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Einige religionsgeschichtlich und religionstheoretisch orientierte Entwürfe versuchen zwar den gedanklichen Zusammenhang der neutestamentlichen Schriften zu bestimmen, verzichten aber explizit auf die Bezeichnung „Theologie des Neuen Testaments“ und lehnen sich an Geschichte, Religionsgeschichte, Religionswissenschaft oder an Konzeptionen der Kulturwissenschaften wie der Ethnologie an.
Bei diesem Stand der Diskussion wird immer wieder die Frage erörtert, welche Trennlinie zwischen einer Theologie des Neuen Testaments und einer eher un-theologischen geschichtlichen Darstellung, etwa einer Religionsgeschichte oder einer systematischen Religionswissenschaft des frühen Christentums, zu ziehen ist. Es wird als Kennzeichen einer Theologie ein „nach innen“ gerichtetes Interesse, eine „Binnenperspektive“ genannt, die sich in der Bindung des Autors an eine Religionsgemeinschaft und in der Wirkabsicht auf eine gegenwärtige Religionsgemeinschaft erweise. Diese Eigenschaften gelten manchen für eine explizit „theologische Theologie des Neuen Testaments“ als nicht hinreichend. Für eine solche wird als entscheidendes Kriterium die Orientierung an einer zentralen theologischen bzw. religiösen Überzeugung, etwa dem Gottesgedanken bzw. der Selbstmitteilung Gottes, gefordert.4 Man kann demnach Theologien des Neuen Testaments auch danach unterscheiden, ob sie einer starken und damit geschlossenen Theologiedefinition, etwa bei Childs (Existenz Gottes), oder einer schwachen und damit offenen, etwa bei Bultmann (Verhältnis von Gott, Welt und Mensch), folgen.
Der von Bultmann und auch in dieser Theologie des Neuen Testaments gewählte Zugang über einen offenen Theologiebegriff unterscheidet sich von einer systematischen religionswissenschaftlichen Darstellung der „Gedankenwelt“, wie sie Räisänen vorgelegt hat, wiederum in der Hinsicht, dass er vor allem die theologischen Überzeugungen untersucht, die Praktiken und Erfahrungen der Trägergruppen hingegen weniger stark gewichtet. Sowohl eine Religionsgeschichte als auch eine Theologie des Neuen Testaments beruhen allerdings auf der genauen Kenntnis der neutestamentlichen Schriften. Da diese Schriften selbst ihre wesentlichen Aussagen mit einem Konzept von „Gott“ verbinden, können weder Religionsgeschichte noch Theologie diesen Sachverhalt umgehen. Die religionsgeschichtliche, religionstheoretische wie auch die theologische Beschäftigung mit dem Neuen Testament macht eine Auseinandersetzung mit dessen Gottesverständnis unumgänglich.
Eine Theologie, die mit einem offenen Theologiebegriff arbeitet, unterscheidet sich in ihrem wesentlichen Gehalt demnach nur wenig von einer Religionsgeschichte des Neuen Testaments. Beide interessieren sich für die Entwicklung von Überzeugungen und Sichtweisen im Neuen Testament, sodass sich deren Inhalte zu einem hohen Prozentsatz überschneiden. Beide Zugangsweisen bedürfen aber auch einer Reflexion ihrer Werturteile, Deutungskonstanten und Konzeptualisierungen, mit denen sie über die Auswahl, Akzentuierung, Hervorhebung und Einordnung der Sachverhalte, über die sie berichten, entscheiden. Auch an diesem Punkt differieren religionsgeschichtliche, religionswissenschaftliche, kulturwissenschaftliche und theologische Zugänge nicht grundsätzlich voneinander.
Eine Theologie des Neuen Testaments konzentriert sich darauf, das theologische Denken und dessen sprachliche Ausdrucksformen in den neutestamentlichen Schriften herauszuarbeiten und auf eine Weise methodisch zu analysieren, die es ermöglicht, dass sie unter den Verstehensbedingungen der Gegenwart nachvollziehbar werden.
