Der letzte Admiral 3: Dreigestirn

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»Ich … habe die Entfernung wohl unterschätzt«, rang Ryk sich ab, blieb stehen und wischte sich zum wiederholten Male mit einem Tuch den Schweiß ab, was nichts mehr nützte. Der Stoff war nicht mehr in der Lage, die Flüssigkeit aufzunehmen, sodass er die Feuchtigkeit nur auf seiner Haut verteilte und einen schmierigen, unangenehmen Film erzeugte, vermischt mit dem Staub der Umgebung.
»Wir müssen eine Pause machen«, sagte Uruhard.
»Wir können nicht …«, begann Ryk, sah auf das bleiche, nasse Gesicht, dessen Bart eine echte Qual sein musste, hielt inne und nickte.
Sia warf ihm einen bedeutungsvollen Blick zu und zeigte auf einige Felsen, die versprachen, ein wenig Schatten zu spenden. »Wir warten, bis es dunkel wird«, bestimmte sie. »Dann wird es leichter sein, weiterzugehen.«
»Und gefährlicher«, gab Ryk zu bedenken. »Hives schlafen nicht.«
»Das Risiko müssen wir eingehen.«
Sie kauerten sich in den Schatten, soweit man ihn so nennen konnte, und beschlossen übereinstimmend, sich so wenig wie möglich zu bewegen, sondern nur leise vor sich hin zu dünsten. Es war früher Nachmittag, was dazu führte, dass sie noch einige Stunden vor sich hatten, und irgendwann fragte sich Ryk, was wohl schlimmer war: die brennende Hitze mit der bedrückend schwülen Luft oder die in ihm aufwallende Langeweile. Er betrachtete die mageren Daten, die das Datengerät des Anzugs an seinem Arm hervorzubringen in der Lage war. Nicht mit dem Speicher eines Schiffes verbunden waren die Erklärungen aber sehr einsilbig und auf viele Fragen gab es gar keine Antwort mehr. Dass es heiß war, wusste Ryk, auch ohne die Thermometerfunktion zu aktivieren, aber immerhin hatte das Gerät aufgrund ihres Anflugs und der bekannten astrometrischen Daten die Länge des Tages errechnet. Mit sechsundzwanzig Stunden für eine Drehung war man im Bereich Terras und sie alle würden sich problemlos daran gewöhnen.
»Schaut mal«, sagte Momo, der seine eigene Langeweile dadurch bekämpfte, anstatt dauernd auf einen Bildschirm zu starren, lieber die Umgebung zu beobachten. Das war auf der einen Seite sehr altmodisch, aber Ryk fand, dass diese Vorgehensweise ihre Vorteile hatte, vor allem jetzt, da Momo auf die Rauchsäule zeigte, die sich aus dem Hivewald erhob. »Es brennt«, sagte er.
»Ein Anzeichen für Zivilisation?«, mutmaßte Uruhard. »Die Siedlung liegt in der anderen Richtung.«
»Ein Anzeichen für ein Feuer«, erklärte Momo ruhig. Er war nicht die Art von Mensch, die zu voreiligen Schlussfolgerungen tendierte.
Ryk verbarg ein Lächeln. Die Hitze hatte das Potenzial, sie alle sehr reizbar zu machen, und da verbot es sich, über jemanden zu lachen. Außerdem hatte Momo recht: Wer über diesem Feuer seinen Sonntagsbraten röstete, wollte entweder eine Stadt ernähren oder einen beachtlichen Vorrat an Steaks anhäufen.
Was da brannte, und das war immer deutlicher erkennbar, war ein Hive. Durch den dicken Rauch, der in der windstillen Atmosphäre kerzengerade nach oben stieg, sah man immer wieder lange Flammenzungen blecken und aufgrund der beachtlichen Entfernung war anzunehmen, dass dort ein wahres Inferno wütete. Ihre leicht erhöhte Stellung erlaubte ihn einen beinahe unverstellten Blick auf die Feuersbrunst und alle kniffen so lange die Augen zusammen, bis Sia beim Herumwühlen in den Rucksäcken feststellte, dass zur Notfallausrüstung Ferngläser gehörten.
Langeweile empfand niemand mehr, als sie die Optik fokussiert hatten. Das Schauspiel war gleichermaßen erhebend wie erschreckend. Es löste vor allem eine seltsame, intensive Befriedigung in Ryk aus.
