Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union

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[31] Die 2007 einberufene Regierungskonferenz hatte somit nur wenig eigenen Handlungsspielraum und war lediglich ermächtigt, die gewünschten Änderungen technisch umzusetzen. Die Arbeiten der Regierungskonferenz konnten so bereits am 18./19. Oktober 2007 beendet werden; sie wurden auf dem zu gleicher Zeit in Lissabon stattfindenden informellen Treffen des Europäischen Rates politisch abgesegnet. Der Vertrag wurde schließlich am 13. Dezember 2007 von den Staats- und Regierungschefs der damals noch 27 Mitgliedstaaten der EU in Lissabon feierlich unterzeichnet.
[32] Allerdings gestaltete sich auch das Ratifizierungsverfahren dieses Vertrages äußerst schwierig. Zwar nahm der Vertrag von Lissabon, anders noch als der Verfassungsvertrag, die Ratifizierungshürden in Frankreich und den Niederlanden, jedoch scheiterte die Ratifizierung zunächst in Irland in einem ersten Referendum am 12. Juni 2008 (53,4 % Neinstimmen bei 53,1 % Beteiligung). Erst nach Abgabe einiger rechtlicher Zusicherungen über die (begrenzte) Tragweite des neuen Vertragswerkes stimmten die Bürger in Irland im Oktober 2009 in einem zweiten Referendum dem Vertrag von Lissabon zu (67,1 % bei 59 % Beteiligung). Der erfolgreiche Ausgang des Referendums in Irland machte zudem auch den Weg der Ratifizierung des Vertrages von Lissabon in Polen und der Tschechischen Republik frei, wo die Ratifizierung von dem erfolgreichen Ausgang des irischen Referendums abhängig gemacht worden war. Der Vertrag von Lissabon konnte schliesslich am 1. Dezember 2009 in Kraft treten.
[33] Durch den Vertrag von Lissabon werden die Europäische Union und die Europäische Gemeinschaft zur einzigen Europäischen Union verschmolzen. Der Ausdruck „Gemeinschaft“ wird durchgängig durch den Ausdruck „Union“ ersetzt. Die Union tritt an die Stelle der Europäischen Gemeinschaft und wird deren Nachfolgerin. Mit dem Vertrag von Lissabon wird außerdem das „Drei-Säulen-Modell“ der EU aufgegeben. Die erste Säule, bestehend im Wesentlichen aus dem Binnenmarkt und den EG-Politiken, wird verschmolzen mit der zweiten Säule, bestehend aus der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, und der dritten Säule, bestehend aus der Polizeilichen[S. 53] und Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen. Allerdings bleiben die besonderen Verfahren im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, einschließlich der Europäischen Verteidigung, in Kraft; dem Vertrag beigefügte Erklärungen der Regierungskonferenz unterstreichen den spezifischen Charakter und die besondere Verantwortung der Mitgliedstaaten für diesen Politikbereich.
Weiterführende Literatur: Berg/Karpenstein, Änderungen der rechtlichen Grundlagen der EU durch den Vertrag von Amsterdam, EWS 1998, S. 77; Blanke, Der Unionsvertrag von Maastricht – Ein Schritt auf dem Weg zu einem europäischen Bundesstaat?, DÖV 1993, S. 412; Bleckmann, Der Vertrag über die Europäische Union, DVBl. 1992, S. 335; Borchmann, Der Vertrag von Nizza, EuZW 2001, S. 170; Breus/Fink/Griller, Vom Schuman-Plan zum Vertrag von Amsterdam. Entstehung und Zukunft der Europäischen Union, 2000; Fischer, Der Vertrag von Nizza. Text und Kommentar, 2001; Fischer, K.H., Der Vertrag von Lissabon, Text und Kommentar zum Europäischen Reformvertrag, 2008; Glaesner, Die Einheitliche Europäische Akte, EuR 1986, S. 119; Henrichs, Der Vertrag über die Europäische Union und seine Auswirkungen auf die Verfassungen der Mitgliedstaaten; DÖV 1994, S. 368; Hilf/Pache, Der Vertrag von Amsterdam, NJW 1998, S. 705; Hummer (Hrsg.), Rechtsfragen in der Anwendung des Amsterdamer Vertrages, 2001; Kadelbach (Hrsg.), Europäische Verfassung und direkte Demokratie, 2005; Karpenstein, Der Vertrag von Amsterdam