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Mit Baur beginnt somit ein Verständnis der Theologie des Neuen Testaments, das neben Geschichtsforschung und Theologie auch die Philosophie berücksichtigt. Er begründet damit die Einbeziehung philosophischer Überzeugungen in die neutestamentliche Theologie – ein Sachverhalt, der für die deutschsprachige Theologie prägend geworden ist.
1.3Bultmanns Theologie des Neuen Testaments und deren Nachwirkungen
Diese so selbstverständlich scheinende Überlegenheit der christlichen Nationen wurde durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs tief erschüttert. Wie konnte ein Gott als „absolute Idee“ bezeichnet werden, wenn sich auf ihn die Heerführer und Staatenlenker aller miteinander verfeindeter Nationen zugleich beriefen, um ihre Soldaten zum Töten zu motivieren? Die mörderischen Schlachten des Ersten Weltkriegs wurden auch als eine Niederlage des Christentums empfunden und forderten eine Neuorientierung in der Evangelischen Theologie heraus.
Die genannten Erfahrungen prägten auch die wissenschaftliche Arbeit von Rudolf Bultmann (1884–1976). Er entfaltete, beeindruckt von der dialektischen Theologie Karl Barths (1886–1968) und der Fundamentalontologie Martin Heideggers (1889–1976), in seiner neutestamentlichen Exegese die Überzeugung, dass Theologie vor allem auf den modernen Menschen ausgerichtet sein müsse. Dieser war für Bultmann dadurch charakterisiert, dass er in seinen Überzeugungen einerseits rational mit dem naturwissenschaftlichen Weltbild übereinstimmte und andererseits innerhalb dieser Vorgaben sein Leben in freier Entscheidung sinnvoll gestalten wolle. Eine Theologie des Neuen Testaments habe diesen modernen Menschen und dessen Selbstverständnis herauszufordern und mit dem Selbstverständnis zu konfrontieren, das dem Neuen Testament zugrunde liege. Bultmann interpretierte dementsprechend die Verkündigung Jesu als „Forderung“ und „Ruf in die Entscheidung“ (8), ohne unmittelbar zu klären, was das Ziel dieser Entscheidung oder der Inhalt dieses Rufs sei. Vielmehr entsprächen diese in ihrer Struktur der fundamentalen Verfasstheit des Menschen an sich, der sein Leben als Vollzug oder Verfehlung der Entscheidung zum je eigenen Menschsein führe. Die Theologie des Paulus galt Bultmann „zugleich“, wenn nicht gar vorrangig, als „Anthropologie“ (187), die die Grundstrukturen wie auch die Widersprüche der menschlichen Existenz als solche offenlege. Die johanneische Theologie wiederum war für ihn das Angebot an den Menschen, sich in der Krise seiner Existenz gegen die Welt und für den Glauben zu entscheiden und so die „Entweltlichung“ als „Übergang in die eschatologische Existenz“ zu vollziehen (424). Tatsächlich gelang es Bultmann, die Diskussion um die Theologie des Neuen Testaments im 20. Jh. auf die Frage zu konzentrieren, was Jesus, Paulus und Johannes dem modernen Menschen des 20. Jh. zu sagen haben.
So wie die neutestamentliche Theologie Baurs ihre Überzeugungskraft nicht aus der Exegese, sondern aus der Verbindung mit der breiten Bewegung des Hegelianismus seiner Zeit gewann, so war Bultmanns Theologie des Neuen Testaments auch deswegen so wirkungsvoll, weil sie die durch die Existenzphilosophie bestimmte Erwartung ihrer Zeit zu erfüllen wusste. Bultmann stellte wie Martin Buber (1878–1965), Karl Jaspers (1883–1969), Martin Heidegger und schließlich auch Jean-Paul Sartre (1905–1980) den Menschen und nicht philosophische Systeme oder abstrakte Begriffe in den Mittelpunkt. Die Bindung der neutestamentlichen Theologie an die philosophischen Einsichten ihrer Zeit gehört zu den Besonderheiten der protestantischen Theologie in Deutschland, die ihre Anziehungskraft ausmachte, aber auch Ablehnung provozierte.