»Ja«, hörte er sich murmeln. »Brenn. Lasst es brennen.«
Sein Enthusiasmus wurde nicht kritisiert. Wahrscheinlich hatten die anderen gar nicht richtig zugehört. Sie beobachteten gebannt das Schauspiel.
»Hat den jemand angezündet oder hat der sich spontan selbst entzündet?«, fragte Uruhard. »Ich erinnere mich nicht, dass der Hive brennbar ist. Ich meine, dann hätte man diesen Nachteil doch gewiss im Krieg ausgenützt. Oder weiß jemand von einer Hivefeuerwehr?«
»Nein«, sagte Sia. »Keine Feuerwehr und kein Feuer. Da hat jemand nachgeholfen oder dieser Wald ist die Ursache.«
»Der Wald?«, echote Ryk. »Wieso sollte der Wald etwas damit zu tun haben?«
»Normale Bäume bilden im Wald ein eigenes, genuines Ökosystem«, belehrte ihn Sia und begann wieder, Worte zu verwenden, die er nicht kannte. Es war ärgerlich. »Sie haben eigene Wege der Kommunikation, warnen sich vor Gefahren, tauschen Nährstoffe aus, schützen sich gegenseitig, nutzen Ressourcen gemeinsam. Wir haben bisher nur sehr vereinzelt agierende Hivestöcke kennengelernt, mit großen Entfernungen zwischen ihnen. Warum soll ein dermaßen gedrängter Hivewald nicht anders funktionieren? Ich bin mir dessen sogar fast sicher. Es muss Konsequenzen haben, wenn die Stöcke hier dicht an dicht stehen. Vielleicht stimmt also beides.«
»Beides?«
»Ja.« Sia schien sich für ihren Gedanken mehr und mehr zu erwärmen. »Jemand hat nachgeholfen und dieser Wald ist die Ursache. Ein Kampf um begrenzte Ressourcen. Futterneid. Und da hat jemand den Kürzeren gezogen.« Sie lächelte, was mit schweißnassem Gesicht sehr reizvoll wirkte. »Hive gegen Hive. Die Idee gefällt mir gut.«
Nicht nur ihr. Ryk war mit diesem Erklärungsversuch sehr einverstanden.
Für diese Hypothese sprach auch, dass das Feuer, soweit sie es beobachten konnten, keinesfalls auf die Nachbarhives übergriff. Da war möglicherweise tatsächlich jemand zu gefräßig geworden und wurde von seinen Kumpels nachdrücklich in die Schranken verwiesen. Leider war dies anscheinend ein kontrollierter und kontrollierbarer Prozess, ein diese Welt umfassender Brand, der den Hivewald in einem brutalen und endlosen Flächenbrand in den Abgrund riss, war kein so schlechter Gedanke, egal was der neugeborene Rothbard ihnen über das wahre Problem aufgetischt hatte.
Irgendwann wurde es dunkel. Das Feuer war besonders gut sichtbar, als sich die Lichtverhältnisse verschlechterten. Der brennende Hive schickte immer noch gelegentliche Flammenzungen in den Himmel, wenngleich die Heftigkeit des Brandes nachgelassen zu haben schien. Immerhin half ihnen dieses Fanal bei der Orientierung, denn sie wollten tatsächlich in die entgegengesetzte Richtung, und als die ersten Sterne am klaren Himmel zu blinken begannen, machten sie sich wieder auf den Weg.
Es wurde nicht richtig kühl. Dies war keine Wüste, hier gab es genug, was Wärme speicherte. Auch die Luftfeuchtigkeit war durch die einsetzende Dunkelheit nicht zu beeindrucken. Aber die paar Grad, die es dann doch kühler wurde, brachten etwas Erleichterung, und da sie alle durstig waren, legten sie auch keine so hohe Geschwindigkeit vor, dass vor allem Uruhard gleich wieder schlapp machen würde.
»Es ist nicht mehr weit«, sagte Ryk eine Stunde später nach einem kritischen Blick auf den elektronischen Kompass.