im Lichte der Maastricht-Entscheidung des BVerfG, DVBl. 1998, S. 942; Kuschnik, Integration in Staatenverbindungen vom 19. Jahrhundert bis zur EU nach dem Vertrag von Amsterdam, 1999; Lecheler, Die Fortentwicklung des Rechts der Europäischen Union durch den Amsterdamer Vertrag, JuS 1998, S. 392; Lieb/Maurer, Der Vertrag von Lissabon, Kurzkommentar, 3. Aufl. Berlin 2009; Magiera, Die Einheitliche Europäische Akte und die Fortentwicklung der EG zur Europäischen Union, in GS Geck, 1989, S. 509; Sattler, Die Entwicklung der EG vom Ende der Übergangszeit bis zur Erweiterung auf zwölf Mitgliedstaaten, JöR 1987, S. 365; Schmidt, Europäische Union, 2005; Schuppert/ Pernice/Haltern, Europawissenschaft 2005; Schwarze/Hatje (Hrsg.), Der Reformvertrag von Lissabon, EuR Beiheft 1/2009; Seidel, Zur Verfassung der Europäischen Gemeinschaften nach Maastricht EuR 1992, S. 125; Streinz, Der Vertrag von Amsterdam. Einführung in die Reform des Unionsvertrags von Maastricht und erste Bewertung der Ergebnisse, EuZW 1998, S. 137; Vedder/Heintschel, Europäischer Verfassungsvertrag, 2005; Wittinger, Der Europarat: Die Entwicklung seines Rechts und der „europäischen Verfassungswerte“, 2005.
C. Mitgliedschaft, Beitritt und Assoziierung
I. Die Gründerstaaten der Europäischen Gemeinschaften
[34] Auch wenn die erste Europäische Gemeinschaft, die EGKS, in erster Linie die institutionelle Vereinigung der deutschen und französischen Kohle- und Stahlindustrie zum Ziel hatte, war diese Verbindung zu keiner Zeit als ein deutsch-französischer Sonderweg konzipiert, sondern stand allen demokratisch verfassten Staaten Europas offen36. Diese Möglichkeit nahmen Belgien, Italien, Luxemburg und die Niederlande wahr, die zusammen mit der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich 1952 zunächst die EGKS und im Anschluss daran im Jahre 1957 auch die EWG und die EAG gründeten.
[S. 54]
II. Die Beitrittsgeschichte
1. Der Beitritt des Vereinigten Königreichs, Irlands und Dänemarks
[35] Bereits im August 1961 stellte das Vereinigte Königreich einen ersten offiziellen Antrag, mit dem es sich um die Vollmitgliedschaft in der E(W)G bewarb. Dänemark, Norwegen und Irland sind diesem Beispiel gefolgt. Der Beitritt dieser Länder scheiterte zunächst jedoch an dem Widerstand des französischen Staatspräsidenten de Gaulle, der mitten in den Verhandlungen im Jahre 1963 aufgrund seines Misstrauens gegenüber der Beitrittskandidatur des Vereinigten Königreichs erklärte, dass er keine Fortsetzung der Verhandlungen wünsche. Auch der zweite britische Antrag auf Mitgliedschaft in der E(W)G aus dem Jahre 1967, dem sich abermals Irland, Dänemark und Norwegen anschlossen, konnte zunächst aufgrund französischen Zögerns nicht positiv beschieden werden. Der endgültige Durchbruch der Frage des Beitritts dieser Länder konnte erst nach dem Rücktritt de Gaulles im April 1969 auf der noch in demselben Jahr abgehaltenen Konferenz der Staats- und Regierungschefs in Den Haag erzielt werden. Nach langwierigen Verhandlungen wurden die Beitrittsverträge schließlich am 22. Januar 1972 unterzeichnet. Der Beitritt des Vereinigten Königreichs, Irlands und Dänemarks konnte nach erfolgreicher Durchführung einer Volksabstimmung (Irland und Dänemark) und der Ratifizierung durch die Parlamente (Vereinigtes Königreich, Irland und Dänemark) zum 1. Januar 1973 vollzogen werden. In Norwegen scheiterte der Beitritt in einer Volksabstimmung, in welcher sich 53,49 % der norwegischen Bevölkerung gegen einen Beitritt ihres Landes zur E(W)G ausgesprochen hatten.
2. Der Beitritt Griechenlands, Spaniens und Portugals
[36] Nach der Rückkehr zur Demokratie wurden zunächst Griechenland (zum 1. Januar 1981) als zehntes Mitglied und danach Spanien und Portugal (zum 1. Januar 1986) als elftes und zwölftes Mitglied in die EG aufgenommen.
