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Manfred Bös
Transzendierende Immanenz
Die Ontologie der Kunst und das Konzept des Logos poietikos bei dem spanischen Dichter Antonio Gamoneda
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
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© 2020 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG
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ISBN 978-3-8233-8340-6 (Print)
ISBN 978-3-8233-0201-8 (ePub)
1928 veröffentlichte der Münchner Philosoph Max Scheler ein Bändchen mit dem Titel Die Stellung des Menschen im Kosmos1. Diese kleine Schrift wurde zur Geburtsurkunde der modernen philosophischen Anthropologie, obwohl auch noch im selben Jahr die weitaus umfassendere Arbeit Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie2 Helmut Plessners erschien. Hinsichtlich der Koinzidenz beider Publikationen bzw. der Originalität der dort ausgeführten Ideen gab es zwischen beiden Autoren noch Jahre später Verstimmungen. Zwölf Jahre danach erschien Arnold Gehlens zentrales Werk zur philosophischen Anthropologie Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt3, womit drei wesentliche Veröffentlichungen zur philosophischen Anthropologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts benannt wären. In dem philosophierenden Arzt Paul Alsberg hatten sie einen Vorgänger, der mit seinem Werk Das Menschheitsrätsel4 1922 zum ersten Mal in neuer stringenter Manier die Heraufkunft des Menschen aus der Natur systematisch darzustellen suchte; desgleichen in dem Biologen Jakob Johann Baron von Uexküll, dem Begründer der Biosemiotik und dem Schöpfer des Begriffs der Umwelt, sowie dem niederländischen Mediziner und Anatom Louis Bolk oder dem Biologen und Anthropologen Frederik Jakobus Johannes Buytendijk. Auch der sich mit Fragen prähistorischer Anthropologie befassende Bonner Physiologe Max Verworn sowie viele andere Natur- wie Geisteswissenschaftler gehören zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu der Gruppe von Forschern, welche über ihr Fachgebiet hinaus sich die Frage nach dem Menschen und dem Menschlichen stellten.
Neben den gerade genannten Autoren gehören zum Kern der damaligen philosophisch-anthropologischen Forschung die Arbeit Einführung in die Philosophische Anthropologie5 des 1944 im Konzentrationslager Oranienburg gestorbenen Philosophen Paul L. Landsberg, dessen Schrift Die Erfahrung des Todes6 ihn zu einem einflussreichen Vordenker des französischen Personalismus machte, die ob der damaligen politischen Umstände zuerst 1935 in Spanien (Übersetzung von Eugenio Imaz) dann in französischer Fassung und erst 1937 in deutscher Sprache in Luzern erscheinen konnte. Auch der Philosoph Erich Rothacker gehört dazu, der mit seiner Veröffentlichung Probleme der Kulturanthropologie7 von 1942 sowie seinen Vorlesungen zur philosophischen Anthropologie von 1966 zum Mitbegründer der geisteswissenschaftlichen Kulturanthropologie wurde.
Selbstredend stehen die hier genannten Autoren nicht exklusiv für das Denken über den Menschen, welches als zentrales Substrat des westlichen philosophischen Denkens seit den Vorsokratikern über Protagoras, die athenischen Klassiker Platon und Aristoteles, über die lateinischen Denker zur conditio humana zu Montaigne, Pascal, den Aufklärern, Voltaire etc. sowie Herder und Kant und weiter hinüber bis zum monumentalen postum veröffentlichten Werk Hans Blumenbergs, Die Beschreibung des Menschen8, 2006 reicht.