»Wenn es eine Siedlung mitten im Hive ist, dann müsste sie doch ein Warnsystem unterhalten«, fiel Sia ein. Sie blieb unwillkürlich stehen, als hätte ihr diese Erkenntnis den Mut zum Weitergehen genommen. »Ich meine, wie sonst weiß man, ob Großmäuler im Anmarsch sind?«
»Das ist eine mögliche Sichtweise«, erwiderte Uruhard keuchend und blieb neben ihr stehen, dankbar für die Pause. »Andererseits glaube ich nicht, dass hier tatsächlich Lebewesen so nahe am Hive überleben könnten, wenn sie nicht über andere Abwehrmechanismen verfügen – die wir nicht kennen.«
»Ich habe gerade eine schlimme Vorstellung«, sagte Ryk. »Was ist, wenn diese Leute hier in einer eigenen Form von Harmonie mit dem Hive leben? Ihn gar nicht als Feind ansehen, sondern eine Form der Kooperation gefunden haben, die über das bloße Nebeneinanderleben wie auf der Erde hinausgeht?«
Sia sah ihn anerkennend an. Anerkennend und überrascht. »Man nennt das eine Symbiose«, war sie dann wieder sehr hilfreich. »Und dieser Gedanke ist in der Tat erschreckend.«
»Was genau ist daran so erschreckend?«
»Nun, ich denke …«, begann Ryk, unterbrach sich aber sofort. Weder Sia noch Uruhard noch Momo hatten ihre Lippen bewegt. Sie alle standen stocksteif und starrten sich an.
»Wer hat …?«, flüsterte Ryk.
Sie hörten ein Rascheln und dann Schritte. Ein Schatten löste sich aus der schummrigen Dunkelheit, eine schlanke, erkennbar weibliche Gestalt, angetan mit einer Kleidung, die aus Leder zu bestehen schien. Sie trug keine Schuhe. Das lange Haar war hinter dem Kopf zusammengebunden. Sie war etwas größer als Sia, fast so groß wie Ryk, und machte einen neugierigen, keinesfalls alarmierten Eindruck. Dass sie in beiden Händen lange, spitz zulaufende Messer hielt, war gewiss keine böse Absicht.
Zumindest war das Ryks Hoffnung.
Sicherheitshalber hoben sie alle die Hände. Weit weg von den Handfeuerwaffen, die in ihren Rucksäcken gelagert waren. Ob sich das als gute Entscheidung oder schwerwiegender Fehler erweisen würde, zeigte sich jetzt.
Die Frau sah sie neugierig, aber unendlich gelassen an. Sie wähnte sich ganz offensichtlich nicht in Gefahr.
»Ihr sprecht die alte Sprache. Kommt ihr aus Kryv? Ich weiß, dass ihr euch für was Besseres haltet.« Die Frau sah sie abschätzend an. »Eure Kleidung sieht aus wie die Sachen derer aus Kryv. Aber selbst die Tecktecks sind nicht so dumm, nachts durch die Gegend zu laufen und dabei so einen Höllenlärm zu machen wie ihr. Wer seid ihr? Verstoßene? Abweichler? Einfach nur verblödet?«
Ryk runzelte die Stirn. Auf die offensichtliche Idee kam die junge Frau nicht. Verwunderlich war dies gewiss nicht. Hier landeten wahrscheinlich nicht allzu viele Raumschiffe. Er musterte die beiden Messer mit einem gewissen Misstrauen. In Metropole 7 gab es viele gute Messerkämpfer, Ryk war selbst nicht völlig ungeschickt mit der Waffe. Er erkannte an Stellung und Haltung, dass diese Dame in der Lage war, ihnen allen sehr böse zu Leibe zu rücken, wenn sie darauf aus war. Sehr, sehr böse und sehr, sehr blutig.
Das galt es natürlich zu verhindern.
»Wir wollen ehrlich sein«, sagte Uruhard, der gerne mit jungen Frauen sprach. »Wir sind nicht aus Kryv, sind keine Tecktecks und obgleich wir gewiss die eine oder andere blödsinnige Idee mit uns herumtragen, gehören wir zu keiner spezifischen Gruppe von Idioten.«
Die Frau sah ihn abschätzend an und kam offenbar zu dem Schluss, dass zumindest er harmlos war. Momo hielt sich derzeit noch im Hintergrund auf, offenbar darauf bedacht, niemanden zu erschrecken.
»Nicht aus Kryv? Woher dann?«
Uruhard zeigte in den Himmel. »Von da oben. Aus dem Weltall.«
Wenn die junge Frau über diese Vorstellung erschrocken war, hatte sie sich bemerkenswert gut unter Kontrolle. Sie überlegte kurz, die Messer immer noch bereit, aber nicht so angespannt, dass Ryk einen unmittelbar bevorstehenden Angriff vermuten musste.
