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Im Rohmanuskript zu meinem Zuckerbuch stand unter anderem auch dieser Satz: „Zwei Dinge will ich noch in Zukunft testen: Selen und Lithium!“ Zum Selenmangel stand dort weiterhin: „Selen gehört zu den essentiellen Mineralstoffen, mit denen wir eigentlich durch die Nahrung gut versorgt sein sollten. Sollten! Wir brauchen Selen für ganz vielerlei, zur Synthese von Eiweißbausteinen und für unser Immunsystem. Äußerlich bemerken Sie einen Selenmangel vielleicht zuerst an brüchigen Nägeln und stumpfen, dünnen Haaren – aber warum Mangel?“ Tatsächlich begannen sich damals bei mir die Brüche und Risse in den Fingernägeln zu häufen. Was vorher vielleicht einmal im Jahr oder seltener vorgekommen war, wenn ich mit einem Fingernagel hart angestoßen war, gab es jetzt im Monats- oder Wochenabstand und die Anlässe wurden immer geringfügiger. Plötzlich sahen meine Nägel so aus wie die, die man früher in TV-Zeitschriften sehen konnte: mit einem dicken schwarzen Kreuz durchgestrichene lange Nägel einer Frau mit hässlichen Bruchrändern vorne dran. Daneben war dann der perfekte Nagel abgebildet, und das Ganze war Werbung für „Dr. Beautys Gesundheitspillen“ oder so. Und ich meinte mich zu erinnern, dass diese Pillen vor allem viel Selen enthielten. Also mal das Internet befragen. Eindeutig: Selenmangel und brüchige Nägel korrelieren stark. Selentabletten sind frei verkäuflich, und Selenase XL nicht gerade die billigsten. Aber was soll’s, probieren kann man das ja mal, oder? Gesagt, getan und brav jeden Morgen meine Selentablette geschluckt. Das Ergebnis war bei mir völlig eindeutig, auch wenn es einige Wochen oder eher Monate dauerte, denn so schnell wachsen Nägel ja nicht: Die Anfälligkeit für Brüche ließ immer mehr nach, die Nägel wurden elastischer und jetzt, nachdem ich seit gut drei Jahren regelmäßig Selen zu mir nehme, kann ich mich an den letzten Nagelbruch gar nicht mehr erinnern.
Na gut. Einzelfall, oder? Zumal man, wenn man nach „Selentabletten“ sucht, auch auf Artikel stößt, die verkünden: „Nahrungsergänzungsmittel mit Selen: Hilft nicht viel – schadet im Zweifel“ (t1p.de/wwlh)1. Und zwar von der Stiftung Warentest! Genauer heißt es dort: „Nahrungsergänzungsmittel mit Selen sollen Haut und Haaren gut tun, die Zellen schützen und sogar Krankheiten verhindern. Doch wissenschaftlich belegt ist der Nutzen nicht. Tatsächlich bestätigt jetzt eine große Studienauswertung, dass zusätzliche Selen-Zufuhr nicht vor Herz-Kreislauf-Erkrankungen schützt. Und bei übermäßiger Einnahme kann es sogar schaden.“ Ah ja. Aber mit Herz-Kreislauf hatte ich doch gar nichts am Hut? Ich hatte brüchige Nägel – und dagegen hat es klar geholfen. Und dann heißt es weiter unten: „Normale Ernährung reicht meist zur Versorgung.“ Soso. Bei mir offenbar nicht. Sie merken schon, ich bin ein bisschen überkreuz mit diesem Bericht, aber das ist ja auch klar, denn da wird dann auch noch ausdrücklich gewarnt, es könne auch schaden! Mal sehen. Die Verbraucherzentrale sagt dazu: „Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) empfiehlt eine Tagesmenge von 45 Mikrogramm in Nahrungsergänzungsmitteln nicht zu überschreiten. Akute Symptome einer Überdosierung (möglich ab ca. 300 Mikrogramm pro Tag) sind […]“ (t1p.de/81l0)1. Ab 300 Mikrogramm? Das ist siebenmal mehr als der Tagesbedarf. Und wie viel hat eine von meinen Tabletten? Es gibt sie in Dosen von 50, 100 und sogar 200 Mikrogramm, das sind die oben erwähnten XL. Selbst mit den stärksten (und teuersten) Tabletten kann man sich also wohl kaum vergiften. Außer man nimmt mehrere davon, wie eine Frau, die, wie die Ärztezeitung berichtet, mit 50 fast blind und dement ins Krankenhaus gekommen ist: Sie hatte jahrelang die 200er-Tabletten genommen, und ihre früheren Selenwerte waren nur knapp über der normalen Obergrenze gelegen. Dann aber hatte sie sechs Monate lang täglich sechs bis sieben Stück eingenommen. Ihr im Krankenhaus gemessener Blutwert war um das 50-Fache erhöht. Es dauerte bei totalem Selenentzug immerhin zwei Jahre, bis alle Symptome wieder verschwunden waren und sich der Blutwert normalisiert hatte. Eine Hirnatrophie aber wird ihr bleiben (t1p.de/neq2)2. Also deshalb wird gewarnt. Na gut. Aber ich gehöre auch nicht zu den Leuten, die versuchen, ein rohes Ei in der Mikrowelle zu garen, und sich über die Dampfexplosion wundern, die dann folgt und eine verdammte Schweinerei hinterlässt.