3. Die Eingliederung der früheren DDR
[37] Die Herstellung der Einheit Deutschlands hat mit Wirkung vom 3. Oktober 1990 zur Eingliederung der früheren DDR in die EG geführt, nachdem die Staats- und Regierungschefs der EG bereits am 28. April 1990 in Dublin festgestellt hatten, dass hierfür lediglich einige Anpassungen, nicht aber das eigentliche Beitrittsverfahren erforderlich seien.
[S. 55]
4. Der Beitritt Österreichs, Finnlands und Schwedens
[38] Im Zuge der Vollendung des europäischen Binnenmarktes hatte die EG weiter an Attraktivität gewonnen. Das Binnenmarktkonzept und die mit dem Vertrag über die EU eingeleitete Entwicklung in Richtung auf eine politische Union haben den anderen europäischen Staaten die Überzeugung vermittelt, dass das europäische Einigungswerk in eine neue Dimension vorstößt und dass es besser wäre, an der konkreten Ausformung der neuen Ordnung aktiv und gleichberechtigt mitzuwirken, als sich in einem späteren Stadium in bereits verfestigte Strukturen einpassen zu müssen.
Vor diesem Hintergrund wurden konkrete Beitrittsverhandlungen mit Österreich, Finnland, Schweden und Norwegen aufgenommen und im Jahre 1994 zu einem Abschluss geführt.
Im Sommer/Herbst 1994 wurden in den Ländern der Beitrittskandidaten Volksabstimmungen über die Frage des Beitritts durchgeführt. Während sich die Bürger in Österreich, Finnland und Schweden mehrheitlich für einen Beitritt ihrer Länder zur EU ausgesprochen haben, lehnte die Bevölkerung Norwegens – wie bereits im Jahre 1972 – die Mitgliedschaft ihres Landes in der EU mit 52,4 % der Stimmen ab.
Mit dem Beitritt Österreichs, Finnlands und Schwedens am 1. Januar 1995 erhöhte sich die Zahl der Mitgliedsländer in der EU auf 15.
5. Der Beitritt von zehn ost- und mitteleuropäischen Staaten sowie Malta, Zypern und Kroatien
[39] Am 1. Mai 2004 traten der EU zehn neue Länder bei: die baltischen Staaten und ehemaligen Sowjetrepubliken Estland, Lettland und Litauen, die ost- und mitteleuropäischen Staaten Polen, Ungarn, Tschechische Republik und Slowakische Republik, die ehemalige jugoslawische Republik Slowenien sowie die zwei Mittelmeerinseln Zypern und Malta. Nur gut zwei Jahre später wurde mit dem Beitritt Bulgariens und Rumäniens zum 1. Januar 2007 die Osterweiterung vorläufig abgeschlossen. Jüngstes Mitglied der EU wurde zum 1. Juli 2013 Kroatien, dessen Bürger sich am 22. Januar 2012 in einem Referendum mit 66 % für den Beitritt ausgesprochen haben (bei allerdings nur 43,6 % Beteiligung). Damit vergrößerte sich die Zahl der Mitgliedstaaten der EU von 15 auf 28, und die Zahl der Unionsbürger wuchs auf 512,6 Millionen.
Diese historische Erweiterung der EU bildet den Höhepunkt eines langen Prozesses, der die Wiedervereinigung der über ein halbes Jahrhundert durch den Eisernen Vorhang getrennten europäischen Völker ermöglicht hat. Hinter dieser Erweiterung der EU steht vor allem der Wille, Frieden, Stabilität und wirtschaftlichen Wohlstand auf einem vereinten europäischen Kontinent herbeizuführen.
6. Weitere Beitrittsverhandlungen
a) Beitrittskriterien und Beitrittsverfahren
[40] Die EU steht auch weiteren Staaten zum Beitritt offen, sofern diese die vom Europäischen Rat 1993 in Kopenhagen festgelegten Beitrittskriterien erfüllen:
• Politische Kriterien: Stabilität der Institutionen, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Garantie der Menschenrechte sowie Achtung und Schutz der Minderheiten.
[S. 56]
• Wirtschaftliche Kriterien: Die Existenz einer funktionierenden Marktwirtschaft, die dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften in der EU standhält.
• Rechtliche Kriterien: Die Fähigkeit zur Übernahme der mit der Mitgliedschaft in der EU verbundenen Pflichten, einschließlich des Einverständnisses mit den Zielen der Politischen Union sowie der Wirtschafts- und Währungsunion.