1.6Theologie als „Meistererzählung“
Die Vielfalt des Neuen Testaments stellt vermutlich Joachim Gnilka am deutlichsten heraus. Aus den unterschiedlichen „Glaubenserfahrungen“, die im Neuen Testament dokumentiert seien, gingen unterschiedliche Theologien hervor. Der „Auslegungsprozess“ habe daran anzuknüpfen und damalige Glaubenserfahrungen mit gegenwärtigen Glaubenserfahrungen zu konfrontieren (464). Eine solche Sicht der Vielfalt, die die verschiedenen Positionen unverbunden nebeneinander stehen lässt und keinerlei Versuche unternimmt, gedankliche und theologische Zusammenhänge herzustellen, wirkt beliebig. Deswegen verwundert es nicht, dass weiterhin nach der Einheit in der Vielfalt der Theologien des Neuen Testaments gefragt wird. Hier sind vor allem drei Autoren zu nennen, die bei den Überlegungen zur Theologie des Neuen Testaments in der Gegenwart besondere Aufmerksamkeit verdienen: Udo Schnelle, James Dunn und Nicholas Thomas Wright.
Schnelle verbindet die Erwartungen, die sich an eine Theologie des Neuen Testaments richten, mit theoretischen Überlegungen, die er in der Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Kulturwissenschaft entwickelt hat. Für ihn repräsentieren die Schriften des Neuen Testaments Sinnsysteme, die sich durch Transformationen ausgehend von Jesus von Nazareth über Paulus, die synoptischen Evangelien, Johannes und die übrigen Schriften an die jeweiligen Abfassungsverhältnisse angepasst und doch je für sich signifikant eigene Sinnangebote gemacht haben. Schnelle urteilt wie Theißen, dass das Johannesevangelium einen Höhepunkt darstelle. Er formuliert, indem er Aussagen des Kulturwissenschaftlers Jörn Rüsen über die „Meistererzählung“ (engl. master narrative) zitiert: „Das Johannesevangelium stellt den Höhepunkt frühchristlicher Theoriebildung dar und gehört zu den ‚Meistererzählungen‘, die Menschen ‚eine Vorstellung von ihrer Zugehörigkeit, ihrer kollektiven Identität, vermitteln: nationale Begründungs- und Erfolgsgeschichten, religiöse Heilsgeschichten‘“ (707). Das Neue Testament als Erzählung könne durch die Betrachtung seiner Vielfalt und Kohärenz einerseits und seiner Sinnleistungen und Transformationen andererseits damals und auch heute ein in sich überzeugendes Sinnangebot sein, das vom Handeln Gottes in Jesus Christus berichte und die „Jesus-Christus-Geschichte“ nacherzähle (25–29). In der Durchführung seiner Wissenserzählung folgt Schnelle allerdings weitgehend den traditionellen theologischen Topoi in Anlehnung an die Artikel des Apostolikums, indem er für jede neutestamentliche Schrift schematisch die theologischen Positionen zu Theologie, Christologie, Pneumatologie, Soteriologie, Anthropologie, Ethik, Ekklesiologie und Eschatologie behandelt (45). Die neutestamentlichen Überlieferungen werden mit wenigen Ausnahmen (Jud, 2Petr) durch diese Vorgehensweise unter Fragestellungen ausgewertet, zu denen sie zum Teil selbst gar nichts beitragen möchten, etwa wenn auch die Logienquelle auf ihre Ekklesiologie befragt wird.
So entsteht eine zwar kulturwissenschaftlich gerahmte, inhaltlich aber doch geradezu dogmatisch strukturierte Theologie des Neuen Testaments. Sie gesteht die eigene Perspektivität und Standortgebundenheit ein (28), leitet daraus aber die Berechtigung zu einer entschiedenen Positionalität ab, die nur gelegentlich kritisch und selbstreflexiv in die Vielfalt der Forschungsmeinungen eingeordnet wird. Die plurale Situation der internationalen neutestamentlichen Wissenschaft der Gegenwart erfordert es aber, die eigene Position als Teil der Vielfalt von Forschungsmeinungen zu analysieren und zu reflektieren.
