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«Veronika, kannst du kommen und dich für erste Erkenntnisse umschauen?», fragte Eugen Binggeli und meinte damit Veronika Schuler vom Institut für Rechtsmedizin IRM. Auf dem Weg zum Schneemann – vorsichtig in den Spuren ihrer Vorläufer marschierend – musste die Rechtsmedizinerin schmunzeln. Wie lange es wohl dauern würde, fragte sie sich, bis sich jemand bei ihr erkundigte, ob man zum Todeszeitpunkt oder zu den Tatumständen schon etwas sagen könne? Gemeinsam mit den Kollegen vom KTD legte die Fachfrau die Leiche frei, immer im Bestreben, den Schneemann nicht umstürzen zu lassen. Der durchgefrorene Körper glich einem grossen Würfel, das Gesicht war nicht zu sehen, auch keine sofort erkennbaren Spuren von Gewaltanwendung. Es folgte ein heikler Moment, denn zum Auftauen beim IRM im Berner Länggassquartier musste der Körper mit einem Kranwagen der Feuerwehr gehoben und in ein Spezialfahrzeug gehievt werden. Diese Arbeit bereiteten Schuler und Binngeli soweit als machbar im Zelt vor und deckten dabei die Leiche ab, sodass mögliche Gaffer den Grund des Hebemanövers höchstens erahnen konnten. Soweit es sich beurteilen liess, ging dies glatt über die Bühne, sah man davon ab, dass der anwesende Lokaljournalist versucht hatte, Fotos des Zeltinnern zu machen, allerdings vergeblich.
Als Veronika Schuler wieder ausserhalb des Gartens stand, entdeckte sie Joseph Ritter, Dezernatsleiter Leib und Leben bei der Kantonspolizei im Ringhof Bern. Neben ihm stand dessen Mitarbeiterin, Regula Wälchli.
«J. R., das ist aber eine Überraschung, dich hier zu sehen!»
«Wirklich? Wen hast du denn erwartet? Etwa Commissario Guido Brunetti aus Venedig? Oder Gunnar Barbarotti aus Kymlinge in Schweden?»
Beide mussten herzlich lachen, denn schon seit Jahren infomierte Veronika Schuler Joseph Ritter und sein Team über Obduktionsergebnisse aus dem IRM bei Todesfällen mit speziellen Begleitumständen – zum letzten Mal im Zusammenhang mit dem Tod von Thomas Kowalski und Agneta Gomulka im vergangenen Jahr.*
«Ich habe auch gleich Regula Wälchli mit aufgeboten, um diese Zeit wohl sehr zur Freude unseres gemeinsamen Kollegen und ihres Lebenspartners Elias Brunner, aber Regula ist eine Gstaaderin, und Insiderwissen schadet bekanntlich nie. Du kennst sie ja auch.»
Die beiden Frauen begüssten sich.
«Veronika, darf ich dich ärgern?», wollte Ritter wissen.
«J. R., das kannst du nicht. Aber vorher möchte ich dir eine Frage stellen.»
«Ich bitte darum.»
«J. R., was hast du am Abend des vergangenen vierten Oktober gegessen?» «Wie soll ich denn das wissen? Wenn schon, müsste ich in meiner Agenda nachschauen, ob an diesem Abend etwas Besonderes war. War da etwas Besonderes, Veronika, am vierten Oktober?»
«Wie soll ich das wissen, J. R.? Und deshalb brauchst du gar nicht zu fragen, ob ich schon Aussagen zum Todeszeitpunkt machen kann. Oder zu den Tatumständen. Ich muss die Leiche zuerst auftauen lassen, das dauert vermutlich bis Mittwoch.» «Alles klar, Veronika.»
Mehr brauchte die Fachfrau mit ihrem unverkennbaren Thurgauer Dialekt gar nicht zu sagen, denn jeder Kriminalbeamte wusste, dass es bei einer durchgefrorenen Leiche praktisch unmöglich war, genaue Rückschlüsse über den Todeszeitpunkt herauszufinden. In erster Linie galt es nun, kriminalistisch vorzugehen, zum Beispiel mit der Nutzung des Handys, anhand möglicher Fahrkarten oder mit der letzten Lebendsichtung durch Zeugen. Hinweise gab es möglicherweise durch die Fäulnisveränderungen zum Zeitpunkt des Einfrierens. War dabei schon längere Zeit vergangen, konnte die Rechtsmedizin mit den ebenfalls eingefrorenen Maden eine Todeszeitschätzung entomologisch vornehmen, zu der die Liegezeit im Schnee addiert werden musste, sofern diese bekannt war. Anhand des Mageninhaltes konnte Veronika Schuler allenfalls noch Schätzungen anstellen, nach welcher Mahlzeit die Frau verstorben war, ohne aber den eigentlichen Todestag damit näher eingrenzen zu können.