Die theologischen und philosophischen Annahmen Bultmanns wurden in der systematischen Theologie und in der Religionsphilosophie weiterverfolgt. Die neutestamentliche Forschung im engeren Sinn hingegen diskutierte vor allem die exegetisch-historischen Urteile Bultmanns. Auf geradezu einhellige Ablehnung stieß Bultmanns Entscheidung, die Verkündigung Jesu nur als Voraussetzung, nicht aber als Teil einer Theologie des Neuen Testaments zu betrachten (1). Bultmann machte mit dem historischen Diktum von Julius Wellhausen (1844–1918) ernst, dass Jesus kein Christ, sondern Jude gewesen und geblieben sei. Er stellte demgegenüber heraus, dass die Botschaft des Neuen Testaments, das „Kerygma“ (gr. für Botschaft), auf dem Glauben beruhe, der „Jesus Christus als eschatologische Heilstat […], und zwar Jesus Christus, den Gekreuzigten und Auferstandenen“ bekenne (1). Glaube habe ohne Kreuz und Auferstehung keine Grundlage. Somit könne die Verkündigung Jesu, die ja nach Bultmann weder den Kreuzestod noch die Auferstehung enthalten habe, nicht Teil einer Theologie des Neuen Testaments sein. Bultmann bestimmte mit dem Kerygma ein Kriterium, das ihm dazu diente, innerhalb des Neuen Testaments das theologisch Bedeutsame herauszustellen und weniger relevante religiöse Vorstellungen zu kritisieren. Er nannte dieses Vorgehen theologische Sachkritik.
Bultmann definierte zum ersten Mal konsequent eine bestimmte theologische Vorstellung, nämlich das Kerygma von Kreuz und Auferstehung Christi, als normative Mitte einer Theologie des Neuen Testaments. Aussagen innerhalb des Neuen Testaments, die von dieser Mitte abwichen, etwa die Verkündigung Jesu, bewertete er kritisch (theologische Sachkritik).
So klar dieser Standpunkt formuliert ist, so widersprüchlich erscheint er zum einen angesichts Bultmanns eigener Interpretation der Verkündigung Jesu als Ruf in die Entscheidung und zum anderen angesichts der Darstellung Jesu als Messias in den Evangelien selbst. Auch nach Bultmann trat Jesus auf, um Gottes letzten Ruf vor dem Ende zu formulieren (8). Selbst wenn er Jesus „nur“ als den endzeitlichen Propheten Gottes versteht, reicht dies nicht als Begründung aus, um die prophetische Verkündigung des Reiches Gottes durch Jesus von Nazareth, seine Forderung nach einer dem Reich Gottes korrespondierenden Gerechtigkeit und den damit verbundenen Umkehrruf aus einer Theologie des Neuen Testaments auszuschließen.
In der Diskussion um Bultmanns Theologie spielte allerdings die mögliche Bedeutung der unchristologischen Verkündigung Jesu für eine Theologie des Neuen Testaments kaum eine Rolle. Vielmehr wurde gegen Bultmanns Vorstellung eines unmessianischen Jesus die Theorie einer sogenannten impliziten Christologie vorgebracht. Jesus habe sich zwar nicht explizit als Christus bzw. Messias bezeichnet, aber doch Worte gesprochen und symbolische Handlungen vollzogen, die sein gehobenes Selbstbewusstsein, ja sein Selbstverständnis als Messias, notwendig voraussetzen d. h. implizieren. Diese vermeintlich implizite Christologie wurde von Ernst Käsemann (1906–1998) und Günther Bornkamm (1905–1990) zu Jesusinterpretationen verdichtet, die Jesus scharf von seiner jüdischen Umwelt abgrenzten. Bis heute tendieren Jesusdarstellungen, die eine solche implizite Christologie herausarbeiten wollen, dazu, die Behauptung der Besonderheit, ja Exklusivität Jesu mit dem Nachweis zu verbinden, dass das antike Judentum auf irgendeine Weise eine defizitäre Religion gewesen sei oder sich zumindest in einer grundsätzlichen Krise befunden habe.
Die Einbeziehung der Verkündigung Jesu in eine Theologie des Neuen Testaments sollte nicht mit dem Nachweis einer impliziten Christologie begründet werden, sondern vielmehr davon ausgehen, dass die im Neuen Testament enthaltene Jesusüberlieferung aussagekräftig genug ist, um Jesu Verständnis von Gott, Welt und Mensch darstellen zu können.