[41] Das Verfahren des Beitritts hat drei Stufen, die von allen derzeitigen Mitgliedsländern der EU genehmigt werden müssen:
(1) Einem Land wird die Perspektive der Mitgliedschaft eröffnet, d.h. es erhält den offiziellen Kandidatenstatus, sobald es die Beitrittsvoraussetzungen erfüllt.
(2) Ein Land erhält den offiziellen Status als Kandidatenland für die Mitgliedschaft, was jedoch noch nicht heißt, dass offizielle Verhandlungen eingeleitet werden.
(3) Mit dem Kandidatenland werden formelle Beitrittsverhandlungen aufgenommen, in denen die Modalitäten und Verfahren zur Übernahme der jeweils geltenden EU-Rechtsvorschriften vereinbart werden.
Wenn die Verhandlungen und begleitenden Reformen zur Zufriedenheit beider Seiten abgeschlossen sind, werden die Ergebnisse und die Bedingungen für den Beitritt in einem Beitrittsvertrag niedergelegt. Diesem Beitrittsvertrag muss zunächst das EP mit der absoluten Mehrheit seiner Mitglieder zustimmen. Danach muss der Rat zustimmen, und zwar mit Einstimmigkeit. Die Unterzeichnung des Beitrittsvertrags obliegt dann den Staats- und Regierungschefs der EU und des Beitrittslandes. Jeder Beitrittsvertrag muss danach von den Mitgliedstaaten der EU und dem Beitrittsland nach den jeweiligen verfassungsrechtlichen Bestimmungen „ratifiziert“ werden. Mit der Hinterlegung der Ratifikationsurkunden ist das Beitrittsverfahren abgeschlossen und der Beitrittsvertrag tritt in Kraft. Das Beitrittsland wird dann zum Mitgliedstaat.
b) Kandidatenländer
[42] (1) Island ist durch seine Zugehörigkeit zum EWR seit 1994 sowie zum Schengen-Raum (2000) bereits eng mit der EU verbunden. Im Rahmen der Bekämpfung der Finanzkrise des Jahres 2008 mit dem Zusammenbruch des isländischen Bankensystems hat Island im Juli 2009 beim Rat den Antrag auf den Beitritt zur EU gestellt. Auf Empfehlung der Kommission vom 24. Februar 2010 hat der Europäische Rat am 17. Juni 2010 die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Island beschlossen. Nach drei Jahren intensiver Verhandlungen hat die isländische Regierung im Mai 2013 zunächst beschlossen, die Verhandlungen über einen Beitritt ruhen zu lassen; am 12. März 2015 hat Island dann seinen Beitrittsantrag formell zurück gezogen.
[43] (2) Die Republik von Nordmazedonien hat noch unter dem früheren Namen Ehemalige Jugoslawische Republik Mazedonien (FYROM) am 22. März 2004 den Antrag auf EU-Mitgliedschaft eingereicht und am 16. Dezember 2005 den Status[S. 57] als Kandidatenland erhalten. Allerdings hat die Kommission erst im April 2018 dem Rat empfohlen, die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zu beschliessen, nachdem beträchtliche Anstrengungen unternommen worden waren, die dringenden Reformen anzugehen. Nachdem mit dem Prespes-Abkommen der 30-jährige Streit zwischen Griechenland und Mazedonien mit der Umbenennung in „Republik Nordmazedonien“ endgültig beigelegt wurde37, dürfte der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen nichts mehr im Wege stehen.
[44] (3) Montenegro hat seinen Beitragsantrag zur EU am 15. Dezember 2008 gestellt. Der Europäische Rat bestätigte am 17. Dezember 2010 den Status Montenegros als Kandidatenland. Beitrittsverhandlungen wurden aufgrund einer entsprechenden Empfehlung der Kommission am 29. Juni 2014 aufgenommen, aber noch nicht abgeschlossen.
[45] (4) Serbien hat seine EU-Mitgliedschaft am 22. Dezember 2009 beantragt. Aufgrund einer positiven Stellungnahme der Kommission hat der Europäische Rat den Kandidatenstatus Serbiens am 1. März 2012 bestätigt und die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen beschlossen. Verhandlungen wurden am 21. Januar 2014 aufgenommen und haben durchaus Fortschritte gebracht; allerdings hängt das Tempo der Gesamtverhandlungen stark von der Normalisierung der Beziehungen zum Kosovo ab.