«Das einzige, was ich im Moment vermuten kann, ist, dass die Frau nicht unmittelbar nach ihrem Tod im Schneemann vergraben wurde, denn um ihre Leiche herum gab es keine schmalen Hohlräume bis zur Schneedecke, von der Körperwärme herrührend. Interessant ist auch, dass der Schneemann ob dem grossen Hohlraum nicht gekippt ist.»
«Oder aber der Schneemann wurde gleich um sie herum gebaut», antwortete Ritter.
«Theoretisch eine Möglichkeit, ja, aber sehr unwahrscheinlich.»
«Hier in Gstaad wird seit zehn Tagen eine 48-jährige Frau vermisst, ungefähr einsachtzig gross, schlank, blonde Haare. Könnte es sich um die Tote handeln?», wollte Regula Wälchli wissen.
«Nun, die Schuhgrösse der Schneefrau ist 41, das habe ich bereits feststellen können, die Tote dürfte also einssiebzig oder grösser sein, blonde Haare hat sie auch. Aber das Alter kann ich so nicht bestimmen. Wie gesagt: spätestens Mittwoch.» Und zum selbstverständlich rein zufällig herumstehenden Journalisten des Anzeigers von Saanen gewandt fügte Schuler an: «Journalisten gehören ausserhalb der polizeilichen Absperrungen, hopp, subito!», worauf der junge Schreiberling wie befohlen tat.
«Ich bin ja gespannt, was das für eine Berichterstattung gibt …», schmunzelte die Rechtsmedizinerin.
Tobias Schoch von MeteoSchweiz erklärte, dass der Schneemann aufgrund der verschiedenen Schneeschichten im Garten «vermutlich irgendwann in der zweiten Januarhälfte, sicher aber vor dem ersten Februar» gebaut worden war. Am 27. Januar habe es starken Schneefall gegeben, an gewissen Orten bis zu 50 Zentimeter. Diese Aussagen bestätigte die Beobachtung von Siebi Heiri, der von «vor ungefähr drei Wochen» gesprochen hatte. Schoch erwähnte auch noch sichtbare Schneehaufen im unmittelbaren Umfeld des Schneemanns: «Diese Schneehaufen wurden mit grösster Wahrscheinlichkeit nachträglich aus der untersten Kugel ausgekratzt. Daraus schliesse ich, dass die Frau erst nachträglich eingebaut wurde, sie diente sozusagen nicht als stabilisierendes Fundament.»
Zur gleichen Zeit, an anderer Stelle auf der Strasse, war Staatsanwältin Christine Horat im Gespräch mit «Ritschi» Müller von Gstaad Watch.
«Herr Müller, nennen Sie mir die Handynummer von Herrn Ugromow, bitte?» «Ich bin nicht befugt, Daten von unseren Kunden an Dritte weiterzugeben.» «Herr Müller, haben Sie ein Problem mit Frauen? Was soll dieses Machogehabe? Geben Sie mir umgehend seine Telefonnummer. Zackig. Oder möchten Sie ein Verfahren wegen Behinderung der Justiz am Hals?»
Zwei Minuten später stand Christine Horat in Verbindung mit Witali Ugromow. Um eine einigermassen entspannte Gesprächsatmosphäre zu schaffen, erkundigte sich die Staatsanwältin mit einigen Nettigkeiten im Bereich des Smalltalks auf Englisch, wobei Witali Ugromow plötzlich zu einem sehr guten Schriftdeutsch überging.
«Ich habe unter anderem Germanistik studiert, in Berlin-Ost, Mitte der Siebzigerjahre. Was wollen Sie genau von mir wissen, Frau … ehh .… wie sagten Sie doch gleich?»
«Horat, Christine Horat. Sagen Sie, Herr Ugromow, wer hat den grossen Schneemann in Ihrem Garten gebaut – und wann?»
«Mein Chauffeur und mein Koch, Ende Januar, aber deswegen rufen Sie ja bestimmt nicht an, wegen des Schneemanns.»