Neben diesem Gesichtspunkt provozierte auch Bultmanns Akzentuierung der historischen Diskontinuität zwischen den frühchristlichen Gruppierungen und den Überzeugungen der neutestamentlichen Schriftengruppen. Für Bultmann galten die synoptischen Evangelien als mythologische Erzählungen und stellten einen Rückschritt hinter Paulus dar. Sie verdienten seiner Ansicht nach keine nähere Erörterung in einer Theologie des Neuen Testaments. Das Johannesevangelium hingegen sei auf theologisch sachlicher Ebene mit Paulus zumindest gleichwertig. Die Synoptiker, Paulus und Johannes seien aber doch voneinander weitgehend isolierte Phänomene (356). Ein systematischer Zusammenhang einer Theologie aller Schriften des Neuen Testaments existiere nicht. Bultmann stellte vielmehr eine diskontinuierliche Entwicklung der Theologie des Neuen Testaments fest, die von historischen und religionsgeschichtlichen Umständen, letztlich auch von Zufällen und kontingenten Ereignissen bestimmt sei.
Viele der auf Bultmann folgenden Theologien des Neuen Testaments bemühten sich hingegen darum, die Zusammenhänge und Verbindungen zwischen den neutestamentlichen Schriften und den hinter ihnen stehenden Gedanken und Bekenntnissen herauszuarbeiten oder eine theologische Mitte bzw. Einheit zu definieren. Joachim Jeremias (1900–1979) wollte die Theologie des Neuen Testaments ganz und gar auf die Verkündigung Jesu gründen. Es sei möglich die Theologie aus den ureigenen Worte Jesu, „ipsissima vox Jesu“ (39), zu entfalten. Diese Worte enthielten mit dem aramäischen „Abba“ als Ausdruck der „Einzigartigkeit der Gottesanrede Jesu“ und einer intimen Vaterbeziehung zu Gott „das letzte Geheimnis der Sendung Jesu“ (73). Jeremias’ Werk blieb Fragment, ebenso wie der Entwurf von Leonhard Goppelt (1911–1973), der auf eigene Weise „Jesu Wirken in seiner theologischen Bedeutung“ als Grundlage der gesamten Theologie des Neuen Testaments verstand (52 f.). Im englischen Sprachraum publizierte George Eldon Ladd (1911–1982) eine, wie er meinte, „deskriptive“ (XI) Theologie des Neuen Testaments. Er setzte sich mit diesem Werk für die Akzeptanz einer gemäßigten historischen Bibelkritik in der evangelikalen Theologie ein, kam aber regelmäßig in seinen exegetischen und historischen Entscheidungen den Erwartungen einer theologisch konservativen oder evangelikalen Leserschaft entgegen. In beständiger kritischer Auseinandersetzung mit Bultmanns Ansichten urteilte Ladd etwa, dass Jesus sich seiner Gottessohnschaft bewusst gewesen sei (185), oder sah die paulinische Verfasserschaft der Deuteropaulinen und Pastoralbriefe als erwiesen an (414). Bis heute folgen zahlreiche Werke zur neutestamentlichen Theologie im englischsprachigen Raum dieser Vorgehensweise Ladds.3 Die Theologie von Werner Georg Kümmel (1905–1995) befasst sich nur mit den „Hauptzeugen“ neutestamentlicher Theologie: Jesus, Paulus und Johannes. Sie ist im historischen Urteil zurückhaltend. Kümmel geht nur selten über die Darstellung des exegetischen Befunds hinaus, meint aber doch, dass die theologische „Mitte des Neuen Testaments“ nach Ansicht aller Hauptzeugen des Neuen Testaments im „Christusgeschehen“ liege (294 f.). Georg Strecker (1929–1994) sieht das ähnlich, formuliert aber etwas zurückhaltender, wenn er das „Christusereignis“ als „entscheidende(n) Ausgangspunkt der theologischen Konzeption der neutestamentlichen Schriftsteller“ bestimmt (8 f.). Der Grundriss von Eduard Lohse (1924–2015) gibt einen guten Überblick, verfolgt aber keine eigenständigen theologischen Anliegen. Das gilt auch für das Buch von Hans Conzelmann (1915–1989), das explizit nur ein „Leitfaden“ sein möchte (XVI). Kurt Niederwimmer (1929–2015) hat sich dafür entschieden, die Theologie des Neuen Testaments aus den Schriften bzw. Schriftengruppen zu entwickeln, in denen er theologische Reflexion „im engeren Sinn“ zu finden meint (13). Das sind für ihn: Paulus, Johannes und der Hebräerbrief, von denen er Linien in die Theologie der Alten Kirche zieht.
