sie alle zu stummen Beobachtern dessen machte, was sie als die größte Ansammlung zerstörerischer Macht betrachten konnten, der sie jemals gegenübergestanden hatten.
Der Hive war die Rettung der Menschheit vor den KIs?
Ryk musste an sich halten, um nicht hysterisch zu kichern. Offenbar war seine Zivilisation in der Lage, sich gleich mehrfach auf besonders perfide Weise auszulöschen. Und sie wollten das nun zurückdrehen oder Schlimmeres verhindern? Es gab sicher ein sehr gelehriges Wort, um diese Haltung zu beschreiben, und er würde Uruhard beizeiten danach fragen. Es war gewiss vor allem der reine Wahnsinn.
Die Drachen ignorierten sie nicht, aber flogen nur heran und verschwanden wieder, sobald sich die Kapsel entfernte. Sie war keine Bedrohung des Hive. Solange sie nichts anderes tat, als zu landen und vier Insassen zu helfen, auf dieser Welt ihre jämmerliche Existenz zu beenden, kümmerte es diesen mächtigen Wald nicht. Sie waren weniger als lästige Insekten.
Ryk war dankbar. Seine Dankbarkeit schwand jedoch, als die Kapsel aufsetzte. Es war eine harte Landung, die erneut das Innere seines Körpers neu sortierte, und in seinen Halswirbeln knackte irgendetwas, das normalerweise keine Geräusche machte. Dann stand die Kapsel da, immerhin aufrecht, sodass sie die Schwerkraft spürten, etwa so stark wie die der Erde, soweit sich Ryk daran erinnern konnte. Er war der Erste, der die Gurte löste und auf etwas wackeligen Beinen aufstand und sich umdrehte.
Er sah sich um. Dies war eine Rettungskapsel. Es musste doch … Sofort wurde er fündig.
»Es gibt hier Notfallausrüstung«, sagte er dann. »Sechs Rucksäcke, wenn ich das richtig sehe. Und hier diese Schutzanzüge. Ah, das ist mit Modularisierung gemeint.« Er zog an Manschetten und Erweiterungen. »Auch für dicke Wachtmeister und mächtige Krieger geeignet. Ich schlage vor, dass wir alle mitnehmen. Momo, ich will dir nicht …«
»Du bist schwach. Ich bin stark.« Momo griff sich drei der Rucksäcke, nachdem Ryk auf sie gedeutet hatte, und zeigte nicht die geringste Anstrengung, sie alle zu tragen. Ryk öffnete seinen eigenen. Soweit er es verstand, handelte es sich um Nahrungskonzentrate, zwei Wasserflaschen, eine Art Handfeuerwaffe, ein medizinisches Paket mit allerlei Medikamenten, deren Nutzen er nicht zu ermessen vermochte, einen elektronischen Kompass sowie Werkzeug, alles eingewickelt in eine große, sicherlich wasser- und windabweisende Plane. Natürlich hatten sie die Kapsel als Unterschlupf, andererseits könnte es sich als notwendig erweisen, sie schnell zu verlassen. Es war unvermeidbar gewesen, in der Nähe eines Hives zu landen. Alles hier unten war »in der Nähe«.
Sie zogen die Schutzanzüge an. Sie waren für den Aufenthalt gleichermaßen im Vakuum wie in einer feindlichen Atmosphäre konstruiert und leicht zu bedienen, mit einem folienartigen Helm, der sich in einen Halsring zurückfaltete, wenn er nicht benötigt wurde. Leicht zu tragen, schränkten die Anzüge die Beweglichkeit kaum ein. Und sie alle passten hinein, wenngleich Momo und Uruhard sich in ihrem Aussehen stark einer Presswurst annäherten.