Christine verneinte und erklärte den Grund ihres Anrufs. Noch bevor sie zu Ende sprechen konnte, unterbrach sie Ugromow unwirsch. «Und jetzt wollen Sie mir unterstellen, ich sei ein Mörder?»
«Nein, das will ich nicht, Herr Ugromow. Aber ich muss Sie bitten, so schnell als möglich in die Schweiz zu kommen, damit wir Sie vom möglichen Täterkreis ausschliessen können.»
«Also gehöre ich zum Täterkreis! Ist es das, was Sie mir sagen wollen, Frau Oratt?»
Die Staatsanwältin war darauf bedacht, die Situation nicht eskalieren zu lassen. «Nein, das sage ich nicht, Herr Ugromow, deshalb ist Ihre Anwesenheit hier in Gstaad ja so wichtig. Wann können Sie hier sein? Sie reisen ja offenbar – so hat man mir jedenfalls gesagt – jeweils mit dem Privatflugzeug nach Genf, um sich nachher mit einem Helikopter nach Gstaad bringen zu lassen. Im Idealfall könnten Sie also noch am gleichen Tag zurück in Moskau sein.»
«Bitte, wie, was verlangen Sie?»
«Wann können wir Sie hier in der Schweiz befragen, Herr Ugromow? Immerhin liegt eine Tote in Ihrem Garten.»
«Bestimmt nicht!»
«Bitte, wie?»
«Was haben Sie nicht verstanden, Frau Oratt? Ich komme nicht!»
«Herr Ugromow, so geht das aber nicht …»
«Reden Sie mit meinem Anwalt in Genf, Jean-Claude Delacroixriche.»
«Herr Ugromow, selbst wenn ich mit Herrn Delacroixriche sprechen würde, Sie müssen dabei sein. Und morgen lasse ich das Haus durchsuchen. Sagen Sie das Ihrem Herrn Delacroixriche.»
«Ich verbiete Ihnen das! Do svidaniya, Frau Oratt!»
Damit beendete Witali Ugromow das Gespräch, einseitig. Christine Horat wusste, dass «Do swidanja» auf Russisch «Auf Wiedersehen» bedeutete –, und «Swoboda», der Name von Ugromows Chalet, «Freiheit».
Inzwischen standen die Uhrzeiger auf 1.30 Uhr. Die Verantwortlichen einigten sich darauf, ihre Arbeiten um 9 Uhr fortzusetzen, um diese Zeit machte es keinen Sinn mehr. «Herr Müller», sprach Christine Horat den Gstaad-Watch-Chef an, «aktivieren Sie bitte sämtliche Alarmanlagen des Chalets und informieren Sie mich umgehend, sollte etwas passieren.»
«Ritschi» Müller nickte und tauschte mit Horat die Geschäftskarten aus.
«Neun Uhr gilt auch für Sie oder einen Ihrer Stellvertreter, bitte nehmen Sie alle Zutrittsinstrumente für das Chalet Swoboda mit, wir werden das Haus durchsuchen, ob das diesem Herrn Ugromow nun passt oder nicht. Wo sind wir hier denn?».
Zum Schluss bat Christine Horat den Gstaad-Watch-Chef, zwei Mitarbeitende aufzubieten, um das Anwesen während der Nacht vor Neugierigen zu schützen. «Wird gemacht. Sagen Sie, wem kann ich diese zusätzlichen Dienstleistungen in Rechnung stellen?»
«Herrn Ugromow, bei dem Sie ja unter Vertrag stehen. Verursacherprinzip nennen wir das.»
15 Minuten später standen zwei Herren in der Nähe der beiden Strassenabsperrungen, mit gegenseitigem Sichtkontakt.
Christine Horat hatte bemerkt, dass Joseph Ritter ihr Gespräch mit Witali Ugromow mindestens zum Teil mitverfolgt hatte.
«Wird wohl nicht kommen, Herr Ugromow», sagte Ritter mit leiser Stimme, just bevor die Staatsanwältin in ihr Auto steigen wollte.
«Mir ist doch auch klar, dass er von seinem Recht auf Aussageverweigerung Gebrauch machen wird, um sich nicht selber zu belasten, aber das wollte ich ihm nicht auf die Nase binden.»
«Was glauben Sie, wie geht es jetzt weiter?»