Dunns Idee des Theologisierens („theologizing“) schlägt einen eher pragmatischen Umgang mit dem Neuen Testament vor: Eine finale Botschaft oder Mitte des Neuen Testaments gebe es zwar nicht, aber immerhin setze der Kanon des Neuen Testaments seiner inneren Vielfalt auch Grenzen (9). „Glaube“ und „Gott“ seien zentrale Themen des Neuen Testaments, sodass eine Religionsgeschichte, die diese Themen meide, keine angemessene Alternative sei. Für Dunn sind trotz der Vielfalt alle neutestamentlichen Schriften auf Jesus Christus ausgerichtet und es existiere ein „substantielles Kontinuum“ von der impliziten Christologie Jesu von Nazareth zur expliziten Christologie der neutestamentlichen Schriften (156 f.). Der Gegenwartsbezug sei durch einen Prozess des Theologisierens („Doing NT-theology“ oder „theologizing“) gegeben, der bereits im Neuen Testament stattfinde und den jeder Leser des Neuen Testaments wahrnehmen und selbst weiterführen könne (16 f.).
Die Kontinuität, die Dunn betont, wird auch in den Arbeiten von Wright hervorgehoben, dort aber noch deutlicher zu einer großen Gesamtgeschichte, einer Art Meistererzählung der einen Theologie der Bibel geformt, in den Worten Wrights: Dem „einen-Plan-durch-Israelfür-die-Welt“.5 Aus der Perspektive der deutschsprachigen Theologie scheint es, dass Wright das Anliegen Cullmanns, eine Theologie des Neuen Testaments als Heilsgeschichte zu konzipieren, aufgenommen und energisch durchgeführt hat. Hinter den Schriften des Neuen Testaments steht nach Wright vor allem eine große Erzählung („story“): Die Realisierung von Gottes Plan in der Schöpfung über den Bund mit seinem Volk Israel und über das neue Volk des Messias aus Heiden und Juden bis hin zum Gericht beweise die Treue Gottes zu sich selbst und zu seiner Schöpfung. Für Wright ist die Christologie demnach ein wichtiger, aber ein dem Heilswillen Gottes und seiner Treue klar untergeordneter Aspekt der Erzählung („story“), die das Neue Testament überliefert.
In der Konzeption Wrights wird zwar keine Mitte des Neuen Testaments definiert, aber es werden doch alle Teile einem Ganzen zugeordnet. Diskontinuitäten in der biblischen Meistererzählung gibt es keine, allerdings dramatische Spannungen, die nach der einen Lösung in der Liebe Gottes drängen. Wright nutzt damit konsequent die Stärken einer narrativen Theologie, die es vermag, Gegensätze und Konflikte zu thematisieren und diese dann auch in einer Art dramatischer Katharsis aufzulösen. Wrights These von der einen großen Geschichte Gottes geht aber über vieles hinweg, was der näheren Erörterung bedurft hätte. Detaillierte, selbstreflexive und kritische Argumentationen sind selten. Die Überzeugungskraft wird vielmehr aus einer intensiven Rhetorik mit zahlreichen suggestiven Ausdrucksformen gewonnen. Wright scheut sich auch nicht, in seinen Publikationen den Stil der neutestamentlichen Schriften zu imitieren und die eigenen Aussagen mit diesen auf eine Weise zu verschmelzen, die zu der Suggestion führt, dass durch Wright zumindest Paulus, wenn nicht gar Gott selbst spricht.