Zurück zu der Aussage, wir bekämen über die Nahrung genug Selen. Diese Feststellung ist sicher in vielen Fällen falsch, in meinem ganz besonders. Zum einen beziehen wir Selen bei normaler Ernährung vor allem aus Getreide, das heißt etwa aus dem Mehl im Brot, Kuchen etc. pp. Das Selen im Getreide kommt aus dem Boden, und die Böden in Mittel- und Nordeuropa gelten als selenarm, weil sie schon Millionen Jahre alt und entsprechend ausgewaschen sind. Die Finn*innen – dort sind die Böden noch etwas selenärmer – haben daraus ihre Schlüsse gezogen: Der Dünger, der auf die Felder ausgebracht wird, wird in Finnland mit Selen angereichert, so wie bei uns das Salz mit Jod. Bei uns passiert das nicht, deshalb ist unser Getreide und damit auch das Brot eher selenarm. Bei mir kommt noch dazu, dass ich nur noch wenig Brot esse, Kuchen schon gar nicht – kohlenhydratarme Ernährung halt, sonst nehme ich leider zu. Und relativ gesehen esse ich überhaupt wenig, denn der Kalorienverbrauch im Alter ist ein ganz anderer, als man uns immer weismachen will.
Was lesen wir immer? 2000 Kalorien (Kal = kcal) pro Tag für einen 70 Kilogramm schweren Durchschnittserwachsenen. Ja, manche gute BMI-Rechner berücksichtigen mittlerweile das Alter (t1p.de/r6xn)1, aber weniger als 1600 kcal (kcal) oder 1600 Kal (Kal = kcal; die Abkürzungen werden synonym verwendet und entsprechen jeweils 1000 calorien) habe ich auch dort für meine 65 Jahre noch nie gefunden.
Vor zwei Jahren habe ich mir den Spaß gegönnt und meinen Kalorienumsatz richtig messen lassen. Das ist ganz einfach: Man atmet eine Minute im Sitzen in eine Röhre, dann weiß der Computer, wieviel CO2 man ausgeatmet hat, und damit auch, wie viel Kalorien aus Kohlenhydraten, Eiweiß oder Fett verbrannt worden sind. Bei mir war der Grundumsatz 950 Kalorien plus 200 fürs Sitzen: 1150 Kalorien. Mehr braucht mein Körper nicht, leider. Würde ich die allgemein vorgegebenen 2000 Kalorien essen, also 850 mehr pro Tag, dann wären das 120 Gramm Körperfett pro Tag. 1,2 Kilogramm in zehn Tagen, über drei Kilo im Monat, die ich zunehmen würde. Selbst die Differenz zum altersangepassten BMI-Rechner mit 1600 kcal/Tag würde sich in nur einem Monat zu deutlich mehr als einem Kilo Gewichtszunahme addieren. Und jetzt wird mir klar, warum ich so viele ältere Menschen sehe, die sehr, sehr rundlich sind: Die essen die von früher gewohnten normalen Portionen – und brauchen doch nur noch die Hälfte davon!