Horat seufzte. «Ich bin bloss gespannt», antwortete sie, «um welche Uhrzeit ich einen Anruf von Herrn von Kreuzreich erhalten werde, denn der ist mir so sicher wie das Amen in der Kirche.»
«Von Kreuzreich?»
«Die deutsche Fassung von Delacroixriche, Ugromows Anwalt aus Genf. Ugromow wird ihm bestimmt meine Handynummer mitteilen, die er im Display gesehen hat.»
Ritter und Horat lachten beide, zum grossen Teil ihrer eigenen Müdigkeit wegen. Und selbstverständlich hatte vorher der KTD noch alle Zugänge und Türen des Chalets Swoboda mit amtlichen Klebern versiegelt, mit dem Hinweis an die Anwesenden, dass heute Nacht keine Hausdurchsuchung mehr auf dem Programm stehen würde.
* Thomas Bornhauser: Fehlschuss. Weber Verlag, Thun/Gwatt 2015.
Zehn Tage zuvor
Freitag, 7. Februar: Zufälligerweise hatten sowohl Michel Chevalier als auch Monika Grünig Tagesdienst auf dem Polizeiposten in Gstaad, derweil sich zwei Kollegen auf Routinepatrouille im Dorf befanden. Insgesamt arbeiteten während der Hochsaison und aufgrund der verschiedenen Dienstpläne mit einem Bezirkschef, einem Wachtchef, zwei Gruppenchefs und zehn Mitarbeitenden bis zu 14 Polizistinnen und Polizisten auf dem Oberländer Posten.
Gegen 10 Uhr – im Rapport hatte Monika Grünig exakt 10.03 Uhr notiert – erschien Matthias Kaufmann auf dem Posten mit einem speziellen Anliegen. «Ich muss eine Vermisstenanzeige machen.»
Nun war Matthias Kaufmann nicht irgendwer, sondern ein Immobilien-Tycoon, bekannt – und berüchtigt – im ganzen Saanenland. Zusammen mit seinem Bruder Erich hatte er bereits in den Sechzigerjahren den Riecher dafür, dass die Region mehr zu bieten vermochte als eine Postkartenidylle mit Kühen und Bergen. Im Laufe der Jahre investierten die beiden – durchaus mithilfe von einigen Banken – gezielt in Überbauungen, Chalets, Restaurants und Hotels, immer mit sicherem Instinkt für eine optimale Rendite. Selbst die paar wenigen Ausnahmen ergaben unter dem Strich noch immer knapp schwarze Zahlen. Den Kaufmann-Brüdern gehörten Lokalitäten an bester Lage, die sie zu «Marktpreisen» an internationale Konzerne vermieteten. Allein in Gstaad fanden sich drei bekannte Hotels und vier Restaurants in ihrem Portefeuille. Und dennoch, ein Umstand vermochte den Zorn in ihnen zu wecken: Ein ausländischer Investor – angeblich eine Private-Equity-Firma aus Kapstadt mit einem südafrikanischschweizerischen Doppelbürger als Vertreter in der Schweiz – hatte in letzter Zeit damit begonnen, über verschiedene Immobilienhändler Liegenschaften in Gstaad zu kaufen und gleich – selbstredend gewinnbringend – weiterzuvermieten. «Dieser ‹Cheib› pfuscht uns ins Handwerk, nimmt mich wunder, woher der Typ sein Geld hat!», hatte sich, so wussten Insider zu berichten, Matthias Kaufmann mehrfach in trauter Runde geärgert. Und dieses Treiben eines Ausländers gehöre gestoppt. Nur eben – wie?
Beide Kaufmann-Brüder, die ebenfalls eigene Chalets am Oberbort besassen, waren geschieden, Erich dreimal, Matthias einmal, nicht zuletzt deshalb, weil es ein offenes Geheimnis war, dass beide Herren auch in ihrem fortgeschrittenen Alter – «Mättu» war 74, «Eru» 72 Jahre alt – noch die Freuden des Lebens zu geniessen wussten, wahrscheinlich mit freundlicher Unterstützung von Viagra und Cialis, ganz unter dem Motto und frei nach Oscar Wilde: «Einer Versuchung solltest du unbedingt nachgeben, denn wer weiss, ob sie nochmals kommt?» Dass Matthias Kaufmann eine Vermisstenmeldung machen wollte, liess Michel Chevalier aufhorchen und aufschauen.