Die gegenwärtigen Entwürfe zur Theologie des Neuen Testaments nutzen die Möglichkeiten, die Wissenserzählungen bieten. Diejenigen Sachverhalte, die Bultmann und anderen als unvereinbare sachliche Gegensätze erschienen, können als Teil eines dramatischen Geschehens (Wright, teilweise Dunn) oder aber als Teil einer komplexen identitätsbildenden Meistererzählung (Schnelle) sinnbildend integriert werden. Die Theologie des Neuen Testaments ist damit nicht mehr ein Unternehmen, das Göttliches von Menschlichem scheidet und das die eine unverrückbare ewige Wahrheit formuliert (Gabler). Vielmehr ist eine Theologie des Neuen Testaments das Ergebnis der Auseinandersetzung um die Frage, welche grundlegenden, gemeinschaftsbildenden und identitätsstiftenden Überzeugungen in den ältesten Texten des Christentums formuliert sind und wie sie in den gegenwärtigen Debatten des theologizing/Theologisierens (Dunn) wissenschaftlich reflektiert verwendet werden können.
1.7Ergebnis und Ausblick
Die Entwürfe zur neutestamentlichen Theologie in der Gegenwart lassen sich demnach in etwa nach drei Richtungen unterscheiden:
a)„Theologische“ Theologien des Neuen Testaments wählen als Deutungskonstante der exegetischen und historischen Befunde die Korrespondenz zwischen der Selbstmitteilung Gottes (Offenbarung), den biblischen Schriften und den Erwartungen der Glaubenden der Gegenwart. Sie bewegen sich in der Spannung zwischen historischer Exegese und systematischer Theologie der Gegenwart (Childs, Hahn, Stuhlmacher, Wilckens).
b)„Untheologische“ Theologien bzw. religionswissenschaftliche und religionsgeschichtliche Entwürfe folgen entweder vorrangig dem Paradigma ihrer Bezugswissenschaften oder knüpfen an unterschiedlichen sinnbildenden Konzeptionen der Kulturwissenschaften und der Philosophie an. Sie bewegen sich in der Spannung zwischen historischer Exegese und kulturwissenschaftlichen Leitdisziplinen wie der Ethnologie oder der Religionswissenschaft (Räisänen, Theißen, Zeller).
c)„Erzählende“ Theologien des Neuen Testaments führen die theologische Tradition einer dramatischen Heilsgeschichte, die von der Schöpfung über verschiedene Krisen und Rettungen zur endgültigen Erlösung führt, weiter und konstruieren eine Meistererzählung bzw. story, die von einer dramatischen Krise in Israel oder in der Heilsgeschichte und ihrer rettenden Auflösung durch Christus berichtet. Sie orientieren sich bei ihren Rekonstruktionen an den Deutungsoptionen, die die theologische Tradition anbietet, und entnehmen den neutestamentlichen Schriften eine Ereignisfolge, die sie als theologisch relevant interpretieren und zu einer sinn- und gemeinschaftsstiftenden Erzählung formen. Sie bewegen sich damit in der Spannung zwischen historischer Exegese und kulturwissenschaftlich orientierter sowie theologisch interessierter Geschichtswissenschaft (Dunn, Wright, Schnelle).
Die Zusammenstellung zeigt, dass die historische Exegese in jedem Fall als grundlegende Basis aller weiterer Überlegungen angesehen wird. Die methodisch geschulte Kenntnis und kritische Analyse der neutestamentlichen Schriften ist für eine Theologie des Neuen Testaments unverzichtbar. Sie allein kann aber nicht alle Zusammenhänge und Beziehungen wie auch Sinnpotentiale dieser Texte erfassen. Um über die Haltung des naiven Historikers oder Theologen hinauszukommen, bedarf es neben der geschulten Quellenkenntnis auch einer reflektierten Deutungskompetenz, die zum Verstehen der Anliegen der Texte und der in ihnen repräsentierten Menschen, Autoren, Gesprächspartner, Gegner, Streitenden und Widerstreitenden führt. Eine solche Deutungskompetenz setzt grundlegende Kenntnisse der antiken Religionsgeschichte und vor allem des antiken Judentums voraus. Ein großer Teil der religionsgeschichtlich relevanten Themen und Diskurse befasst sich mit dem Handeln des biblischen Gottes und der anderen Götter („Götzen“), der Beziehung zwischen Israel, den anderen Völkern („Heiden“) und dem Gott Israels und schließlich mit den Krisen, in die diese Beziehungen durch historische Ereignisse geraten. Neben der historischen und der religionsgeschichtlichen Kompetenz bedarf die komplexe Gestalt der in neutestamentlicher Zeit aufgeworfenen Fragen auch einer explizit theologischen Vertiefung, die sich mit Themen wie Sünde, Heil, Erlösung, Gericht oder Handeln Gottes in einer systematisch konstruktiven Haltung auseinanderzusetzen weiß und zwar in einer Tiefe, die über die deskriptive Aufgabe hinaus auch eine theologische Sachkritik ermöglicht.