Mit 16 konnte ich fünf Mahlzeiten am Tag verdrücken, gut 2500 Kalorien müssen das oft gewesen sein. Und ich war ein Spargel von 54 Kilogramm bei allerdings nur 1,69 Meter, trotzdem untergewichtig. Das hat sich mit 30 fast schlagartig geändert, jetzt wollte jedes Bierchen gleich zum Brauereigeschwür beitragen, und mit 53 war ich bei stolzen 81 Kilogramm angelangt. Deshalb die Umstellung auf Low Carb, und es hat auch wirklich geholfen. Binnen 15 Monaten war ich runter auf 66 Kilogramm, und über die letzten Jahre halte ich mich zwischen 68 und 71 Kilo, das heißt, bei meiner Größe pendele ich zwischen BMI 24,9 und 25,1. Das ist okay. Lieber wären mir die 66 Kilo und der BMI von 23, ich gebe es zu, aber dann zeigt es sich schnell im Gesicht, und man sieht gleich ein paar Jahre älter aus. Es ist nicht so einfach, weniger zu essen, wenn doch alles so lecker schmeckt … und auf Brot kann ich am ehesten verzichten. Womit wir wieder beim Selen wären: Wenn also die Böden, damit das Getreide und damit auch das Brot, schon selenarm sind, man sowieso wenig isst und überdies dann auch noch wenig Brot, dann ist ja wohl klar, dass die Selenversorgung unterdurchschnittlich ist. Und dann ist auch klar, warum ich mein Nägelproblem mit den Selentabletten recht schnell in den Griff bekommen habe. Mittlerweile nehme ich es nicht mehr hochdosiert als einzelne Tablette, sondern in Kombination mit anderen Mikronährstoffen, Vitaminen und Mineralsalzen in tagesüblichen Bedarfsmengen. Zusätzlich zu dem, was in der Nahrung steckt, nehme ich 45 Mikrogramm, also ungefähr 90 Prozent des normalen Tagesbedarfs, der damit gut gedeckt sein dürfte. Damit bin ich auch meilenweit von jeder Vergiftung entfernt. Und ich bin der festen Überzeugung, dass ich nicht der Einzige bin, der einen latenten Selenmangel hat (beziehungsweise: hatte). Ich verstehe zwar, dass man vor so irrwitzigen Vergiftungsaktionen wie der oben geschilderten warnen muss, aber das ist so wie mit dem Chow-Chow, den man zum Trocknen nicht in die Mikrowelle stecken sollte – ein bisschen abseitig. Und die wirkliche Botschaft, dass Deutschland ein Selenmangelgebiet ist und alle West- und Nordeuropäer, von den schlauen Finnen vielleicht abgesehen, im Durchschnitt einen Selenmangel aufweisen, die geht leider in solchen Warnungen komplett unter. Ja klar, man konnte keinen Zusammenhang finden zwischen Selenmangel und koronarer Herzkrankheit. Unser Körper ist eben doch komplexer als so ein Auto mit seinen gerade mal 40 000 Teilen. Womöglich hat man da das Falsche gesucht? Später werde ich auch noch von einem fast schon absurden Zusammenhang zwischen so einem Mikronährstoff und einem ganz anderen Blutwert erzählen. Absurd, weil offenbar kaum bekannt. Ich selbst werde jedenfalls nie mehr kein Selen zu mir nehmen, da kann mir die Stiftung Warentest erzählen, was sie will. Aber auch nicht mehr als den Tagesbedarf – wozu auch, das kostet doch Geld! Und was zusätzlich über die Nah-rung reinkommt, nehme ich gratis mit.