»Im Ernst?«
»Ganz im Ernst.«
»Hm.«
Sie steckte die Messer weg. Ihre Menschenkenntnis war gut. Diese vier hier waren keine Bedrohung für sie.
»Kommt mit. Ihr solltet mit den Skrutinatoren reden. Sie werden wissen, was wir mit euch anfangen können. Wenn ihr mitkommen wollt.« Sie lächelte schwach. »Ihr könnt auch weiter im Wald rumlaufen. Mal gucken, wie lange ihr das durchhaltet.«
»Wir würden eine gastliche Aufnahme bevorzugen«, sagte Uruhard. »Wir sind zu viert.«
»Ja. Drei wie ihr und ein wandelnder Berg. Ist er zahm?«
»Ich bin kein Tier!«, grollte Momo leise. Das war der Moment, in dem die junge Frau kurz zusammenzuckte. Sie hatte den Defo tatsächlich nicht für einen Menschen gehalten. Aber sie konnte verdammt gut im Dunkeln sehen.
»Wirklich nicht aus Kryv«, murmelte sie. »Folgt mir.«
»Wir haben großen Durst«, sagte Ryk, dem die trockene Zunge beinahe im Mund zerbröselte.
»Hier ist überall Wasser!«, erwiderte die junge Frau verwundert. »Da könnt ihr graben. Da auch. Überall Wasser.« Sie schüttelte den Kopf. »Ihr seid nicht von hier, das sehe ich nun. Mein Name ist Dalia, ich komme aus dem Dorf.«
»Das Dorf hat keinen Namen?«
»Es gibt nur das eine, mit seinen kleineren Ablegern. Und Kryv.« Dalia lächelte ob Ryks Frage. »Die Auswahlmöglichkeiten sind hier wirklich begrenzt.«
Dann drehte sie sich um und wanderte los, ohne sich umzusehen oder zu vergewissern, ob die Eingeladenen ihrer Aufforderung nun Folge leisten würden oder nicht.
Alle beeilten sich, den Kontakt mit ihr nicht zu verlieren.
Überall war Wasser? Das mochte sein. In ihren Bäuchen war jedenfalls keines mehr.
5
Sie vertrauten sich Dalia an und fuhren damit ganz gut.
Sie hätten nun, da es richtig dunkel war und mancher Hive den Sternenhimmel verdeckte, den Weg niemals gefunden und wären möglicherweise am Dorf vorbeigelaufen, ohne es zu merken. Es flackerten einige Nachtlichter, die man leicht hätte übersehen können. Dalia aber kannte sich aus und als sie die Siedlung erreicht hatten, waren sie alle sehr müde, sehr durstig und sehr überwältigt.
Egal wie schlecht es ihnen ging, der Anblick von hier unten, aus direkter Nähe, war noch einmal etwas ganz anderes.
Die Menschen hier lebten nämlich in einem ausgehöhlten Hive. Es gab Gebäude links und rechts, an das Monstrum geschmiegt, aber es wurde rasch deutlich, dass sich das meiste Leben tatsächlich in seinem Inneren abspielte.
Das war beeindruckend.
Eine Galerie aus Holz führte außen spiralförmig am dunklen Stumpf empor. Der Hive war keiner der ganz großen, vielleicht dreiviertel von dem, der neben Metropole 7 stand, und er roch auch nicht so streng. Hier gab es keine Jauchegrube. Und die benachbarten Stöcke waren jeder fast einen Kilometer entfernt, hatte ihnen Dalia erklärt. Ihr Staunen hatte sie entweder erfreut oder amüsiert, so genau war das in der Dunkelheit nicht zu erkennen.
Sie führte sie die Treppe hinauf, einmal halb um den mächtigen, toten Hive herum, bis sie an einen Eingang kamen, vor dem eine Nachtwache stand und Dalia herzlich begrüßte. Es folgte eine schnelle Abfolge von Worten, die aus einer Sprache stammten, die offenbar nicht »alt« war und damit für Ryk und die Seinen völlig unverständlich. Als sich die Tür öffnete, fiel Licht ins Freie. Zivilisation. Obdach. Sicherheit. Wasser. Vor allem Wasser.