Welches Verständnis von Theologie ist dieser vertieften theologischen Analyse als Deutungskonstante zugrunde zu legen? Zumindest eine solche, die zunächst im Sinne von Dunns theologizing oder Dalferths Interpretationspraxis als eine Praxis des Theologisierens zu bestimmen ist. Diese Praxis hat zwar die Kenntnis der theologischen Rezeptionsgeschichte des Neuen Testaments als Voraussetzung, sollte aber dennoch mit einem offenen Theologiebegriff arbeiten, der die Ergebnisse nicht im Vorhinein auf eine bestimmte Theologie festlegt. Ein solcher offener Theologiebegriff als Deutungskonstante ist demnach notwendig ein sogenannter schwacher, d. h. nur in Umrissen definierter Theologiebegriff, der die Erfassung der pluralen und divergierenden theologischen Vorstellungen in den neutestamentlichen Schriften ermöglicht.
Eine der oft nicht wahrgenommenen Stärken der Theologie Bultmanns ist es, dass er ebenfalls von einem material schwachen Theologiebegriff ausgeht. Er folgt seiner neukantianischen begrifflichen Schulung und analysiert, mit welchen Begriffen die neutestamentlichen Autoren das Verhältnis von Gott, Welt und Mensch erfassten und zu verstehen suchten. Auf dieser Basis kommt er zu dem Schluss, dass das Verhältnis von Gott, Mensch und Welt am klarsten im Kerygma zum Ausdruck komme, das den Ruf Gottes (Gott) als Botschaft von Kreuz und Auferstehung Christi in der Forderung der eschatologischen Existenz (Mensch) und der Entweltlichung (Welt) formuliere. Dieser Theologiebegriff, der nach der Explikation des Verhältnisses von Gott, Welt und Mensch in den neutestamentlichen Schriften fragt, liegt auch diesem Entwurf einer Theologie des Neuen Testaments zugrunde. Diese begriffliche Konstellation kann aber nicht mehr wie bei Bultmann als Deutungskonstante für eine erschöpfende Erfassung der Theologie des Neuen Testaments verstanden werden. In diesen Begriffen sind nicht, wie der Neukantianismus meinte, alle Anschauungen, d. h. historischen und empirischen Realisierungen, verdichtet bzw. erfasst, vielmehr sind auch die Begriffe aufzulösen und kulturwissenschaftlich zu erweitern. Meist wird man nicht eine im Begriff gefasste Sache, etwa Gerechtigkeit, selbst erschließen können – der Poststrukturalismus ist ohnehin der Ansicht, dass das gar nicht möglich sei – sondern auf Interpretationen, Praktiken des Umgangs mit dieser Sache und auf Diskurse um diese stoßen. Zudem ist die Bedeutung der Narrativität für das menschliche Wissen ernst zu nehmen. Es sind nicht nur Gedanken und Argumente, die das Verhältnis der Begriffe bestimmen, sondern eben auch dramatische Konstellationen und Erzählungen, Symbole, Metaphern und Rituale sowie amorphe Konzepte wie „Sünde“ und nur diskursiv zu beschreibende Konstellationen wie „rein und unrein“.