Meine Nachforschungen über Selen, vor allem aber das Erfolgserlebnis, dass mir binnen weniger Monate kein Nagel mehr anriss oder brach, löste ein allgemeines Interesse an allem, was der Körper so an Hilfsund Betriebsstoffen brauchen könnte, bei mir aus. Wenn schon an so etwas Einfachem wie Selen ein allgemeiner Mangelzustand herrscht, dessen Auswirkungen ganz konkret zu spüren sind, was ist dann mit den tausend anderen Vitaminen, Mikronährstoffen und Spurenelementen? Vor allem, wenn man älter ist, muss man sich über die Versorgung mit Vitaminen und Mineralstoffen Gedanken machen, schon gar, wenn man insgesamt weniger isst. Bislang wird uns immer wieder gesagt, dass es uns bei ausgewogener Ernährung an nichts wirklich fehle und dass die Einnahme von Vitamintabletten überflüssig sei oder sogar schädlich sein könne. Wie einige Studien zu belegen scheinen, führt etwa das einstmals als Radikalenfänger hochgelobte Vitamin E (Tocopherol) bei erhöhter Zufuhr auch zu erhöhten Lungenkrebsraten bei Raucher*innen, während ein Mangel bei uns eher selten und nur in Verbindung mit bestimmten Krankheiten diagnostiziert wird. Auch Vitamin A wird in Überdosierung Schlechtes nachgesagt. Und dass Vitamin C keine Erkältung verhindert, hat sich ja nun auch herumgesprochen. Aber was ist eine ausgewogene Ernährung denn genau? Und ist dann wirklich alles drin, was ich brauche? Mal schauen: Da wäre zum Beispiel Vitamin B12. Schwangeren wird das empfohlen, genau wie B9 (Folsäure). Bitte? Wenn wir doch bei ausgewogener Ernährung angeblich alles bekommen, was wir benötigen? Und wie sagen die Frauen zu Recht: Ich bin schwanger und nicht behindert! Könnte es sein, dass wir vielleicht alle einen gewissen B12-Mangel haben, der sich allerdings nur bei Schwangeren beziehungsweise beim ungeborenen Kind besonders eklatant auswirkt? Und den allgemeinen Mangel nehmen wir vielleicht genauso wenig wahr, wie uns die rissigen Fingernägel zum Nachdenken bringen? Lästig, aber geht ja, oder? Genauso ist es offenbar. Die Vermutung, dass in der Bevölkerung ein allgemeiner B12-Mangel herrscht, liegt nahe. Und da B12 vor allem in tierischer Nahrung steckt, gilt das insbesondere für Veganer*innen. Die allerdings wissen das vermutlich alle und kontrollieren ihren B12-Spiegel regelmäßig. Aber auch wir Normalos sollten genau hingucken: „Vitamin-B12-Mangel ist weit verbreitet. Zu den Risikogruppen gehören ältere Personen, Vegetarier, Schwangere sowie Patienten mit Nierenoder intestinalen Erkrankungen. Die neurologischen Symptome des Vitamin-B12-Mangels sind unspezifisch und können irreversibel sein“, schreibt das Deutsche Ärzteblatt (t1p.de/l1pg)1. In einer der verlinkten Studien werden auch Zahlen angegeben: Fünf Prozent aller 65- bis 74-Jährigen hatten demnach einen B-12-Mangel und sogar zehn Prozent aller 75-Jährigen und Älteren.
B12 wird vom Körper nicht hergestellt, sondern nur von Mikroorganismen (Bakterien). Es kommt vor allem mit tierischer Nahrung in unseren Körper – oder eben mit Tabletten.
In Wahrheit ist es komplizierter, auch unser Darm stellt B12 her, nur leider zu spät:
„Wenn Pflanzen kein B12 haben, wie überlebt ein Menschenaffe dann vegan? […] Ganz einfach: Schimpansen fressen auch Fleisch (sie jagen aktiv kleine Tiere), und die reinen Pflanzenfresser, also die Gorillas, substituieren B12. Glaubst du nicht? Beobachte mal Gorillas: Sie halten ihre Hand unter ihr Hinterteil, fangen ihren eigenen Kot auf und fressen den. Das nennt man Koprophagie. Im Dickdarm von Säugetieren leben nämlich Bakterien, die B12 herstellen. Nur nützt das uns nichts, denn unser Dickdarm kann keine Nährstoffe absorbieren. Also wird das B12 zunächst ungenutzt ausgeschieden. Man muss es essen, damit es wirkt. Weidetiere koten auf ihre Weiden und nehmen so nebenbei B12 auf, und Gorillas fressen eben ihren eigenen Kot.“ (t1p.de/tnxn)1