Scheler, Plessner und Gehlen scheinen mir jedoch einen bedeutenden Einschnitt in dieser langen Tradition zu markieren, da sie den Versuch unternehmen, den Menschen auf Basis neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse in kosmologischer Perspektive neu zu bestimmen. Wesentliche Begriffe dieser Autoren scheinen bis heute fundamentale Gültigkeit zu besitzen und bei kritischer Revision dieser den Versuch wert, sie auf ein ästhetisches Fühlen und Denken zu beziehen. Eine derart aufgefasste philosophische Anthropologie reiht sich in das Denken der Aufklärung ein. Denn es stellt sich als Wagnis dar, das, was den Menschen wesentlich ausmacht, im Zusammenhang mit dem Makrokosmos und dem Mikrokosmos sowie jenen Lebewesen – den Tieren, mithin den Pflanzen – zu beschreiben, mit denen er die Erde teilt. Dabei stellt sich zugleich die Aufgabe, in dieser Weltimmanenz einen Zeichenbegriff zu erarbeiten, welcher ästhetisch ausgebeutet und philologisch auf die Dichtung Antonio Gamonedas angewandt, grundlegende Aussagen erwarten lässt, zumal das Werk Antonio Gamonedas dem Versuch eines Denkens der Immanenz entspricht (siehe in Esta luz9, S. 28 und 72), der Mensch in seiner Existenz als zentrales Thema seiner Dichtung verstanden werden kann.
Die Sichtung der Quellen in der Einleitung breitet das denkerische Panorama der philosophischen Anthropologie jener Zeit in zentralen Schriften aus und versucht die grundlegenden Denkmuster der Autoren darzustellen. Es folgen Überlegungen zu einer Ontologie der Kunst, die Verortung der grundlegenden Begriffe von Bewegung, Rhythmus und Maß im Menschen und mit einem Entwurf zum Zeichenbegriff der Eintritt in die Welt der Dichtung Antonio Gamonedas selbst.
Das lebendige Sein und die Kunst als Ausdruck transzendierender Immanenz
Lebendige Natur ereignet sich dort, wo ein Organismus ausdrücklich wird. Ausdrücklich werden ist ein Prinzip des Lebendigen. Eine der Manifestationen der Natur ist das Organische, und im Organischen wird sie sich selbst ausdrücklich. Indem der Organismus ausdrücklich wird, manifestiert er sich als Pflanze, Tier oder sich selbst ausdrücklich auch als Mensch.
Die Kunst exponiert und potenziert dieses dem Lebendigen innewohnende Prinzip der Ausdrücklichkeit. Die Künste sind Ausdruck im emphatischen Sinne. Sie Überhöhen das Prinzip des Ausdrucks in ihren spezifischen äußeren, d.h. objektiven Manifestationen, insbesondere in den Schönen Künsten, doch nicht nur in diesen. Kunst und Leben sind daher keine Gegensätze, sondern eins. Kunst findet statt im Ausdrücklichwerden des Ausdrucks. In ihr wird sich der Mensch in hervorragender Weise seiner selbst gegenwärtig und vermittels ihrer schafft er sich – ein Wesen der Natur – sein Sein.
Kunst ist die absichtsvoll nach außen gewendete Natur des lebendigen Wesens Mensch, die Ausdrücklichkeit des Ausdrucks im emphatischen Sinne.
Die Form der Ausdrücklichkeit des Lebewesens Mensch heißt transzendierende Immanenz. Transzendierende Immanenz antwortet auf die Alsbergische Frage nach dem Ort des Menschen im Linnéschen System der zoologischen Taxonomie, in dem der Mensch seinen biologischen Platz überschreitet, ohne diesen je verlassen zu können. Sie ist die Antwort auf die Frage nach der Heraufkunft des Menschen als Meister der Negation und Asket, wie Scheler ihn denkt, oder nach der Plessnerschen Dynamik des in der gegensinnigen Grenzvermittlung hervortreibenden Ausdrucks dessen, was schließlich in das sich selbst gegenwärtige Lebewesen Mensch mündet, oder aber wie in einem systemischem Denken als Zusammenhang von sich gegenseitig fordernden Bedingungen à la Arnold Gehlen. Bei ihm bindet sich Erinnerung an Motorik, und Motorik lässt den in Selbststellung stehenden Menschen sich selbst und anderen in Haltung, Handlung und Ausdruck gegenwärtig sein.
Transzendierende Immanenz entspricht der Organisation des lebendigen Individuums Mensch, da es sich in seinem Körper verwirklicht, indem er der Forderung entspricht zu bleiben, „was er ist, und überzugehen in das, was er nicht ist und was er ist.“1
Transzendierende Immanenz ist der Ursprung für die Plastizität des Sinnlichen und Bedingung der Möglichkeit für die Gegenwart des Geistes.