Das Verständnis, das Schnelle und Wright von der Bedeutung der Erzählung für eine Theologie des Neuen Testaments entwickeln, entlässt ebenfalls nicht aus der Notwendigkeit der theologischen Urteilsbildung. Ein vermeintlich einfaches Nacherzählen bringt erhebliche Defizite mit sich. Das offensichtlichste besteht darin, dass sich die angebotenen Wissensgeschichten der Theologie des Neuen Testaments signifikant unterscheiden. Theologisch bedeutsamer ist allerdings die Einsicht Lyotards, auf den die Theorie der Wissenserzählung zurückgeht, dass Erzählungen nicht nur Form, sondern auch Inhalt sind, genauer gesagt, dass sie auf eine Praxis verweisen und ein Versprechen in sich tragen. Lyotard ist der Ansicht, dass die Wissenserzählung der Moderne zwei verschiedene Versprechen gemacht, aber nicht eingelöst habe: Einerseits versprach Wissen als spekulatives Wissen um seiner selbst willen philosophische Freiheit und Wahrheit, andererseits kündigte es auch an, zu politischer Freiheit im Sinne von Gerechtigkeit zu führen. Nach Lyotard hat die moderne Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft keines dieser Versprechen, Freiheit oder Gerechtigkeit, eingelöst bzw. diese konkurrierten unversöhnlich miteinander. Welches Versprechen formuliert eine Theologie des Neuen Testaments als Wissenserzählung? Freiheit? Wahrheit? Gerechtigkeit? Sie sollte zumindestens eine signifikante Annäherung an alle drei genannten Zusagen erreichen und diese in Beziehung zu den Eigenschaften, mit denen sich der biblische Gott selbst vorstellt, interpretieren (Ex 34,6): „Der Herr ist ein barmherziger und liebevoller Gott, langsam im Zorn, voll Gnade und Treue.“
Die vorliegenden Theologien des Neuen Testaments verfolgen unterschiedliche Konzeptionen, die sich nach den gewählten interpretativen Ansätzen und Deutungskonstanten in drei Gruppen einteilen lassen: a) „theologische“ Theologien orientieren sich an einer als normativ verstandenen systematischen Theologie, b) „untheologische“ Theologien folgen Paradigmen aus der Religionsgeschichte und Religionstheorie, c) „erzählende“ Theologien bilden biblisch-theozentrische (Wright) oder neutestamentlich-christologische (Schnelle) Wissenserzählungen, die als „Meistererzählungen“ orientierende Funktionen für das Selbstverständnis von Theologie und Kirche der Gegenwart beanspruchen.
Gesamtdarstellungen einer Theologie des Neuen Testaments 6
1787:Gabler, Johann Philipp: De iusto discrimine biblicae et dogmaticae regundisque recte utriusque finibus (Von der richtigen Unterscheidung der biblischen und der dogmatischen Theologie und der rechten Bestimmung ihrer beiden Ziele), in: Otto Merk, Biblische Theologie des Neuen Testaments in ihrer Anfangszeit. Ihre methodischen Probleme bei Johann Philipp Gabler und Georg Lorenz Bauer und deren Nachwirkungen, Marburg 1972 (MThSt 9).
1864:Baur, Ferdinand Christian: Vorlesungen über neutestamentliche Theologie, hg. v. Ferdinand Friedrich Baur, Leipzig 1864.
1953:Bultmann, Rudolf: Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 1980.
1965:Cullmann, Oscar: Heil als Geschichte. Heilsgeschichtliche Existenz im Neuen Testament, Tübingen 1965.
1967:Conzelmann, Hans: Grundriß der Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 41987.
1969:Kümmel, Werner Georg: Die Theologie des Neuen Testaments nach seinen Hauptzeugen. Jesus, Paulus, Johannes, Göttingen 51987.
1971:Jeremias, Joachim: Neutestamentliche Theologie. Erster Teil. Die Verkündigung Jesu, Gütersloh 41979.
1974:Ladd, George Eldon: A Theology of the New Testament, Cambridge 1994.
1974:Lohse, Eduard: Grundriß der neutestamentlichen Theologie, Stuttgart 51998.
1976:Goppelt, Leonhard: Theologie des Neuen Testaments, Göttingen 31991.
1981:Thüsing, Wilhelm: Die neutestamentlichen Theologien und Jesus Christus. Grundlegung einer Theologie des Neuen Testaments, 3 Bd., Münster 1981–1999.