[46] (5) Albanien hat seinen Beitrittsantrag am 28. April 2009 eingereicht. Die Kommission hat zu diesem Antrag am 27. Mai 2010 eine Stellungnahme abgegeben, in der die wichtigsten Reformvorhaben für eine Annäherung Albaniens zur EU aufgelistet wurden. Diese Vorhaben wurden nach einem konkreten Aktionsplan umgesetzt, so dass Albanien am 27. Juni 2014 den Status als Kandidatenland erhalten konnte und die Kommission im April 2018 dem Rat empfohlen hat, die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zu beschliessen.
[47] (6) Seit 2005 laufen Beitrittsverhandlungen mit der Türkei, die ihren Beitrittsantrag am 14. April 1987 gestellt hat. Die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei haben jedoch eine noch weiter zurückreichende Geschichte. Schon 1963 wurde ein Assoziationsabkommen zwischen der damaligen EWG und der Türkei geschlossen, in dem auf eine Beitrittsperspektive Bezug genommen wird. 1995 wurde eine Zollunion gegründet. Im Dezember 1999 hat der Europäischen Rat in Helsinki der Türkei offiziell den Status eines Beitrittskandidaten zuerkannt. Dies war Ausdruck der Überzeugung, dass dieses Land die Grundlagen für ein demokratisches System besitzt, auch wenn noch enormer Handlungsbedarf bei der Achtung der Menschenrechte und dem Schutz der Minderheiten besteht. Die Beitrittsverhandlungen beruhen auf drei Säulen: Die erste Säule betrifft die Zusammenarbeit zur Unterstützung des Reformprozesses in der Türkei, insbesondere im Hinblick auf eine fortlaufende Erfüllung der politischen Beitrittskriterien. Die Kommission kann im Falle schwerwiegender[S. 58] und fortgesetzter Verletzungen der freiheitlichen und demokratischen Grundsätze, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit eine Aussetzung der Verhandlungen empfehlen. Eine solche Aussetzung hat das EP in einer Entschließung vom 13. März 2019 wegen der schlechten Bilanz bei der Achtung der Menschenrechte, der Rechtsstaatlichkeit, der Freiheit der Medien und der Korruptionsbekämpfung sowie des Präsidialsystems gefordert (370 Ja-Stimmen, 109 Nein-Stimmen, 143 Enthaltungen). Nach einer solchen Empfehlung kann der Rat mit qualifizierter Mehrheit die effektive Aussetzung der Verhandlungen beschließen. Bei der zweiten Säule geht es um die spezifische Herangehensweise in Bezug auf die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Die Beitrittsverhandlungen finden im Rahmen einer Regierungskonferenz mit voller Beteiligung aller EU-Mitglieder statt. Für jedes Verhandlungskapitel legt der Rat die Referenzkriterien für den vorläufigen Abschluss der Verhandlungen fest, wozu insbesondere eine befriedigende Bilanz in Bezug auf die Umsetzung des unionsrechtlichen Besitzstandes gehört. Die rechtlichen Verpflichtungen, die sich aus der Übernahme des Besitzstandes ergeben, müssen vor Aufnahme der Verhandlungen über die betreffenden Kapitel erfüllt sein. Hier können sich längere Übergangszeiträume als notwendig erweisen. In Bezug auf die Freizügigkeit der Arbeitnehmer zieht die Kommission unbefristete Schutzklauseln in Betracht. Außerdem ist der Beitritt der Türkei mit einschneidenden finanziellen und institutionellen Konsequenzen verbunden, die vor dem Abschluss der Beitrittsverhandlungen einer konkreten Lösung zugeführt sein müssen. Die dritte Säule sieht einen wesentlich verstärkten politischen und kulturellen Dialog zwischen den Völkern der Mitgliedstaaten der EU und der Türkei vor. In diesem Dialog geht es um kulturelle und religiöse Unterschiede, um Migrationsfragen, Probleme im Zusammenhang mit den Minderheitenrechten und um Terrorismus. Das Endziel dieser Verhandlungen ist der Beitritt. Allerdings besteht keine Garantie dafür, dass dieses Ziel auch erreicht wird. Das im Jahre 1999 anvisierte Datum für einen möglichen Beitritt im Jahre 2014 ist verstrichen und es wurde keine neue Zeitlinie vorgegeben38. Zudem hat sich die Türkei in den letzten Jahren erheblich von der EU wegbewegt, vor allem in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit und Grundrechtsschutz. Nur bei einer Umkehr dieser negativen Tendenzen ist die Fortführung der Beitrittsverhandlungen realistisch.
c) Potentielle Kandidaten
[48] Potentielle Kandidaten für einen Beitritt zur EU sind weitere Staaten des westlichen Balkans, nämlich Bosnien und Herzegowina sowie das Kosovo39.