Transzendierende Immanenz ist der Ursprungsort selbsterlebter lebendiger Bewegung und Rhythmus ihr Impuls im Werden.
Transzendierende Immanenz entspricht der Schwellnatur des Akustischen2, das dem Hören, Atmen und der Artikulation zugrunde liegt.
Transzendierende Immanenz ist jene Form von Ausdruck, Haltung und Handlung die, der Gruppe anheim gegeben, von jedem Einzelnen dieser gespiegelt und wiederholt in Tanz, Schrift und Zeichen verwandelt, zur Bedeutung sich verfestigt und es dem Menschen – sich selbst ausdrücklich geworden – erlaubt, aus dem autistischen Schoß der Natur sich zu sich selbst hin aufzuschwingen.
Die Aufgabenstellung
Denkbarkeit also einer sich selbst fordernden Dynamik aus immanenter Struktur heißt die Aufgabe, der sich diese Studie widmet.
Sie besteht demzufolge darin, dem dichterischen Denken Antonio Gamonedas einen ontologischen Ort aufzuspannen, den es bewohnt und schafft zugleich. Ausgehend also von einer Ontologie des Lebendigen heißt es, eine Ontologie der Kunst am Leitfaden der Begriffe von Bewegung in all ihren Erscheinungsformen von Bewegtheit, Bewegtsein zur Selbstbewegung in Ortsbewegung, Handlung und Haltung sowie in ihrer Spezifizität als Metrum, Zeichen, Rhythmus und Maß zu entwickeln und den gamonedaeischen Logos so im Sein zu verfugen.
Diese Arbeit ist keine kritische, auch wenn krinein und legein (teilen und sammeln) darin wesentliche Bewegungen darstellen – rhythmisch wie denkerisch. Es handelt sich letztlich um den Versuch einer Ästhetik auf biokinetischer Grundlage, weder zynisch noch komisch, verzweifelt oder tragisch, euphorisch oder hochfahrend. Sie bewegt sich mittig, sucht die Balance, wenn auch nicht den Ausgleich.
Die Arbeit widmet sich der Entschlüsselung und Deutung von Dichtung nicht im Sinne einer Lektürekonstruktion, sondern sie versucht eine Freilegung der ontologischen Fundamente1 im dichterischen Denken Antonio Gamonedas mit dem Instrumentarium der philosophischen Anthropologie. Dies führt auch zur Betrachtung der Bedeutung seines Denkens, da mit dem ontologischen Ort der dichterischen Rede auch dessen soziale und historische Relevanz erkennbar wird. Denn dieser ontologische Ort kennzeichnet den Platz des Dichterwortes im Gespräch der Gemeinschaft, und sei es auch nur, um diesen im gleichen Atemzug wieder zu bestreiten oder zu verschieben.
Das Zurückbeugen der Dichtung auf das Sein führt es an den Kreis menschlichen Tuns wie Rechnen, Messen, Zählen, Sagen, Tanzen, Malen oder Singen heran und lässt seine Bedeutung als eine der wesentlichen welterschließenden Aktivitäten des Menschen sichtbar werden. Darin liegt seine epistemologische Qualität und seine ontologische Dignität.
Der Gedanke Denken und Dichten gerade im Werk Antonio Gamonedas zusammenzubringen, kann sich auf seinen Arbeitsprozess berufen. Dieser orientiert sich am Palimpsest. Jeder Text, alt oder neu, kann zu jeder Zeit der Überarbeitung überantwortet werden. Die allgegenwärtige re-ecriture der Texte überschreibt den historischen Abstand in den Resonanzraum der beständig erneuerten Aktualität des Erinnerns. Denn die Erinnerung atmet mit dem Jetzt, während das Gedächtnis den Speicher des Vergangenen stellt. Damit erstarken die inneren symbolischen Verweisungen der Dichterrede und geben den Blick frei auf ein Sein, das sich nicht in Geschichten, sondern in der Darbietung einer Sonderwelt erschließt, der das Antlitz einer individuellen Existenz eignet. Dabei nimmt der Autor keine Transzendenz in Anspruch. Er hält sich streng in der Immanenz seines Seins als Bewohner dieser einen Welt2. Aus dieser Haltung der Immanenz nährt sich die Betrachtung der Sprache als Materie3, aus seinem dichterischen Tun das Transzendieren in und am Material.