Eine Theologie des Neuen Testaments hat sich mit der Frage zu befassen, ob und, wenn ja, auf welche Weise die neutestamentlichen Schriften einen Zusammenhang oder eine Einheit bilden bzw. eine Mitte haben. Gibt es gemeinsame Grundüberzeugungen oder Anliegen oder aber zumindest gemeinsame Fragestellungen, die sie trotz unterschiedlicher und divergierender Antworten als Teil eines Gesprächs oder Diskurses erscheinen lassen? Für Bultmann war das Kerygma von Kreuz und Auferstehung diese Mitte, Jeremias sah diese in der Überzeugung Jesu von der Vaterschaft Gottes („Abba“), andere Entwürfe sprechen vom „Christusgeschehen“ oder dem „Christusereignis“ als Mitte oder zumindest von der Christologie als „Ausgangspunkt“.
1.4Theologisch eigenständige Entwürfe nach Bultmann
Oscar Cullmann (1902–1999) betonte gegen Bultmann die geschichtliche und theologische Zusammengehörigkeit der neutestamentlichen Schriften. Ihmzufolge ist eine kontinuierliche Entwicklung vom Alten Testament zum Neuen Testament festzustellen, die insgesamt als Heilsgeschichte zu verstehen sei. Die Vorstellung einer Heilsgeschichte im Sinne der geschichtlichen Entfaltung des Erlösungswillens Gottes verbinde einerseits Judentum und Christentum miteinander und trenne andererseits beide Religionen von allen anderen Religionen (7). Die alttestamentlich-jüdische Heilsgeschichte deute die historischen Ereignisse unter dem Gesichtspunkt „der Erwählung des Volkes Israel“ (82). Die neutestamentliche Heilsgeschichte knüpfe an dieser an, stelle aber heraus, dass die Erwählung Israels auf Jesus hinziele und von diesem ausgehend die Erwählung des „neuen Israel“ begründe (82). So sei das Alte Testament Heilsgeschichte, aber auch das Leben und Wirken Jesu, auf dem das neue Israel beruhe (137). Die Theologie des Paulus sei „Darstellung des göttlichen Heilsplans“ (100) und die christologische Jesuserzählung des Johannesevangeliums sei unmittelbar Heilsgeschichte in „betonter Weise“ (247). Der Glaube, den das Neue Testament fordere, sei vor allem der Akt des Eintretens in dieses geschichtliche Geschehen (101) und unterliege der Spannung zwischen schon erfüllt und noch nicht vollendet. Die Eschatologie sei das gegenüber der biblisch-jüdischen Heilsgeschichte „Neue“ im Neuen Testament (153). Die Heilsgeschichte besteht für Cullmann aus einer zusammenhängenden Ereignisfolge, die auch Umwege und damit auch „Unheilsgeschichte“ umfasse, letztlich aber auf Erlösung in Glaube, Liebe und Hoffnung ziele: „Glaube an das Christusgeschehen in Vergangenheit und Gegenwart, Hoffnung auf das zukünftige Heilsgeschehen, Liebe als normatives Prinzip und als Aktualisierung von Glaube und Hoffnung“ (313).
Cullmann hat richtig gesehen, dass sich die neutestamentlichen Texte selbst als Teil einer Ereignisfolge verstehen, die mit der Schöpfung beginnt, die Geschichte Israels und das Leben Jesu umfasst und die ihr Ziel in der Erlösung hat. So gelingt es, den Zusammenhang von Altem Testament und Neuem Testament sowie die Bindung des frühen Christentums an die Geschichte Israels aufrechtzuerhalten.