[S. 59]
III. Die Austrittsgeschichte
[49] Mit dem Vertrag von Lissabon wurde im EU-Vertrag eine Austrittsklausel eingeführt, die es einem Mitgliedstaat erlaubt, die EU zu verlassen (Art. 50 EUV). Danach kann ein Mitgliedstaat im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften den Beschluss fassen, von seinem einseitigen und an keine weiteren Voraussetzungen geknüpften Austrittsrecht nach Art. 50 Abs. 1 EUV Gebrauch zu machen. Der Mitgliedstaat hat dann dem Europäischen Rat nach Art. 50 Abs. 2 S. 1 EUV seine Austrittsabsicht mitzuteilen. Erst mit der offiziellen Notifizierung des Rates wird das förmliche Austrittsverfahren und damit auch die Zwei-Jahres-Frist des Art. 50 Abs. 2 S. 1 EUV in Gang gesetzt. Der Europäische Rat beschliesst sodann nach Art. 50 Abs. 2 S. 2 EUV einstimmig verbindliche Leitlinien, die den nun folgenden Verhandlungen eines Austrittsabkommens zugrunde gelegt werden, über das er schliesslich mit qualifizierter Mehrheit entscheidet (Art. 50 Abs. 4 S. 2 EUV i.V.m. Art. 238 Abs. 3 lit. b AEUV). Der Abschluss eines Austrittsabkommens ist für die Wirksamkeit des Austritts allerdings nicht konstitutiv. Kommt es innerhalb von zwei Jahren nach der Ausübung des Austrittsrechts durch Notifizierung des Europäischen Rates nicht zu einem Austrittsabkommen, so wird der Austritt automatisch wirksam (sog. sunset clause), sofern die Zwei-Jahres-Frist nicht im Einvernehmen mit dem austrittswilligen Mitgliedstaat durch einstimmigen Beschluss des Europäischen Rates verlängert wird (Art. 50 abs. 3 EUV). Im Rahmen der turbulenten Verhandlungen über den Brexit auch auf Vorlage durch ein schottisches Gericht der EuGH mit der Frage befasst, ob, wann und wie eine Notifizierung vor Ende der Zwei-Jahres-Frist einseitig zurückgenommen werden kann. Der EuGH hat hierzu entschieden40, dass eine einseitige Rücknahme der Austrittserklärung „in Übereinstimmung mit den verfassungsrechtlichen Notwendigkeiten“ im Vereinigten Königreich möglich sei. Dann bliebe das Vereinigte Königreich unter unveränderten Bedingungen Mitglied der EU. „Kein Staat kann gezwungen werden, gegen seinen Willen der Europäischen Union beizutreten und genausowenig kann er gezwungen werden, die Europäische Union gegen seinen Willen zu verlassen.“ Die Möglichkeit einer einseitigen Rücknahme besteht bis zum Ende der Zwei-Jahres-Frist bzw. einer entsprechend verlängerten Austrittsfrist. Mit der Wirksamkeit des Austritts durch Ablauf der Zwei-Jahres-Frist bzw. einer entsprechend verlängerten Austrittsfrist finden die EU-Verträge und damit auch das europäische Sekundärrecht auf den ausgetretenen Mitgliedstaat automatisch keine Anwendung mehr.
Eine Bestimmung über den Ausschluss eines Mitgliedstaates aus der EU wurde in Art. 50 EUV nicht aufgenommen.
1. Austritt Grönlands
[S. 60]
[50] Der erste Fall des Austritts geht zurück auf den Februar 1982, als sich die Bevölkerung Grönlands in einer Volksbefragung mit einer knappen Mehrheit gegen den Verbleib der Insel in der damaligen E(W)G aussprach. Die Eingliederung Grönlands in die EG erfolgte 1973 aufgrund seiner Zugehörigkeit zu Dänemark. Obgleich der Fall des Austritts in den damaligen EG-Verträgen nicht vorgesehen war, kamen die dänische Regierung und die EG im Februar 1984 überein, Grönland mit Wirkung vom 1. Februar 1985 aus der EG zu entlassen. Grönland wird von diesem Zeitpunkt an der Status eines mit der EG assoziierten überseeischen Gebietes gewährt41.