Dementsprechend bieten die hier zugrunde gelegten Schriften der philosophischen Anthropologie ein passendes Rüstzeug, welches den Menschen aus der Immanenz seines Seins wie aus der Gemeinschaft der Lebewesen und ihrer Geschichte4 zu deuten versucht.
Die beharrliche Anpassung des einmal Niedergeschriebenen an die veränderten anatomischen und physiologischen Bedingungen des Körperleibes und der Bewegungen seines Atmens5, seines Taktes und Rhythmus zeugt von dessen zentraler Rolle für die Dichtung Antonio Gamonedas6. Es zeugt aber auch und vordem von der zentralen Rolle des Rhythmus selbst als einer geführten Bewegung in der Sprache hin zu einer Beschreibung der Welt im Spiegel der Seele7. Der Rhythmus als bewegte Bewegung und Impuls8 der werdenden Form der Erscheinung der Welt im Spiegel der Seele in Sprache teilt und versammelt (legein kai krinein) das Sein in ein Vorher und Nachher, ein Davor und Dahinter, ein Hier und Dort. Die Welt erscheint in der werdenden Form von Bewegung und Beharrung9. Der Rhythmus, indem er den Körperleib, den Beweger der Sprache bewegt, positioniert diesen gegenüber der Welt und die Welt ihm gegenüber. So ist der Rhythmus in der Dichtung Antonio Gamonedas gleichursprünglich, vorursprünglich gar mit dem Gedanken10, und also jener Impuls seines dichterischen Denkens, welches für die werdende Form seiner Sprache maßgeblich verantwortlich zeichnet.
Das pulsiv-musikalische Denken Antonio Gamonedas ist notwendiger Weise ein körpernahes Denken. Für die anthropologische Philosophie ist der Körper, insbesondere der Körperleib der Ort, an dem sich das Drama des menschlichen Lebens manifestiert. Daher kann die theoretische Angemessenheit philosophisch-anthropologischer Begriffe auf die dichterische Praxis unseres Autors behauptet werden.
Die philosophische Anthropologie eines Helmuth Plessners zum Beispiel entspricht dem Gedanken des Ausdrucks aus der Quelle des Körperleibes mit der Idee der exzentrischen Positionalität und der selbstvermerklichen Bewegung, der Manifestation des Geistes in Körperhaltung, Geste und Musik. Diese Auffassung sieht den Körperleib vermittelst der Bewegungsformen von Haltung, Handlung und Stellungnahme auch in die Welt hineingestellt. Denn die exzentrische Positionalität stellt eine Verortung des Körperleibes in sich selbst und der Welt gegenüber dar. In der Körperhaltung wird eine Stellungnahme zur Welt, eine Haltung, ein Gedanke erkennbar, die in einer Handlung oder Darstellung, in Tanz, Rede oder Musik münden mögen. In der selbstvermerklichen Bewegung schließlich erscheint die Bedingung der Möglichkeit des darstellenden, mithin symbolischen Verhaltens grundsätzlich gegeben11.
Hebt der Bürger der platonischen Stadt seinen Fuß zum Dithyrambus oder der Dichter Antonio Gamoneda seine Stimme im Fuß des Verses, so nehmen sie sich selbst gegenüber eine Stellung ein, werden sich, ihrem Milieu und der Welt gegenüber ausdrücklich. Darin finden Bewegung, und in der Folge geführte Bewegung und Rhythmus ihren ontologischen Anker und darin gründet ihre ontologische Dignität.