Ein großer Raum offenbarte sich ihnen, einem Schankraum nicht unähnlich. Zwei Männer, zwei Frauen, alle mit Messern bewaffnet und plötzlich sehr aufmerksam und angespannt. Wieder sagte Dalia einige Worte und es kehrte ein wenig Ruhe ein, aber die Aufmerksamkeit blieb.
»Die Nachtwache«, stellte Dalia die Gruppe vor. »Skell, bring unseren Gästen Wasser.«
Skell, dem Aussehen nach der Jüngste in der Gruppe, erhob sich klaglos, während die Neuankömmlinge sich hinsetzten. Nur Momo traute den Holzstühlen nicht und blieb stehen. Er zog furchtsame Blicke auf sich, ein Gefühl, das er gewiss gut kannte. Das Wasser, fast einen Eimer voll, nahm er dennoch mit Dankbarkeit und der ihm eigenen Demut entgegen.
»Besucher aus Kryv?«, fragte einer der anderen. Er verwendete höflicherweise die alte Sprache, was Ryk anerkennend zur Kenntnis nahm. Dalia hatte ihn gewiss darauf hingewiesen.
»Nein, Xander. Sie sagen, sie kämen von den Sternen.«
»Ah.« Wieder diese eher indifferente Reaktion. Es schien sich nicht um eine völlig absurde Vorstellung zu handeln, oder man hielt sie schlicht für etwas verrückt. Ryk setzte sich, streckte die schmerzenden Beine aus, trank Wasser, bis er genug hatte, und fühlte sich mit einem Schlag sehr müde. Ob die Gastfreundschaft über die Versorgung mit Flüssigkeit hinausreichte? Es war so viel spaßiger, auf die bereits bestehenden Missverständnisse weitere aufzuhäufen, wenn man ausgeschlafen war.
In der Tat ließ die Gastlichkeit ihrer Gönner nichts zu wünschen übrig. Als der Nachtwache klar wurde, dass die erschöpften Besucher nicht viel zu einem Gespräch beizutragen hatten, wurden ihnen in einem Schlafsaal Betten zugewiesen, die in die dicke Borke des Hives gemeißelt worden waren. Sogar Momo fand darin mit angezogenen Beinen Platz. Sie wuschen sich behelfsmäßig mit Schüsseln voller warmem Wasser und legten sich hin. Ryk benötigte keine Minute, um in einen tiefen und erleichterten Schlaf zu fallen.
Als er wieder erwachte, merkte er erst richtig, dass die Luft im Inneren des toten Hives alles andere als schwül und stickig war. Tatsächlich war sie angenehm kühl und Ryk genoss dieses Gefühl. Er hatte damit gerechnet, schweißgebadet zu erwachen, malträtiert durch einen unruhigen Schlaf, aber das Gegenteil war der Fall. Er richtete sich auf, sah sich um und bemerkte, dass die anderen schon auf waren und ihn hatten ruhen lassen. Das war auf der einen Seite sehr nett, auf der anderen aber auch etwas traurig, zeigte es doch, dass seine Anwesenheit nicht wirklich erforderlich war. Getrieben von dem Bedürfnis, nichts zu verpassen, schwang er seine Beine aus dem Bett, unterzog sich einer vielleicht etwas zu oberflächlichen Morgentoilette und betrat dann den Wachraum der Nachtwache, von der nur noch Dalia anwesend war. Stattdessen war eine Gruppe von anderen Wachleuten eingetroffen, zweifelsohne die Tagesschicht, sowie drei weitere, ältere Personen, die Ryk alle auf die eine oder andere Weise an Uruhard erinnerten.
Ryk hatte spätestens seit seiner Begegnung mit Ritas Großvater auf der Perlenwelt gemerkt, dass Menschen mit fortgeschrittenem Alter nicht notwendigerweise klüger oder einsichtiger wurden als jüngere. Viele waren verbohrt, unbeweglich, getrieben von den Geistern ihrer Vergangenheit, gefangen im ewigen Rückblick. Er war daher nicht bereit, dem ehrwürdig dreinschauenden Gremium mehr als nur einen sehr übersichtlichen Vertrauensvorschuss zu geben.
»Ah, Ryk«, begrüßte Sia ihn lächelnd. Sie schob ihm einen Holzteller zu, in dem eine Art Porridge vor sich hin dampfte. Dann gab sie ihm einen Löffel. »Ist lecker und pappt einem übel den Magen zu. Da drüben ist frisches Trinkwasser.« Ein zugepappter Magen erschien Ryk spontan verheißungsvoll, denn sobald er den süßlichen Duft des Getreidebreis wahrnahm, machte sich sein Bauch mit einem schmerzhaft intensiven Hungergefühl bemerkbar.