Das Gstaad Palace ist das wohl bekannteste Hotel im Saanenland mit einer eindrücklichen Geschichte. Im hoteleigenen Nachtclub GreenGo war Valeria Morosowa ein gern gesehener Gast. Ihre Begleiter geizten vor allem beim Servicegeld nicht, sehr zur Freude der Kellner.
«Wen möchten Sie als vermisst melden, Herr Kaufmann?», fragte derweil Monika Grünig und hielt das Formular für die Vermisstmeldung bereits in den Händen.
«Valeria Morosowa», antwortete Kaufmann, «hier ist eine Foto von ihr.»
Auch Frau Morosowa war in Gstaad alles andere als eine Unbekannte, nicht bloss ihres gepflegten Aussehens und ihrer tollen Figur wegen. Obwohl sie Dauermieterin eines Chalets war – allerdings nicht am Oberbort –, verbrachte sie genau genommen nur die Zeit zwischen Weihnachten und Ostern sowie einige Wochen im Hochsommer in Gstaad, auch während des Tennisturniers. Wie auch immer: Bei Insidern sprach man(n) von ihr als PM (Pii Ehm) – eine Abkürzung für Party-Maus. Woher Morosowa das Geld für den offensichtlich aufwändigen Lebenswandel hatte, war nicht bekannt. Die einen wollten wissen, dass sie sich von wohlhabenden Herren aushalten liess, andere wiederum sprachen davon, dass sie die Witwe eines ehemaligen Barons sei und ganz böse Zungen glaubten sogar, dass sie im Keller ihres Chalets ganz besondere Dienstleistungen offerierte, im Stil von «50 Shades of Grey». Oder so ähnlich.
«Bevor wir auf die näheren Umstände ihres Verschwindens zu reden kommen, können Sie uns ein genaues Signalement geben, Herr Kaufmann?»
«Valeria wurde kürzlich 48 Jahre alt, sie ist einsachtzig gross und angeblich 68 Kilo schwer, wie sie mir einmal verraten hat, sie hat naturblonde Haare und spricht Russisch, Ukrainisch, Deutsch, Spanisch, Englisch und Französisch, die letzteren vier mit dem typischen slawischem Akzent.»
«Was trug sie zum Zeitpunkt ihres Verschwindens?»
«Ich weiss es nicht, denn ich habe sie vorgestern Abend im Olden vergeblich zum Apéro erwartet. Wir wollten anschliessend zusammen ins Restaurant des ESC gehen, anschliessend ins GreenGo im Hotel Palace.»
Dieser letzte Satz von Matthias Kaufmann hatte es wirklich in sich, erwähnte er doch gleich drei Lokalitäten, in denen normale Gstaad-Besucher kaum zu sehen waren, abgesehen davon, dass das Restaurant des Eagle Ski Club ESC auf dem Wasserngrat nur Mitgliedern vorbehalten war – Leuten, die allein für die Mitgliedschaft in einem der nobelsten Skiclubs auf der Welt ein kleines Vermögen zu zahlen bereit waren.
«Und was bringt Sie dazu, diese Vermisstenmeldung aufzugeben?», wollte Monika Grünig wissen. «Es sind nicht einmal zwei Tage vergangen, möglicherweise ist Frau Morosowa ja schon wieder zu Hause.»
«Nein, das ist sie nicht, ich habe vor einer Viertelstunde bei ihrem Chalet geläutet, vergeblich. Auch ihr Handy ist ausgeschaltet, das alles ist völlig ungewöhnlich.»
«Was wissen Sie sonst über Frau Morosowa, woher kommt sie, womit verdient sie ihr Geld? Jeder Hinweis kann für uns entscheidend sein.»
Wie der sichtlich besorgte Matthias Kaufmann zu berichten wusste, wurde Valeria Morosowa in der Ukraine geboren, in der Nähe von Kiew, ging dort zur Schule und studierte anschliessend Sprachen. Als gefragte Übersetzerin lernte sie während eines Kongresses in Moskau einen, wie Kaufmann explizit feststellte, «stinkreichen Unternehmer» kennen, den sie nur ein Jahr später heiratete. Keine zwei Jahre später liess sie sich von ihm scheiden und war fortan, dank ihres Scheidungsanwalts, eine wohlhabende Frau. Er selber, Kaufmann, habe Valeria Morosowa vor drei Jahren kennen- und schätzen gelernt. Ob das von ihrem Exmann zugestandene Geld für ihren aufwendigen Lebensstil reiche, wisse er nicht. Über Geld werde in seinen Kreisen nicht gesprochen.