Nun mag der Autor Antonio Gamoneda die philosophische Anthropologie bedacht oder auch nicht bedacht haben. Die Tatsache jedoch, dass ein Werk existiert, dem der Autor sein Denken anvertraut und in dem die menschliche Existenz zentral, Transzendenz jedoch nur innerhalb dieser thematisiert ist, scheint mir eine hinreichende Ausgangsbasis für eine Untersuchung des Logos poietikos Antonio Gamondas mit dem Instrumentarium der philosophischen Anthropologie darzustellen.
Wenn die Wahl der Ideen und Erklärungen sich als falsch herausstellen sollte, müssten sie widersprüchliche Ergebnisse zeitigen. Dies scheint mir jedoch nicht der Fall. Im Gegenteil: Die Annahme einer Ideengemeinschaft zwischen philosophischer Anthropologie und dem dichterischen Denken Antonio Gamonedas scheint sich zu bestätigen. Ausdruck dieser ist der Terminus der transzendierenden Immanenz. Transzendierende Immanenz ist der Begriff für einen Gedanken, der eine Dynamik zu beschreiben sucht, welche den Schritt aus einem Innen allein über dieses selbst hinaus entbirgt.
Damit diese Dynamis verstehbar werden kann, bedarf es der Annahme eines gliedrigen Ganzen, einer Komplexion – im Gegensatz zu einem Einfachen. Transzendierende Immanenz ist ein Geschehen der Komplexion, in dem unterschiedliche, einem Ganzen innewohnende Elemente über sich selbst hinaustreiben und die Natur des Ganzen vermittelst interner Prozesse verändern.
Transzendierende Immanenz bezeichnet also ein Geschehen kategorialer Überschreitung, ohne die rhetorischen Figuren der Metapher oder Metonymie einzubestellen.
Transzendierende Immanenz ist eine Form der Ausdrücklichkeit, und das Sich-Selbst-Ausdrücklich-Werden ist die gemeinsame Form der Kunst und des lebendigen Seins. Dort, wo sich dieses Geschehen begibt, erscheint Sinn, und der Sinn eignet allein dem Denken und dem Sein, niemals dem Seienden an12.
Eine Vorausschau
auf den Zusammenhang einer Ontologie der Kunst auf Basis der philosophischen Anthropologie mit dem Logos poietikos Antonio Gamonedas und der transzendierenden Immanenz
Manifestiert sich in der ontisch gewordenen Grenze des Plessnerschen Modells des lebendigen Seins dessen Abstandnahme wie dessen Verschränkung mit dem „Umfeld“1, so konstituiert sich damit für den Menschen ein Ausdrucksverhältnis2 zur Welt. In der partiellen Ontologie des lebendigen Seins wird Ausdrücklichkeit damit notwendiger Weise zu seinem gleichursprünglichen Impuls.
Ausdrücklichkeit setzt Bewegung voraus, und lebendiges Sein zeichnet sich durch Selbstbewegung aus. In Stellungnahme, Haltung und Handlung verhält sich der Mensch zur Welt und zu sich selbst. Wenn Bewegung also der ontologische Anker lebendigen Seins in der Welt ist, wird Bewegung in der Hand des Menschen zur bewegten Bewegung und zum Mittel des Ausdrucks seines Seins.
Schon in der elementarsten Form geführter, also bewegter Bewegung ist diese zu sich selbst in ein Verhältnis gesetzt und in sich selbst ausdrücklich geworden3. Im artikulierten Laut, einer geführten, also bewegten Bewegung wird das Ausdrucksverhältnis des Menschen zur Welt in der Sprache ausdrücklich, und die Sprache zum Ausdruck der Ausdrucksbewegung, zur Expression in zweiter Potenz. Wird der Klang damit zum Laut und zum Zeichen (Artefakt), so ergreift das dichterische Denken Antonio Gamonedas dieses und bewegt es zu einer höheren Ausdrücklichkeit und zum Zeichen zweiter, mithin „dritter Ordnung und Potenz“4, indem es die artikulierte, geführte Bewegung des Zeichens (Artefakt) in ein weiteres Verhältnis zu sich selbst führt, und ihm damit eine erweiterte Ausdrücklichkeit zukommen lässt. Die Inanspruchnahme des sprachlichen Zeichens als ein komplexes Verhältnis von Sinnlichkeit und Sinn versetzt es in Bewegung und bringt seine Bedeutung zum Schweben.
