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An der Gruppe 47, die schließlich zu einem Wortführer der neuen Literatur wurde, konnte Borchert nicht mehr teilnehmen, obwohl er eingeladen war. Sie führte ihre erste Tagung vom 5. bis 7. September 1947 am Bannwaldsee bei Füssen im Allgäu durch. Von den Voraussetzungen her entsprach Borchert der Gruppe und der jungen deutschen Schriftstellergeneration: Alfred Andersch hatte am 15. August 1946 in der Zeitschrift Der Ruf erklärt, diese Generation seien „Männer und Frauen zwischen 18 und 35 Jahren, getrennt von den Älteren durch ihre Nichtverantwortlichkeit für Hitler, von den Jüngeren durch das Front- und Gemeinschaftserlebnis, durch das ‚eingesetzte‘ Leben also“[8]. Borchert war ein Repräsentant dieser Jugend, die an einer Schuld beteiligt war, deren Voraussetzungen sie nicht geschaffen hatte. Insofern ist der Gegensatz zwischen dem Oberst und Beckmann in Borcherts Stück auch ein Generationskonflikt, in dem die junge Generation sich entlastet sehen konnte, hatte sie doch eine Aufgabe von der älteren übernommen, die sie selbst nicht gestellt hatte.
Zusammenbruch und Befreiung bedeuteten auch, Theater neu zu öffnen. Seit dem 1. September 1944 waren alle deutschen Theater zwangsweise geschlossen, die Bühnenangehörigen in die Kriegswirtschaft entlassen worden. Auch das Publikum war im Dritten Reich einseitig über Theaterentwicklungen informiert und inzwischen der Bühne entwöhnt worden.
Das Stück wird zur sogenannten „Heimkehrerliteratur“ gerechnet, die unmittelbar nach 1945 in den deutschen Besatzungszonen erschien. Auf den westlichen Bühnen wurde Borcherts Werk zudem „das Gegenstück zu Des Teufels General (…) Kriegsgeschichte[n] von unten, aus der Perspektive des Landsers, des Unteroffiziers Beckmann, gesehen.“[9]
Zur Heimkehrerliteratur zählen mehrere Dramen. Die Thematik reicht in den größeren Zusammenhang von Abrechnung mit dem Nationalsozialismus, mit Krieg und Verbrechen an der Zivilbevölkerung der von Deutschland überfallenen Völker. Das Heimkehrerthema ist dabei ein dominierendes Thema, das des Krieges ein anderes. So stehen die Heimkehrerfiguren von Fred Denger (eigentlich Alfred Denger, 1920–1983) und Annemarie Bostroem (geboren 1922) vor den gleichen Fragen wie Borcherts Beckmann: Wie findet man sein Zuhause wieder? Wer gibt die entscheidenden Antworten?
In Fred Dengers Wir heißen euch hoffen. Schauspiel um die heutige Jugend, uraufgeführt am 3. April 1946 im Deutschen Theater Berlin, sammelt der 22 Jahre alte Heimkehrer Veit in einer Ruine seinesgleichen und entwurzelte Jugendliche um sich, um anarchisch gegen die bürgerliche Gesellschaft vorzugehen. Veit erkennt den Irrweg, gibt das kriminelle Leben auf und hofft auf eine bessere Zukunft.
Annemarie Bostroems Die Kette fällt, uraufgeführt am 16. Oktober 1948 in Chemnitz, hat den 24-jährigen Heimkehrer Jacob Hambach zur Hauptfigur. Er ist ehemaliger Feldwebel und 1947 Chef einer Terrorgruppe, die den schonungslosen Krieg gegen alle Antifaschisten führen will. Er zweifelt letztlich am Sinn seiner Unternehmungen und stellt sich der Polizei.
In diesen Stücken, einschließlich dem Borcherts, wurden die verheerenden Auswirkungen des Dritten Reiches und des Krieges auf moralische Haltungen und Wertvorstellungen des Individuums gestaltet. Diese Werke, aber auch andere literarische Beispiele, etwa Heinrich Bölls Der Zug war pünktlich und Wanderer, kommst du nach Spa, beschrieben, wie durch den Faschismus die Hemmschwelle für Verbrechen auch bei gebildeten Bürgern bis auf den Nullpunkt gesunken war. Die Verurteilung des Krieges wurde eine Verurteilung seiner politischen Verursacher, ohne dass die Schriftsteller das gesellschaftliche Gesamtsystem infrage stellten, obwohl – Beckmann muss es feststellen – dieses System, das die Verbrechen verantwortete, befahl und durchführte, sich 1946 bereits wieder zu reproduzieren begann und die alten Kräfte, die für die seelische Zerstörung und Desillusionierung der Überlebenden verantwortlich waren, wieder wirkten. Dennoch drangen die Autoren zur Erkenntnis vor, dass mit dem Glauben an ein gemeinhin waltendes Schicksal, mit dem im Faschismus geschichtliches Bewusstsein verdrängt und ersetzt wurde, keine Antworten zu geben waren; sie suchten nach Antworten – wie Beckmann in Borcherts Stück.