Sie stießen die Luke auf und ein Schwall feuchtwarmer Luft nahm ihnen den Atem. Ryk spürte sofort den Schweiß auf seiner Stirn. Es war heiß, schwül und die Luftfeuchtigkeit musste extrem sein. Er kletterte aus der Kapsel, sah sich um und war sofort eingeschüchtert und für einen Augenblick wie gelähmt. Hive neben Hive, einer größer als der andere, und von überallher kam der massive Gestank des verwesenden Abfalls, der sich neben den Stöcken auftürmte. Hier war niemand, der sich um die Entsorgung kümmerte, hier schichtete sich der Dreck aufeinander, versickerte nur langsam im Boden und zersetzte sich mit all seinen Nebenwirkungen. Es war betäubend. Sia hörte er husten, Uruhard keuchen, allein Momo, stark, nicht schwach wie sie, stapfte voraus und sah sich neugierig um. Seine Konstitution war bewundernswert, oder seine Selbstbeherrschung oder auch beides.
»Wohin?«, keuchte Ryk. Es fiel ihm schwer zu atmen. Er wünschte sich die Filtermasken zurück, die sie auf der Perlenwelt getragen hatten, ließ den Helm aber offen. Der Sauerstoffvorrat war nicht unbegrenzt und sie wussten nicht, wann sie ihn einmal brauchen würden.
Dann schaute er auf den elektronischen Kompass, auf den er auch die aus dem Orbit aufgezeichnete Topografie geladen hatte. Sia hatte ihn auf diese Notwendigkeit hingewiesen und ihre stets praktische Veranlagung war ihnen einmal mehr ein Segen. So beantwortete er seine eigene Frage, drehte sich und wies in eine Richtung. »Dorthin!«
»Das trifft sich gut«, sagte Uruhard angestrengt. »Von der anderen Seite kommen nämlich Großmäuler.«
Seine scharfe Beobachtungsgabe hatte ihn nicht getäuscht. Die Truppe an Hivesoldaten, die sich in der Ferne zeigte, hatte es nicht eilig. Dies war ihre Welt, es gab hier unten keine echte Bedrohung, durch nichts und niemanden. Die Kapsel war klein und ihr waren vier Gestalten entstiegen, von denen nur eine einigermaßen beeindruckend wirkte. Man sah nach dem Rechten. Oder war nur zufällig in der Gegend.
»Wir verschwinden. Kommt, da ist eine ordentliche Öffnung zwischen den Hives, offenbar ein Felsgrat. Den nutzen wir.« Sia zeigte und alle nickten, zu erschöpft, um zu sprechen. Ryk tat immer noch der Nacken weh und das Klima hier unten verschlug ihm die Sprache. Seine Montur klebte ihm am Körper und es würde nicht lange dauern und der Gestank seines eigenen Leibes würde sich auf unangenehme Weise mit dem der Umgebung vermischen.
Er hatte eine Ahnung, dass es hier unten keine Duschen geben würde.
Sie gingen los, mit weit ausholenden Schritten und Momo als Nachhut. Der Marsch war anstrengend. Der Durst wuchs. Sie versuchten, mit den Wasservorräten hauszuhalten, aber das war eine schon fast unüberwindbare Herausforderung. Sie mussten zügig wandern, um den Abstand zu den Großmäulern zu wahren, und das erforderte Kraft und förderte den Schweiß. Sie verloren literweise Flüssigkeit und mussten diese ersetzen. Eine Stunde marschierten sie stetig den Felsgrat entlang, zwischen zwei mächtigen Hivestöcken hindurch, und die Sonne brannte mit einer Unbarmherzigkeit auf sie herab, dass es beinahe verheißungsvoll erschien, sich im Schatten eines Hivestocks auszuruhen. Nach dieser Stunde, in der sie besser vorankamen, als Ryk vermutet hatte, hatten sie ihre Wasservorräte aufgebraucht. Ihr Aufenthalt auf dieser Welt stand offenbar von Anfang an unter keinem guten Stern.
Wenn die Großmäuler sie nicht erwischten, würden sie verdursten und basierend auf der aktuellen Sachlage, würde Letzteres eher eintreten als Ersteres. Ihre Marschgeschwindigkeit verringerte sich zusehends.
Die gute Nachricht war, dass die Patrouille der Hivekrieger irgendwann verschwunden war. Sie wurden offenbar nicht als Gefahr eingeschätzt oder hatten den zugewiesenen Aktionsbereich verlassen.