Mit der geführten, bewegten Bewegung des Zeichens lockert die Dichtung Antonio Gamonedas das Sein im Rang der Sprache, und in dieser Lockerung entdeckt sich die transzendierende Bewegung in der Immanenz des Seins.
Der Logos poietikos Antonio Gamonedas bewegt die Schwere des Seins im Rang der Sprache und lässt so dessen abgewandte Seite erkennbar werden.
Wenn also Ausdrücklichkeit die Natur des Organischen und Selbstausdrücklichkeit die des Menschen ist, so ist transzendierende Immanenz der Name für den Logos poietikos Antonio Gamonedas, und wenn die Selbststellung des Menschen das Sich-Selbst-Ausdrücklich-Werden fordert, so entspricht die Dichtung Antonio Gamonedas diesem mithin mit der Überschreitung der Genregrenzen. Die Überschreitung findet in der Rückbindung der dichterischen Rede auf die individuelle Existenz statt, welche die abseitige Seite des Seins verlautbar werden lässt.
PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE UND DIE WORTKUNST
Eine zusammenfassende Lektüre mit Resümee
Es un hombre …
Paul Alsberg zitiert Sophokles mit „Viele gibt es der Wunder – kein größeres als den Menschen“1. Das Erstaunen oder Sich-Wundern, das Thaumatzein, verwandelt diese Aussage in einen urphilosophischen Gedanken. Alsberg sucht dieses Rätsel aufzuklären. Doch ein „Wunder“ kann der Mensch nur sein, wenn er „ein Tier im Sinne eines Primus inter pares sei“2 wie Alsberg weiter ausführt. Denn als Geschöpf eines Gottes oder einer höheren Macht sei er schon erklärt und bedürfe keiner weiteren.
Welchen Namen aber trägt der Mensch als Primus inter pares, als Säugetier/ Primat? Wie also transzendiert der Mensch seine biologische Einordnung im linnéschen System? Wie stellt sich dieses Überschreiten der Immanenz dar? Ist mithin dies seine ihm ureigene Natur: der Mensch, das Lebewesen der transzendierenden Immanenz?
Unter den frühen Gedichten Antonio Gamonedas finden wir das folgende:
Es un hombre. Va solo por el campo.
Oye su corazón, cómo golpea,
y, de pronto, el hombre se detiene
y se pone a llorar sobre la tierra.
Juventud del dolor. Crece la savia
verde y amarga de la primavera.
Hacia el ocaso va. Un pájaro triste
canta entre las ramas negras.
Ya el hombre apenas llora. Se pregunta
por el sabor a muerto de su lengua.3
Einfache Sätze beschreiben eine einfache Szene. Ein Mensch wird benannt. Er geht allein übers Feld, ein alltägliches Geschehen. Im Gehen erfüllt der Mensch seine Bestimmung, denn als aufrechter Bipodes auf dem weiten Feld der Erde begann er seinen Stammbaum. Der aufrechte Gang ist für Hans Blumenberg das wesentliche Merkmal des Menschen und der Ausgang für seine Sonderstellung in der Welt4. Doch der nächste Satz führt uns in sein Inneres, zu seinem Herzen und sogleich stockt dieser menschliche Gang. Er bricht in Weinen aus, dort auf dem Acker. Das Weinen stellt nach Plessner gleichsam einen Zusammenbruch der menschlichen Konstitution dar: ein Ausgeliefertsein des Menschen an ein ihn überwältigendes Erlebnis – ein Privileg des Menschen vor allen anderen Lebewesen –, welches diesem die Herrschaft über seinen Körper verlieren lässt und ihn an das Würgende, Schluchzende des Weinens und somit an seine reinen Körperfunktionen ausliefert5. Der Leser weiß nichts über das Warum dieses Ausbruchs. Das Gedicht führt uns in den Umkreis des „homo absconditus“6. Die nächste Strophe führt den Leser zu einem Empfinden, welches der Grund des Weinens sein könnte, einem Schmerz, und weiter zu einer Erinnerung oder der Beobachtung