Es gibt allerdings Hinweise darauf, dass B12 bei der Gärung von zum Beispiel Sauerkraut oder Brottrunk auch entstehen und so in den Körper gelangen kann: „Lebensmittel pflanzlichen Ursprungs können nach bakterieller Gärung Spuren von Vitamin B12 enthalten. Dazu zählen beispielsweise Sauerkraut und Bier. Darüber hinaus liefern Meeresalgen wie Nori und Shiitake-Pilzen schwankende Mengen an Vitamin B12. Nahrungsmittel dieser Art sind die einzigen natürlichen Vitamin-B12-Quellen für Veganer. Zudem ist nicht gesichert, ob und wie gut der Körper das Vitamin in diesen Produkten verwerten kann.“ (t1p.de/kxcu)2 Das dürfte analog für den Brottrunk gelten, wobei die Auflistung der Inhaltsstoffe für dieses in Russland auch als Kwass bekannte, uralte Getränk schon beeindruckend ist: Selen und Zink, Kupfer, Eisen, Mangan, Magnesium, Kalzium, Vitamin E, Vitamin B6 und Vitamin B12 (t1p.de/xfh1)1. Das ist zweifelsfrei gesünder als Cola. Mittlerweile kann man Brottrunk auch fast überall kaufen – nur geschmacklich ist das wohl nicht jederfrau Sache. Auch in bei Veganer*innen beliebten Spirulina-Algen soll B12 enthalten sein, die Verbraucherzentrale warnt aber davor (t1p.de/3qb3)2. Es soll sich nur um ein chemisches Analogon, also etwas chemisch Gleiches mit anderer Struktur, handeln, das nicht verstoffwechselt werde. Schlimmer noch, es besetze die Andockstellen für echtes B12 und könne so selbst bei ausreichender B12-Versorgung einen B12-Mangel verursachen: „Sogar die Vegan Society rät darum mittlerweile generell davon ab, sich auf pflanzliche B12-Quellen zu verlassen, und empfiehlt stattdessen Vitamin-B12-Präparate, die das Vitamin B12 in naturidentischer Form enthalten.“ (t1p.de/av3g)3
Ein B12-Mangel kann enorme Auswirkungen haben, zum Beispiel Blutarmut (Anämie), aber auch allgemeine Antriebsarmut und viele andere physische und psychische Symptome. Selbst das gehäufte Auftreten von Demenz wird direkt damit in Verbindung gebracht. Bei der Diagnose ist eher hinderlich, dass wir nur sehr, sehr wenig davon benötigen, andererseits aber in der Leber einen Vorrat speichern können, der über mehrere Jahre vorhält. Man merkt also erst mal gar nichts. Der alternde Mensch, bei dem die Aufnahme von B12 eingeschränkt ist und dessen Speicher langsam, aber sicher leerläuft, wohl erst recht nicht. Außerdem kann man in Frage stellen, ob die unteren Grenzwerte, die von den Laboren beim Bluttest angenommen werden, wirklich gesund sind, denn einerseits können wir mit einem gewissen Mangel durchaus leben (nur eben nicht so gut), und andererseits sind die üblichen Tests auf B12 nicht unbedingt voll aussagekräftig – selbst bei einem guten B12-Spiegel kann nämlich auch eine B12-Verwertungsstörung vorliegen, und die ist nicht so selten. Es gibt einen Test dafür – die 60 Euro dafür muss man leider selber zahlen –, der exakt feststellt, wie es hinsichtlich des Vitamins B12 um Sie bestellt ist: der Test auf die Methylmalonsäure-Konzentration, MMA-Test genannt.
Überdies kann man B12 – im Gegensatz zu Vitamin A und E – kaum überdosieren. Es kann also nichts schaden, regelmäßig Vitamin B12 zuzuführen. Denn: Bestimmte Medikamente verhindern oder mindern die Aufnahme von B9 (Folsäure), zum Beispiel Protonenpumpenhemmer (gegen Sodbrennen), Antihistaminika (gegen Heuschnupfen und Juckreiz), Antibabypillen, Antibiotika etc. pp. Vitamin B9 ist aber für die Aufnahme und Verwertung von B12 wichtig. Wenn davon zu wenig da ist, ist das also auch hinderlich. Auch das Rauchen soll die Verwertung von B12 deutlich herabsetzen. Und möglicherweise ist der Bedarf an B12 von Mensch zu Mensch auch sehr unterschiedlich, denn es dient auch zur Entgiftung, also zum Unschädlichmachen bestimmter Stoffe, die je nach der Art der Ernährung mehr oder weniger stark anfallen. Es könnte also sein, dass Veganer*innen davon weniger benötigen, Fleischesser*innen und Raucher*innen mehr.