Die theologische Bedeutung dieses heilsgeschichtlichen Zusammenhangs kann heute mit Ergebnissen der kulturwissenschaftlichen Forschung verknüpft werden, die mit dem Philosophen Jean-François Lyotard (1924–1998) davon ausgeht, dass kulturelles Wissen überwiegend als „Erzählung“ und gemeinschaftliche Überzeugungen als „große Erzählungen“ (grand récit, Meistererzählung, master narrative) festgehalten sind. Die große biblische Erzählung als Meistererzählung ist nicht einfach als Ereignisfolge vorgegeben, sondern beruht auf theologischen Deutungskonstanten, die diese überhaupt erst zur Heilsgeschichte formen. An diesem Projekt, der Bildung einer neutestamentlichen Meistererzählung bzw. einer Heilsgeschichte, knüpfen zahlreiche weitere Theologien des Neuen Testaments auf unterschiedliche Weise an. Die Varianten in der Entfaltung der im Neuen Testament repräsentierten Heilsgeschichte beruhen darauf, dass die neutestamentlichen Schriften in der Darstellung der theologisch relevanten Ereignisfolge und deren Deutung als Heilsgeschichte ebenso differieren wie die Deutungen, die zeitgenössische Exegeten diesen Ereignissen zumessen. So beginnt für Matthäus die Ereignisfolge mit Abraham (Mt 1,1), für Lukas und Paulus aber bereits mit Adam (Lk 3,28; Röm 5,14), um zunächst nur ein einfaches Beispiel zu nennen. Ist es nun die Aufgabe einer heilsgeschichtlichen Theologie des Neuen Testaments, über die Divergenzen zwischen den einzelnen Schriften hinweg eine theologisch relevante Ereignisfolge von der Schöpfung bis zur Erlösung herauszuarbeiten, die davon abweichenden Ereignisfolgen als Holzwege zu entlarven und somit das Zeugnis des Neuen Testaments zu harmonisieren? Einige Exegeten favorisieren ein solches Verständnis einer Theologie des Neuen Testaments und fordern den Primat der Theologie über die Exegese. So erklärt etwa Ulrich Wilckens: „Eine solche „Harmonisierung“ ist nicht nur methodisch erlaubt, sondern eben auch theo-logisch (sic!) geboten“ (Bd. 2/1, 3). Wilckens folgt dabei den Entwürfen von Brevard S. Childs, Ferdinand Hahn, Wilhelm Thüsing und Peter Stuhlmacher, die auf je unterschiedliche Weise das in sich stimmige Handeln Gottes in der Geschichte zur Grundlage der Einheit einer Theologie des Neuen Testaments machen. Hier ist auch noch Hans Hübner (1930–2013) zu nennen, der eng an Bultmanns Existenzverständnis anschließt und einen offenen Theologiebegriff, nach dem Theologie Reflexion über religiöse Überzeugungen sei, verwendet (Bd. 1, 27). Manche Exegeten gehen hingegen unmittelbar von Gott und seiner Offenbarung in der Geschichte aus. Brevard S. Childs (1923–2007) war stark beeinflusst von der Theologie Barths und dessen dialektischem Gottesverständnis. Childs meinte die eine Theologie der gesamten Bibel aus Altem und Neuem Testament, unbeschadet ihrer jeweils eigenen Zeugnisse, in der allen biblischen Texten gemeinsamen Beziehung zur „vollkommenen göttlichen Realität“ und damit zur relationalen Wirklichkeit Gottes bestimmen zu können (Bd. 1, 112 f.). Andere setzen an der in den neutestamentlichen Schriften bezeugten Geschichte an und interpretieren diese auf das Handeln Gottes hin, wie etwa Peter Stuhlmacher. Sie alle eint jedoch, dass sie von der Möglichkeit und Notwendigkeit einer Theologie des Neuen Testaments überzeugt sind, die sich in Verbindung mit systematisch-theologischen Überlegungen an den konfessionellen Erwartungen christlicher Gruppen oder Kirchen orientiert bzw. diese herausfordert. Wilhelm Thüsing (1921–1998) formuliert explizit, dass er vom „christlichen Glaubensverständnis“ ausgehe, um mit seiner Theologie des Neuen Testaments die Grundlage für die „gesamte Theologie“ zu legen (Bd. 3, XI). Stuhlmacher versteht das Neue Testament als „Buch der Kirche“ und fühlt sich verpflichtet, „theologische Einheitslinien“ aufzuzeigen (Bd. 1, 34).