einer Umgebung, welche eine Erinnerung entbirgt. Die Möglichkeit des Habens einer Umgebung ist ein Privileg des Menschen vor seinen Lebensgenossen, den Tieren, welche eine Umwelt besitzen, aber keine Umgebung, keinen Horizont. Und weiter zieht der Mensch gegen Westen, dem fernen Horizont des Sonnenuntergangs entgegen, dahin, wo der Tag endet. Schon dunkelt es, die Zweige zeichnen schwarze Linien, und ein Vogel lässt sich hören, ein Bewohner desselben Horizonts, derselben Erde wie der Mensch. Das Weinen erlischt und zurück bleibt die Frage des Menschen nach dem Wissen um seinen Tod, der sich als Geschmack nach dem Tod auf seiner Zunge niederschlägt. Das Wissen um seinen Tod zeichnet den Menschen vor allen anderen Lebewesen aus, wobei nach Landsberg sich hier schon ein modernes, existenzielles, Bewusstsein von Tod geltend macht und nicht eines, welches den weit überwiegenden Teil der Menschheitsgeschichte bestimmte, nämlich dem vom Tod als einer Verwandlung, entweder in ein anderes Lebewesen, in ein höheres Leben oder in die Rückkehr als anderer Mensch derselben Sippe oder Volkes7.
Diese Fingerübung zum Thema Mensch möchte vorläufig darauf aufmerksam machen, was aus der Perspektive der philosophischen Anthropologie auf einen Text Antonio Gamonedas unmittelbar erkennbar werden kann.
Paul Alsberg: Das Menschheitsrätsel
Paul Alsberg fragt als Kantianer, wenn er fragt, „Wie sind synthetische Urtheile a priori möglich?“1. Allein mit dieser Frage bestimmt er den Horizont seiner Arbeit. Denn wie soll es möglich sein, dass ein Naturwesen Mensch „außerhalb und unabhängig von sinnlicher Erfahrung zu allgemeingültigen Urteilen über die Natur gelangen kann?“2 Und die Frage findet ihre Zuspitzung, bedenkt man gar, dass im Sinne Linnés „also das Tier den höheren Gattungsbegriff bezeichne, welcher den niederen Begriff des Menschen unter sich hält.“3 Kann sich der Mensch aus dieser Systematik heraus zu seinem heutigen Stand graduell entwickelt haben? Wäre etwa der Haeckelsche Pithekanthropus alalus4 ein möglicher Kandidat für den missing link einer natürlichen Schöpfungsgeschichte, und wie könnte diese aussehen? Alsberg stellt fest, dass kein naturwissenschaftlicher Forscher bis dato dem „genealogischen und dem biologischen Prinzip beim Menschen gerecht zu werden“5 vermochte und unterscheidet dabei die zooistischen von den anthropistischen Theorien. Also jene Ansichten, welche den Menschen allein aus dem zoon heraus entstehen lassen wollen von denjenigen, welche einen grundsätzlichen Unterschied zwischen Mensch und Tier postulieren. Fehlen jene darin, dass sie keine Antwort auf die Existenz eines spezifisch- oder prinzipiell-Menschlichen6 finden, stellt sich diesen die Frage ernstlich überhaupt nicht, und sie müssen, streng genommen, jeder genealogischen Ableitung entbehren. Damit jedoch löst sich die Frage nicht auf. Eine weitere Schwierigkeit der Lösung des Menschheitsrätsels erkennt Alsberg in dem Sachverhalt, dass die Tierpsychologie „mit Ausnahme des Begriffsvermögens alle anderen geistigen Formelemente auch beim Tiere nachgewiesen“7 habe, wodurch die Grenzlinie zwischen Mensch und Tier noch feiner zu bestimmen sei. Er schließt sich jedoch auch nicht H. Spencers Lösung an, die ein „überorganisches Gesellschaftsprinzip“8 für die Entwicklung des Menschen verantwortlich machen möchte. Denn dieses Prinzip führt eine neue Entität in die Debatte ein und bedarf weiterer Erklärungen hinsichtlich des Verhältnisses von Gruppe und Individuum.