Den Weg, aus der Literatur Verhaltensmöglichkeiten zu gewinnen, der besonders für ein Publikum gedacht war, das die klassischen Traditionen verdrängt oder aufgegeben hatte, ging Bertolt Brecht mit seinen Modellen konsequent zu Ende. Er entwickelte daraus eine Theorie, die durch „Nachahmbarkeit und Variabilität“[10] Publikum und Schauspielern eine Orientierung geben sollte, die aus der Tradition bezogen wurde (Antigonemodell 1948, Couragemodell 1949) und für die Gegenwart Verhaltensmöglichkeiten entwickelte, um „eine Staatsaktion von Ausmaß zu objektiver Darstellung zu bringen“[11]. Da die Vorlagen der Modelle im Bewusstsein des Publikums vorhanden waren – in diesem Fall durch Werke von Sophokles und Grimmelshausen – oder mindestens wieder abrufbar waren, konnten aktuelle Ereignisse darauf projiziert werden.
ZUSAMMENFASSUNG
Wolfgang Borchert schrieb eine überschaubare Zahl von Werken; sie bedienen das gleiche Thema der Generation ohne Abschied. Gestalten wie Beckmann aus Draußen vor der Tür und seine Fragen finden sich durchgehend in Borcherts Werk. Die Fragen nach Gott, dem Leben, dem Grauen des Krieges und seiner Überwindung durchziehen Borcherts Werk wie ein fortlaufendes Selbstzitat.
Vor Draußen vor der Tür schrieb Borchert drei weitere Stücke. Immer finden sich darin Bezüge zur Weltliteratur, oft zu Goethes Faust.
Die in ihrer Zahl überschaubaren Werke Borcherts bedienen das gleiche Thema: Beschrieben werden der Krieg, seine Opfer, seine Folgen sowie die Generation ohne Abschied, so der Titel einer Erzählung, in der sich inhaltliche Bezüge zu Draußen vor der Tür finden. Es wird ein Leben voller Stationen und Begegnungen beschrieben, in dem es nur diese „Begegnungen ohne Dauer“ (Rowohlt Tb S. 109), aber keinen Abschied gab; „ohne Glück, ohne Heimat und ohne Abschied“ (Rowohlt Tb S. 108), Smolensk und der verlorene Gott, „ein Mann und eine Frau“ (Rowohlt Tb S. 109) werden genannt.
Gestalten wie Beckmann aus Draußen vor der Tür und seine Fragen finden sich durchgehend in Borcherts Werk. Im Januar 1946 entstand die Erzählung Die Hundeblume, in der nach Gott gefragt und nach einer geöffneten Tür gesucht wird. Ihr ging die Erzählung Die Blume[12] (1941) voraus, in der ebenfalls die Frage gestellt wurde: „(…) wo ist der Gott?“. Die Fragen nach Gott, dem Leben, dem Grauen des Krieges und seiner Überwindung durchziehen Borcherts Werk wie ein fortlaufendes Selbstzitat.
DIE HUNDEBLUME (1946) DRAUßEN VOR DER TüR (1946/1947) DIE LANGE LANGE STRAßE LANG (1947) Beziehung drinnen und draußen: Gefangen im Drinnen; der Rundgang im Hof ausgestoßen ins Draußen; auf die Straße auf der Straße; Suche nach der Straßenbahn Motiv: die Tür geschlossen die Tür verschlossen die Tür hinter ihm verschlossen durch die Mutter (Rowohlt TB S. 66) Sehnsucht; Angst vor der Nacht (Rowohlt TB S. 84) Hunger; Angst vor der Nacht Hunger; Angst vor der Nacht Figur: Häftling; allein mit sich selbst Unteroffizier Beckmann; auf sich selbst zurückverwiesen und allein Leutnant Fischer; nur er noch „unterwegs“; „allein gelassen“ (Rowohlt TB S. 66) verantwortlich für eine Straftat verantwortlich für den Tod von elf Menschen verantwortlich für den Tod von 57 Menschen 22 Jahre alt 25 Jahre alt 25 Jahre alt Sehnsucht: nach der Hundeblume als Zeichen der Geborgenheit nach Ankunft/Heimkehr und Geborgenheit nach der blauen Blume (Rowohlt TB S. 72 f.) als Gegensatz zur Einsamkeit Gott: „(…) ist nicht da.“ (Rowohlt TB S. 84) ist ein alter, erschütterter Mann hat keinen LöffelBorchert plante einen Roman mit dem Titel Persil bleibt Persil. Nur wenige Seiten sind ab dem 11. Januar 1947 geschrieben worden. Die Einteilung der Bücher erinnert an die grauen Akte des Stücks: 1. Buch: Die Nacht; 2. Buch: Nacht um uns, Nacht; 3. Buch: Nacht Nacht Nacht. Borcherts Verzweiflung hatte in Draußen vor der Tür einen Höhepunkt erreicht; beendet hat er sein literarisches Thema nicht.