Am Verwirrendsten beim B12 ist aber die Frage der Dosierung. Wir brauchen am Tag nur winzigste Mengen, wenige Millionstelgramm reichen normalerweise. Und es gibt deshalb Tabletten mit zum Beispiel fünf Mikrogramm Methylcobalamin (das ist das vom Körper bevorzugte Cobalamin, also Vitamin B12). Aber es gibt auch welche mit 1000 Mikrogramm, also der 200-fachen Menge. Das ist doch toll, eine solche Tablette müsste dann für 200 Tage reichen, oder? Leider nicht. Für die Aufnahme von B12 stellt der Körper eine Andockstelle bereit, den sogenannten „Intrinsic Factor“. Der ist aber nur in sehr begrenzter Menge vorhanden, mit den fünf Millionstelgramm ist er voll bedient. Und dann dauert es drei bis fünf Stunden, bis im Darm wieder genug Intrinsic Factor vorhanden ist, um erneut B12 aufzunehmen. Man könnte also drei solcher 5er-Tabletten den Tag über verteilt schlucken, um leere Speicher aufzufüllen – das macht aber kein Mensch. Es gibt noch einen zweiten Weg der Aufnahme: einfach per Diffusion durch die Darmwand. Dabei allerdings wird nur circa ein Prozent der Menge verwertet. Im Falle unserer 1000er-Tablette also zusätzliche zehn Mikrogramm, zusammen dann der dreifache Tagesbedarf. Sind Ihre B12-Speicher aber richtig leer, dann wird die Ärztin eher eine Spritze setzen. Aus diesem Depot mit 1000 und mehr Mikrogramm werden dann Ihre B12-Speicher wieder gefüllt. Da warte ich doch lieber nicht, bis die Speicher leer sind, sondern greife rechtzeitig zu den Tabletten. Denn ein totaler B12-Mangel kann extreme Folgen haben, wie in einer Folge der SPIEGEL-Serie „Ein rätselhafter Patient“ beschrieben wurde: „Vor vier Wochen war der 61 Jahre alte Mann noch komplett gesund, jetzt tragen ihn seine Beine nicht mehr richtig. Er hat Schwierigkeiten, alleine aufzustehen. Wenn er geht, schlurfen die Füße über den Boden, und er schwankt. Hinzu kommen Taubheitsgefühle in seinen Händen und Füßen, es kribbelt. In der Notaufnahme im Brigham and Womens’ Hospital in Boston erzählt die Familie des Mannes, dass auch sein Gedächtnis in letzter Zeit nachgelassen habe. Im Schnitt muss der Mann um jedes vierte Wort ringen […] Im Bereich von Brust und Hals entdecken die Mediziner Stellen, an denen das Rückenmark beschädigt ist. In Kombination mit den Gedächtnisproblemen kommen mehrere Diagnosen infrage. So könnte es sich etwa um eine fortgeschrittene Syphilisinfektion handeln, bei der die Krankheit auf das zentrale Nervensystem übergegriffen hat. […] Aufgrund der Blutwerte schließen sie jedoch auf eine andere Erkrankung: Sie vermuten, dass ihr Patient unter einem extremen Vitamin-B-12-Mangel leidet. Ein Bluttest bestätigt die Vermutung. Der Wert des Vitamins ist so niedrig, dass das Labor nicht einmal kleinste Mengen findet. […] Ohne Vitamin B 12 kann der Mensch auf Dauer nicht überleben. […] Um die Speicher wieder aufzufüllen, spritzen die Ärzte dem Mann fünf Tage lang 1000 Milligramm des Vitamins, anschließend folgen wöchentliche Injektionen. Zum Schluss kommt der Patient mit monatlichen 1000-Milligramm-Spritzen aus. Seine Probleme sind gelöst. Zwei Monate später kreisen wieder genug Blutkörperchen durch seinen Körper, sein Gedächtnis funktioniert und auch die Nervenprobleme sind verschwunden.“ (t1p.de/mlj4)1
Und eine weitere Fallgeschichte schafft es unter dem Titel „Dement auf Zeit“ in die Serie: „Schon mit 56 Jahren erkrankt eine Frau aus Kap Verde an Demenz. Erst Jahre später finden Ärzte die Ursache.“ Mangelnde B12-Resorption durch eine chronische Magenentzündung war die Ursache, die Folgen dramatisch: „Sie spricht undeutlich, selbst ihre Schwester kann manche Aussagen nicht verstehen. Aus ihrem Verhalten lässt sich ablesen, dass sie Dinge sieht und hört, die nichts mit der Realität zu tun haben. Die Mediziner diagnostizieren eine fortschreitende Demenz, verbunden mit einer entweder daraus resultierenden oder unabhängig auftretenden Epilepsie. Auch die Wahnvorstellungen können unabhängig von Demenz und Epilepsie oder als Folge der beiden Krankheiten aufgetreten sein.“ Nach Behebung des B12-Mangels „verwandelt sich [die 61-Jährige] zurück in den Menschen, den ihre Verwandten aus der Zeit vor der Erkrankung kannten“ (t1p.de/zz71)2.