«Das hat man einfach», dachte Monika Grünig.
«Ich habe ein ganz ungutes Gefühl, da muss etwas passiert sein!»
«Wann haben Sie Frau Morosowa denn letztmals gesehen?»
«Frau Grünig, gesehen am dritten Februar, am Morgen des fünften Februar habe ich aber noch mit ihr telefoniert. Sie sass nach eigenen Angaben im Charly’s Tearoom an der Promenade, sagte, dass sie sich auf den Abend mit mir freut.»
«Herr Kaufmann, darf ich ganz direkt zu Ihnen sein?»
«Gewiss doch, wenn es hilft, Valeria zu finden.»
«Sagen wir es so: Frau Morosowa ist bekanntlich kein Kind von Traurigkeit. Mit wem alles hatte sie in jüngster Vergangenheit Kontakt? Oder hatte sie möglicherweise Ärger? Hat sie jemals etwas angedeutet?»
Matthias Kaufmann musste wegen der Bemerkung «Kein Kind von Traurigkeit» von Monika Grünig schmunzeln. Er wusste aus eigener Erfahrung, wie das Leben eines bekennenden und praktizierenden Singles aussehen konnte, wobei Valeria mit ihren erst 48 Lebensjahren und dank ihrer Erscheinung wohl ein um einiges aufregenderes Leben zu führen wusste als er selber. Er nannte einige Namen von Personen, von denen er annehmen musste, dass sie mit Frau Morosowa in Kontakt standen.
«Bitte behandeln Sie diese Informationen mit der nötigen Diskretion, Sie wissen ja, wie sich die Leute das Maul zerreissen.»
«Davon dürfen Sie ausgehen, Herr Kaufmann, selbstverständlich.»
«Und nein, Valeria hat nie von Drohungen oder Problemen gesprochen.»
Monika Grünig bedankte sich bei Matthias Kaufmann für seine Offenheit und versprach, ihn sofort zu benachrichtigen, sollten sich Neuigkeiten ergeben.
Die Vermisstenmeldung von Valeria Morosowa nahm den gewöhnlichen Verlauf solcher Anzeigen, sieht man davon ab, dass sie noch gleichentags am Fernsehen ausgestrahlt wurde, weil sowohl Monika Grünig als auch Michel Chevalier ein Verbrechen nicht ausschliessen konnten, denn welche Frau hätte eine Einladung ins Olden, den ESC und das GreenGo auf diese Weise sausen lassen? Eine Valeria Morosowa sicher nicht, da waren sich die beiden einig.

Das Tearoom Charly’s an der Promenade in Gstaad: Von hier aus telefonierte in den ersten Februartagen die vermisste Valeria Morosowa mit Matthias Kaufmann, erschien dann aber nicht zum vereinbarten Treffpunkt.
Im Laufe der nächsten Tage gab es zwar einige Hinweise aus der Bevölkerung, die aber ausnahmslos im Sande verliefen. Auch Gespräche mit den von Matthias Kaufmann genannten Personen – grossmehrheitlich aus dem männlichen Kreis der Haute Volée – ergaben keine konkreten Informationen zum möglichen Verbleib der Vermissten. Auch eine allerdings nur oberflächliche Hausdurchsuchung in Morosowas Chalet am Mittwoch, 12. Februar, brachte kein Licht ins Dunkel, nichts deutete auf eine längere Abwesenheit hin. Die Frau blieb wie vom Erdboden verschwunden.
Seit dem Nachmittag des 4. Februar hatte sie ihr Handy nicht mehr benutzt, das ergaben Recherchen bei ihrem Telefonanbieter. Gleiches galt für ihr Profil auf verschiedenen sozialen Medien. Wie konnte es also sein, dass Matthias Kaufmann behauptete, er habe noch am Morgen des 5. Februar mit Valeria Morosowa telefoniert – zu einem Zeitpunkt, als diese angeblich im Charly’s gesessen habe und ebendort bestimmt mit dem Handy telefoniert hätte? Übrigens: Im Keller ihres Chalets waren ganz normale Gegenstände zu sehen, keine Spur von einer Sadomaso-Folterkammer oder Ähnlichem …
Bis zur Auffindung der Leiche im Garten des Chalets Swoboda am späten Abend des 16. Februar ergaben sich keinerlei weiteren Hinweise zum Schicksal der Vermissten.
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