Draußen vor der Tür ist nicht Borcherts einziges Stück, wie angenommen und behauptet wird. Zuvor schrieb er Stücke mit historischen oder politischen Inhalten. 1938 entstand Yorick, der Narr!, angeregt von Shakespeares Hamlet. Im Dezember 1937 hatte Gustaf Gründgens[13] als Hamlet auf der Bühne Borcherts Leben entscheidend beeinflusst. Auf dieses Erlebnis, seither hing ein Gründgens-Bild in Borcherts Zimmer, geht seine Theaterleidenschaft zurück; Hamlet wurde für Borchert zu einer Identifikationsgestalt. 1939 folgte Käse. Die Komödie des Menschen, in dem ein Käsehändler nach der Weltherrschaft strebt und vom Genie Wolff Günter – der Name setzt sich aus Borcherts Vornamen und dem seines Freundes Günter Mackenthun zusammen – daran gehindert wird.[14]
Als drittes Stück folgte Der schwarze Cardinal; es wurde von Goethes Egmont angeregt: „Das erste war wüst, weil ich zu jung war, das zweite war staatsfeindlich, das dritte in drei Tagen geschrieben und ebenfalls der heutigen Zeit contrair gestimmt.“[15] Das Stück nimmt Anleihen aus der Weltliteratur auf, besonders intensiv aus Goethes Faust. Insofern liegt es nahe, die Ähnlichkeiten, die Draußen vor der Tür mit Faust aufweist, als beabsichtigt zu sehen. Schließlich taucht das Faust-Problem nicht als Schöpfungs- und Erkenntnisproblem, sondern als Vernichtungsvorgang auch in der Erzählung Die lange lange Straße lang auf. Er lässt seinen Leutnant Fischer in Die lange lange Straße lang fragen, wer die todbringende Faust-Marionette bewege; der Leierkastenmann bekennt sich dazu. Wer aber der Leierkastenmann ist, wusste Borchert nicht. Deshalb wiederholte er Thema und Fragen fortwährend. Der Massenmord – „sechs Millionen“ (HL S. 40/R S. 58) korrespondiert mit den Zahlen der Naziverbrechen an den Juden –, angesprochen in Draußen vor der Tür, variiert in Die lange lange Straße lang, begleitete Borcherts Werk: Ohne Nennung Fausts schrieb Borchert die Geschichte des Massenmörders bezeichnenderweise in den Lesebuchgeschichten:
„Der Mann mit dem weißen Kittel schrieb Zahlen auf das Papier. Er machte ganz kleine zarte Buchstaben dazu. Dann zog er den weißen Kittel aus und pflegte eine Stunde lang die Blumen auf der Fensterbank. Als er sah, dass eine Blume eingegangen war, wurde er sehr traurig und weinte. Und auf dem Papier standen die Zahlen. Danach konnte man mit einem halben Gramm in zwei Stunden tausend Menschen tot machen. Die Sonne schien auf die Blumen. Und auf das Papier.“ (Rowohlt Tb S. 81)
Borcherts Haltung ist antimilitaristisch und erscheint pazifistisch, ist es aber nicht grundsätzlich. Wichtig war ihm die Verantwortung für eine Tat, die auch militant sein konnte: „Wir sagen nicht nein aus Verzweiflung. Unser Nein ist Protest.“ (Rowohlt Tb S. 116) In seinen beiden Schriften Dann gibt es nur eins! und Das ist unser Manifest geht es um ein neues Deutschland, in dem die Menschen sich zum Leben, zur Liebe und zum Wiederaufbau bekennen. In diesen Schriften lehnt Borchert nihilistische Haltungen ab. Es geht ihm nicht um „die reingefegte Luft der Nihilisten“, sondern um Häuser, die gebaut werden, „Häuser aus Holz und Gehirn und aus Stein und Gedanken“ (Rowohlt Tb S. 116).
Statt nihilistischer Verneinung verdichten sich bei Borchert literarische Maximen zu Lebensweisheiten, denen er folgt. Wichtig wurde dabei Shakespeares Hamlet. Er wurde oft von Borchert zitiert und genannt, schließlich aber auch zur Lebenschance. Hamlets Zweifel um Sein oder Nichtsein war, so Borchert in einem Brief an seine geistige Mentorin Aline Bußmann im August 1941, „auch Hamlets Größe (…). Was liegt nun noch an Gut und Böse? Leben will man – Sein oder Nichtsein ist tatsächlich immer noch die größte Frage und wird es auch ewig sein!“[16] In Aline Bußmanns Salon lernte er Literarisches kennen, wenn auch nicht in weltläufiger, sondern in heimatorientierter Weise: Aline Bußmann gab Werke ihre Freundes Gorch Fock heraus und trat am Richard-Ohnsorg-Theater auf.
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