»Du hast nichts verpasst. Die drei da haben bisher nur Small Talk betrieben. Alle warten auf den Chef der Skrutinatoren.«
»Was sind das für Leute?«
»So was Ähnliches wie die Regierung dieser Siedlung. Sie sind vor allem damit befasst, Situationen und Personen zu bewerten. Es gibt offenbar Aufnahmekriterien für diesen Ort.«
»Wir wollen uns hier doch nicht ansiedeln?« Ryk stopfte sich den ersten Löffel Porridge in den Mund und genoss ihn. Er war nicht zu schleimig und hatte eine angenehme, unaufdringliche Süße, die sogleich seinen Appetit anregte. Zumindest dieses Frühstück war ein Anreiz, länger zu bleiben.
»Wir haben vielleicht keine Alternative«, murmelte Sia. Ryk nickte, schwieg und aß.
Uruhard plauderte mit den drei Alten und soweit Ryk es mitbekam, ging es nur um allgemeine Eindrücke, vor allem um die Frage, wie es gelingen konnte, in einem toten Hive zu leben. Er erfuhr, dass es relativ leicht war, von einem solchen Besitz zu ergreifen, wenn er erst ausgebrannt war, ein Hinweis darauf, dass das von ihnen letzte Nacht beobachtete Phänomen keine Seltenheit war. Noch etwas fiel ihm auf: So freundlich und mitteilsam die drei auch waren, ihre Blicke fielen immer wieder auf Sia. Er wusste nicht, ob die anderen es ebenso bemerkten, aber Uruhard wurde nur mit eher höflicher Aufmerksamkeit bedacht, was diesen aber nicht weiter zu stören schien.
»Die haben nur Augen für dich«, sagte er leise zwischen zwei Löffeln Porridge.
»Ja. Seit sie hier aufgetaucht sind«, gab Sia leise zurück. Es war ihr natürlich aufgefallen. Wie hätte er auch anderes annehmen können?
»Du bist eine Schönheit«, versuchte er, eine nette Erklärung zu finden. Sia lächelte dünn, würdigte Ryks Bemerkung aber nicht einmal einer Antwort. Sie ahnten wohl beide, dass das aller Wahrscheinlichkeit nach nicht die Erklärung war. Die wackere Dalia, obgleich erkennbar müde, sah bei hellem Licht betrachtet auch sehr gut aus, sie wurde von den drei Alten aber weitgehend ignoriert.
Dann trat diejenige ein, auf die sie alle gewartet hatten.
Und ohne ein weiteres Wort sprechen zu müssen, wurde Ryk klar, warum Sia so intensiv gemustert worden war.
Denn die alte Frau, die sich mit mühsamen Schritten in den Raum schleppte, machte dabei Geräusche. Es war nicht das Stöhnen eines geplagten Körpers, erschöpft von der Last der Jahre und der Anstrengung der Fortbewegung, kein Seufzen oder Keuchen. Nichts dergleichen kam über die Lippen der fragilen Gestalt. Mit den weißen Spinnenweben als Haupthaar und der fleckigen, fast durchsichtigen Haut war sie beinahe das weibliche Gegenstück zu Ritas Großvater, an den niemand hier gerne zurückdachte.
Das Geräusch, das sie hörten, war ein singendes. Ryk kannte es. Es war das eines sich anstrengenden Elektromotors, verbunden mit einer Hydraulik. Er kannte das Geräusch, denn in Extremsituationen war es auch aus Sias Leib hörbar, es war die Quelle der großen Kraft, die in ihren schlanken Gliedmaßen steckte. Sia war auf dem aktuellen Stand irdischer Technik, was auch immer davon noch übrig war, unterlag ständiger Wartung und war auf der Perlenwelt, als sie noch in Gnaden der Auri gestanden hatten, überprüft und verbessert worden. Danach war sie noch einmal in der Krankenstation der Korvette gewesen, die manches chronische Leid aus ihrem Körper hatte verbannen können. Sie war eine funktionierende, verbesserte und junge Hybride.