1993:Childs, Brevard S.: Die Theologie der einen Bibel, 2 Bd., Freiburg 1994 u. 1996 [engl. O.: Biblical Theology of the Old and New Testaments, 1993].
1994:Berger, Klaus: Theologiegeschichte des Urchristentums. Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 21995.
1994:Gnilka, Joachim: Theologie des Neuen Testaments, Freiburg i B. 1994.
1995:Hübner, Hans: Biblische Theologie des Neuen Testaments, 3 Bd., Göttingen 1990–1995.
1996:Strecker, Georg: Theologie des Neuen Testaments, Berlin/New York 1996.
1999:Stuhlmacher, Peter: Biblische Theologie des Neuen Testaments, 2 Bd., Göttingen 32005 u. 1999.
2000:Theißen, Gerd: Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 32003.
2002:Hahn, Ferdinand: Theologie des Neuen Testaments, 2 Bd., Tübingen 22005.
2002:Wilckens, Ulrich: Theologie des Neuen Testaments, 2 Bd., Neukirchen-Vluyn 2002–2009.
2002:Zeller, Dieter: Die Entstehung des Christentums, Konsolidierung in der 2./3. Generation, in: ders. (Hg.): Christentum I. Von den Anfängen bis zur konstantinischen Wende, Stuttgart 2002, 15–222.
2003:Niederwimmer, Kurt: Theologie des Neuen Testaments. Ein Grundriss, Wien 32004.
2007:Schnelle, Udo: Theologie des Neuen Testaments, Göttingen 22014.
2009:Dunn, James D.G.: New Testament Theology. An Introduction, Nashville 2009.
2010:Räisänen, Heikki: The Rise of Christian Beliefs. The Thought World of Early Christians, Minneapolis 2010.
2011–2014:Wright, Nicholas Thomas: Die Ursprünge des Christentums und die Frage nach Gott, 3 Bd., Marburg 2011–2014; Bd. 4 für 2017 angekündigt [engl. O.: Christian Origins and the Question of God, 4 Bd., 1992–2013].
Literatur
Bayer, Oswald/Ringleben, Joachim/Slenzka, Notger: Die Autorität der Heiligen Schrift für Lehre und Verkündigung der Kirche, Neuendettelsau 2000.
Bormann, Lukas: Kulturwissenschaft und Exegese. Gegenwärtige Geschichtsdiskurse und die biblische Geschichtskonzeption, in: EvTh 69 (2009), 166–185.
Breytenbach, Cilliers/Frey, Jörg (Hg.): Aufgabe und Durchführung einer Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 2007 (WUNT 205).
Dalferth, Ingolf Ulrich: Evangelische Theologie als Interpretationspraxis. Eine systematische Orientierung, Leipzig 2004.
Deuser, Hermann/Korsch, Dietrich (Hg.): Systematische Theologie heute. Zur Selbstverständigung einer Disziplin, Gütersloh 2004.
Eskola, Timo: A Narrative Theology of the New Testament. Exploring the Metanarrative of Exile and Restoration, Tübingen 2015 (WUNT 350).
Evangelische Theologie, Themenheft Neutestamentliche Theologie 64 (2004).
Klumbies, Paul-Gerhard: Herkunft und Hoffnung der Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 2014.
Lauster, Jörg: Schriftauslegung als Erfahrungserhellung, in: Friederike Nüssel (Hg.), Schriftauslegung, Tübingen 2014 (TdT 8), 179–206.
Merk, Otto: Biblische Theologie des Neuen Testaments in ihrer Anfangszeit. Ihre methodischen Probleme bei Johann Philipp Gabler und Georg Lorenz Bauer und deren Nachwirkungen, Marburg 1972 (MThSt 9).
Morgan, Robert: New Testament Theology and/or Theological Interpretation of Scripture, in: Jochen Flebbe/Matthias Konradt (Hg.), Ethos und Theologie im Neuen Testament, Neukirchen-Vluyn 2016, 481–510.