Praktischerweise enthalten Tabletten für B12-Mangel oft auch das Vitamin B9, besser bekannt als Folsäure. Wie schon oben ausgeführt auch ein wichtiges Vitamin, wie alle Schwangeren lernen. Ein Mangel an Folsäure kann drastische Auswirkungen auf das Ungeborene haben, die Symptome in Einzelfällen – Missbildungen bei Babys: Spina bifida (offenes Rückgrat) und offene Gaumenspalte – sind sehr, sehr traurig, deshalb gehört zur Schwangerschaftsberatung der dringliche Rat, zusätzlich Folsäure zu sich zu nehmen. Das Zusammenspiel von Folsäure und Vitamin B12 ist aber erst richtig komplex, B12 kann bei einem Mangel an Folsäure nicht richtig verwertet werden, und beide zusammen bauen das körpereigene Homocystein ab: Ein zu hoher Homocysteinspiegel gilt als Risikofaktor für Herz- und Kreislaufprobleme bis hin zum Schlaganfall. In mittlerweile 67 Ländern wird deshalb Folsäure bestimmten Grundnahrungsmitteln zugesetzt, allerdings nicht in Europa. Ich jedenfalls nehme vorsichtshalber Kombitabletten, die B12 und B9, also Folsäure, enthalten. Beide Werte waren beim letzten Bluttest top, Folsäure sogar over the top.
Noch ein Wort zu den Tests auf B12: Im Blutbild wird das B12 zwar ausgewiesen, dieser Wert ist aber leider nur für völlig gesunde Otto Normalverbraucher wirklich aussagekräftig, oder wie das Ärzteblatt formuliert: „Gesamt-Vitamin-B12 im Serum ist ein später, relativ unsensitiver und unspezifischer Biomarker des B12-Mangels. Holotranscobalamin (Holo-TC), auch als aktives B12 bezeichnet, ist der früheste Laborparameter des B12-Mangels. Methylmalonsäure (MMA) ist ein funktioneller B12-Marker, der bei leerem B12-Speicher ansteigt. […] Die diagnostische Verwendung von Holo-TC erlaubt therapeutische Schritte, bevor irreversible neurologische Schäden auftreten.“ (t1p.de/l1pg)1. Das heißt, wer es wirklich genau wissen will, muss den MMA-Test (t1p.de/5qof)2 oder den Holo-TC-Test (t1p.de/vjhx)3 machen. In beiden Fällen darf vorher zehn Tage lang kein Extra-B12 per Tabletten zugeführt werden. Natürlich müssen Sie beide Tests aus eigener Tasche zahlen. Ja, Vorsorge wird leider nicht honoriert und im Zweifel auch nicht bezahlt. Wenn es dann zu Krankheiten kommt, zahlt die Kasse lieber die „Reparatur“, sprich die vermeintliche Heilung, nur dass wir keine Autos sind und Ersatzteile nicht im Regal liegen: Irreversible neurologische Schäden wie oben beschrieben sind eben nicht rückgängig zu machen.
Viele von Ihnen werden die Geschichten von den Seefahrern kennen, die nach monatelanger Fahrt ganz schrecklich unter Skorbut litten, denen die Zähne ausfielen, die schweres Fieber bekamen und was noch alles. Und wie die Einführung von Sauerkraut auf den Schiffen diesen Mangel beseitigt hat – das Vitamin C im Sauerkraut. Folgt man allerdings dem Journalisten Gary Taubes, der mit Good Calories – Bad Calories ein Standardwerk zum Thema Zucker und Kohlenhydrate geschrieben hat, dann war der eigentliche Grund die fast ausschließliche Ernährung mit Schiffszwieback, also schnellen Kohlenhydraten. Nur unter dem Einfluss einer kohlenhydratreichen Kost erleiden wir einen lebensgefährlichen Vitamin-C-Mangel, so Taubes. Davon abgesehen findet sich Vitamin C nicht nur in Früchten oder Gemüse, sondern auch in Fleisch und Fisch, vor allem in den Innereien zum Beispiel der Leber (dort auch das oben angeführte B12 und andere Vitamine). Extra Vitamin C ist also vor allem dann angesagt, wenn man viel Zucker (schnelle Kohlenhydrate) zu sich nimmt. Da ich das nicht tue, lebe ich gut mit dem kleinen Extra von über 300 Prozent, das in Multivitamin- oder anderen Tabletten mitgeliefert wird.