Eine Theologie des Neuen Testaments soll nach dieser Sichtweise ihr grundlegendes Verständnis von Theologie aus der systematischen Theologie oder der jeweiligen konfessionellen Tradition übernehmen. Dieses Theologieverständnis sei dann als Deutungskonstante zu allen neutestamentlichen Schriften exegetisch und historisch geschult in Beziehung setzen, um so eine biblisch begründete oder zumindest inspirierte Theologie auf dem Stand der wissenschaftlichen Ergebnisse der Forschung zu erarbeiten. Ein solches Vorgehen bringt zumindest zwei Schwierigkeiten mit sich: 1. Die systematische Theologie selbst ist nach Ingolf U. Dalferth „eine komplexe, multidisziplinäre Interpretationspraxis“ (202) und durch eine innere Pluralität geprägt, die zu einer Vielfalt divergierender Verständnisse von Theologie führt. Von ihr ist keine in sich geschlossene Theologie zu erwarten, sondern bestenfalls ein vielstimmiger Diskurs über Theologie. 2. Das reformatorische Schriftprinzip und damit die Bedeutung des Neuen Testaments für eine systematische Theologie werden sehr unterschiedlich beurteilt. Dalferth versteht das Evangelium im Neuen Testament als Kriterium und Norm gegenwärtiger evangelischer Theologie. Er verweist aber darauf, dass das Neue Testament als solches keine überlegene Form von Theologie ist, sondern erst durch seinen Beitrag zur Kommunikation des Evangeliums theologisch relevant wird (167). Jörg Lauster erkennt nur noch einen relativen Vorrang des Neuen Testaments für die theologische Urteilsbildung gegenüber anderen Manifestationen des christlichen Glaubens an, weil es als ältestes Zeugnis des Christentums durch „Ursprungsnähe“ charakterisiert sei (195). Arnulf von Scheliha hält es schließlich angesichts der Pluralität der Schriftrezeptionen in der Gegenwart für unmöglich, an einem Schriftbezug oder gar an einem Schriftprinzip innerhalb der Theologie festzuhalten und sieht die Zeit für eine „bibelorientierte Kulturphilosophie“ gekommen (78). Die begrenzten Möglichkeiten für eine Kooperation von systematischer Theologie und neutestamentlicher Forschung führen dazu, dass manche Autoren einer Theologie des Neuen Testaments ihr eigenes Verständnis von systematischer Theologie zugrunde legen, ohne sich mit den Schriftverständnissen in der systematischen Theologie der Gegenwart auseinanderzusetzen. Ein solches Vorgehen führt in der Regel zu theologischen Argumentationen, denen es an Selbstreflexivität mangelt, und zu ethischen Positionen, die auf fragwürdige Weise etwa in der Sexualethik vermeintlich klare biblische Forderungen in die Gegenwart übertragen.
Einige der neueren Theologien des Neuen Testaments suchen die Verbindung zur systematischen Theologie, um die Ergebnisse der exegetischhistorischen Forschung am Neuen Testament theologisch angemessen zu interpretieren und die Ergebnisse für die Theologie im Ganzen zur Verfügung zu stellen. Diesem Ansinnen stehen aber die innere Pluralität der systematischen Theologie und ihr kritisches Verhältnis zum Neuen Testament sowie zum reformatorischen Schriftprinzip entgegen.
1.5Theologie oder Religionsgeschichte und Religionstheorie?