Ein Luxus, den die alte Frau schon lange nicht mehr genossen hatte. Soweit ihre Haut zu erkennen war, schien diese grün und blau geschlagen, mit Flecken und Wunden, die wenig mit ihrem Alter zu tun hatten, sondern mit dem, was Sia selbst trocken »verpasste Werkstatttermine« nannte. Die Geräusche, die ihr biomechanischer Hybridkörper von sich gab, ließen nur ein Urteil zu und Sias erschrockenem Gesichtsausdruck war anzusehen, dass sie zu einem ähnlichen Schluss gekommen war: Die alte Dame, wie sehr sie auch um Würde rang, um aufrechten Gang, die traurigen, mitleidigen Blicke ignorierend, pfiff aus dem letzten Loch, und das leider nicht einmal im übertragenen Sinne.
Sie war eine Hybride.
Und sie stand am Ende ihres Weges.
Sias und ihre Blicke trafen sich. Sia stand auf und ging auf die Dame zu, die angetan war mit einem weiten Kleid aus einem unbekannten Stoff, dunkelgrün, ohne Muster, ein Zelt, in dem sie beinahe verschwand und das hoffentlich nicht so schwer war, wie es aussah.
»Ich bin Sia.«
Die alte Frau starrte sie an und schien jedes Detail ihres Körpers, jede elegante und kraftvolle Bewegung der Jüngeren mit einer Mischung aus Unglauben und Faszination aufzunehmen. Sie bewegte ihre Lippen, ohne ein Wort zu sagen, als wollte sie erst einmal üben. Dann sprach sie.
»Mein Name ist Cenn. Ich habe nicht mehr damit gerechnet, eine zu treffen, die wie ich ist. Was für ein wunderschöner, wunderschöner Anblick. Und zugleich so erschreckend.«
Cenns Stimme, leise, wie knisterndes Papier, brach zum Ende hin, überwältigt von einer Rührung, die den zerbrechlichen Leib wie eine Welle zu durchfluten schien.
Sia reichte Cenn die Hand, diese ergriff sie und sofort übernahm Sia es, die alte Frau zu stützen.
»Wir setzen uns«, sagte Cenn, die Stimme etwas gefasster.
Sie taten es, eine langwierige Prozedur unter dem Singen des Elektromotors und unter Beanspruchung von Gelenken, für die bereits alles zu viel war. Cenns Gesicht blieb beinahe ausdruckslos, nur kurz zuckten die Mundwinkel, blinzelten die blassen Augen. Ryk kannte diese Anzeichen, er kannte sie gut aus Sias perfektem Antlitz, wenn der momentane Schmerz der Implantate, des Metalls in der Haut überwältigend schien. Es war jetzt viel besser, seit der Perlenwelt und dem Autodoc der Korvette, weniger Zucken und kein leises, nur nachlässig unterdrücktes Stöhnen mehr. Ein Segen für Sia und einer, den Ryk in diesem Moment von Herzen der alten Frau wünschte.
»Es tut mir so leid«, sagte Cenn. Sie hatte mit beiden Händen Sias Rechte ergriffen und drückte diese fest.
»Was tut Ihnen leid?«, fragte Sia etwas verwirrt.
Cenn teilte diese Verwirrung nun, das war ihr anzusehen. Sie war tatsächlich davon ausgegangen, dass Sia ihre Bemerkung ohne weitere Erklärungen verstand. »Was? Mein Kind. Das, was sie dir angetan haben. Das Leid, die Qualen, die Entbehrungen. Die vielen falschen Versprechungen. Dein Leben muss eine Folter sein, jede Bewegung voller Schmerz. Die ganzen Prozeduren eine Abfolge permanenter Entwürdigung. Nicht mehr die Herrin über den eigenen Körper, sondern Werkzeug jener, die dich missbrauchen. Ich weiß genau, wie du dich fühlen musst, mein Kind. Mein ganzes Leben lang habe ich nichts anderes erlebt.« Sie senkte die Stimme zu einem kaum noch vernehmbaren Wispern. »So bin ich aus Kryv geflohen und das war alles, was ich an Widerstand leisten konnte. Ich entzog mich ihrer Macht und jetzt sitzen sie da, denn ihre einzige Blaupause ist davongelaufen und sie können keine wie mich mehr quälen.« Sie sah Sia intensiv an. »Gib ihnen niemals diese Macht zurück, mein Engelchen. Das musst du mir versprechen.«