Im Gegensatz dazu stehen Überlegungen, die die Theologie des Neuen Testaments in eine Theologiegeschichte (Klaus Berger), eine Theorie der frühchristlichen Religion (Gerd Theißen) oder eine Religionsgeschichte des frühen Christentums (Dieter Zeller, Heikki Räisänen) überführen wollen. In der Darstellung der Gedanken, die in den neutestamentlichen Schriften enthalten sind, sollen nicht normative Vorstellungen, die die christlichen Konfessionen von Gott und seinem Offenbarungshandeln entwickelt haben, führend sein, sondern Überlegungen, die an wissenschaftliche Konzeptionen anknüpfen und die sich auch bei der wissenschaftlichen Analyse anderer kultureller, religionsgeschichtlicher und historischer Phänomene als sinnvoll erwiesen haben. Die Theologiegeschichte Klaus Bergers verpflichtet sich auf eine „sich als konsequent historisch verstehende(n) Hermeneutik“ (VII). Die Auswahl der Themen und die Grundlinie der Darstellung sind an der Entwicklung der ersten Gemeinden orientiert, werten die Gemeinschaft höher als die Lehre und das Bekenntnis (5) und verfolgen damit eine ekklesiologische Schwerpunktsetzung, die wiederum eher einer katholisch-konfessionellen Erwartung entgegenkommt und deswegen nicht wirklich als „konsequent historisch“ zu bezeichnen ist. Überzeugender ist der Entwurf von Dieter Zeller (1939–2014), der die Entstehung des Christentums unter religionsgeschichtlichen Gesichtspunkten darstellt. Er vergleicht die entstehende christliche Religion mit anderen antiken Religionen. Dabei betont er einerseits die ursprüngliche Abgrenzung vom Judentum und beschreibt andererseits die Anpassungs- und Adaptionsprozesse an den nichtjüdischen Hellenismus. Die „fortschreitende Vergöttlichung Jesu“ komme hellenistischen Erwartungen an göttliche Wesen entgegen und sei die Voraussetzung dafür gewesen, dass sich das Christentum im Hellenismus habe behaupten können (222).
Einen deutlich anderen Zugang wählt Gerd Theißen. Er arbeitet eher religionstheoretisch analytisch als religionsgeschichtlich deskriptiv. Dabei knüpft er vor allem an die Ethnologie als Leitwissenschaft an und rezipiert sowohl die Methodik der „dichten Beschreibung“ als auch die Definition von Religion als Symbolsystem von Clifford Geertz (1926–2006). Seine religionstheoretischen Überlegungen sind zudem von der Systemtheorie beeinflusst, etwa wenn er das Symbolsystem des frühen Christentums und dessen Entwicklung zur systemischen Autonomie, d. h. zur Unabhängigkeit vom Judentum, beschreibt. Das Symbolsystem der ersten Christen gewinne zunehmend an Unabhängigkeit und erreiche im Johannesevangelium seinen Höhepunkt, da hier alle Kriterien für ein autonomes System erfüllt seien: Reflexivität, Selbstreferenz, Abgrenzung von der Umwelt, eine eigene Zeichenwelt und autonome Selbsterhaltung (280).
Heikki Räisänen (1941–2015) entscheidet sich für einen religionswissenschaftlichen Zugang. Er bietet eine systematische Darstellung der Überzeugungen des frühen Christentums und versteht diese als „die Ausbildung von Glaubensüberzeugungen in Wechselwirkung zu den Erfahrungen von Individuen und Gemeinschaften“ (5). Räisänens Werk steht mit seiner Thematisierung von „Glaubensüberzeugungen“ einer Theologie des Neuen Testaments recht nahe. Er will sein Konzept aber dadurch von einer solchen unterschieden wissen, dass es vor allem die Vielfalt der neutestamentlichen Aussagen und deren ethische und gedankliche Widersprüche und Probleme thematisiere (6). Die Grundstruktur seiner Darstellung sieht das Christentum in den eschatologischen Erwartungen des Judentums begründet, nach denen eine „entscheidende und bedeutende Wende der Geschichte“ erwartet werde, die das Problem von Tod und Sünde löse und das Heil eröffne (79). Jesus wird diesem zentralen Vorgang der Wende und der Erlösung funktional untergeordnet. Er hat keine davon unabhängige Bedeutung, sondern ist in erster Linie aufgrund seiner Funktion als „Vermittler zwischen Gott und Menschen“ wichtig (202). Nur im Johannesevangelium, wo Jesus als übermenschliches Wesen eine eigenständige Rolle spiele, stehe er tatsächlich im Mittelpunkt der Gedankenwelt einer neutestamentlichen Schrift (217–220). Die Trennung von Judentum und Christentum beruhe auf den Spannungen, die durch die Integration der Heiden in die christlichen Gemeinschaften bewirkt worden seien. Auf dieser Basis entwickele sich das frühe Christentum zu einer eigenständigen Gemeinschaft und bilde ein zunehmend orthodoxes Glaubenssystem aus.