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Das Prinzip der Körperausschaltung
Alsbergs Dilemma stellt sich also folgendermaßen dar: Wie kann eine stringente Entwicklung des Menschen gedacht werden, die ihn mit all seinen Fähigkeiten als primus erklärlich werden lässt, ohne dass der naturwissenschaftliche Gattungsbegriff nach Linné gesprengt wird, und der Mensch ein Lebewesen unter anderen Lebewesen, als inter pares, bleibt? In seiner eigenen Frageversion schreibt er: „Was ist es mit dem Menschen, der aus dem Tiere hervorgegangen ist und offensichtlich doch kein Tier ist?“1, bei Erhalt einer gemeinsamen Substanz von Mensch und Tier die differentia specifica erklärlich werden zu lassen. Er löst diese Frage, indem er den Ursprung der Verschiedenheit in den Ursprung einer gemeinsamen Gattung zurückverlegt und Tier wie Mensch unterschiedlichen Entwicklungsprinzipien unterwirft. Er konstatiert, dass die menschliche Entwicklung „unter einem besonderen, einheitlichen Prinzip, welches in den beiden korrespondierenden Symptomen des körperlichen Rückganges und des technisch-geistigen Wachstums seinen greifbaren Ausdruck findet.“2 Er bestimmt dann weiterhin, dass die tierische Entwicklung auf den Körper, „die menschliche Entwicklung auf das künstliche Werkzeug gestellt“3 sei.
Das Entwicklungsprinzip des Tieres ist das Prinzip der Körperanpassung (Körperfortbildung), das Entwicklungsprinzip des Menschen ist das Prinzip der Körperausschaltung vermittelst künstlicher Werkzeuge.4
Die Antwort des Tieres auf Anpassungszwänge der Umwelt ist die organische Anpassung, die Antwort des Menschen auf das Andrängen der Umwelt ist die Entwicklung entsprechender Werkzeuge bei grundsätzlicher Beibehaltung seiner physischen Verfassung. Somit ist die Entwicklung des Menschen keine Steigerung der tierischen, sondern ein echtes „Novum“5 und der Mensch vom Tiere als wesensverschieden6 bestimmt.
Alsberg versteht unter Organ „jedes anatomisch und funktionell zusammengehörige Teilgebilde des Körpers“7 und unter Werkzeug „ein jedes außerkörperliche (künstliche) Mittel, mit welchem eine Ausschaltung des Körpers bewirkt wird.“8 Diese Unterscheidung ermöglicht es ihm zwischen „Überorganischem“ und „Außerorganischem“9 zu unterscheiden und auch den Tieren Tradition im Sinne überorganischer Weitergabe von Verhalten zu konzedieren, ohne dass der Triebmotor des Entwicklungsprinzip des Menschen, die Körperausschaltung per Werkzeug, dabei in Anschlag gebracht werden muss.
In Anwendung seines Werkzeugbegriffs führt Alsberg stringent auch Sprache und Begriff, sowie weiterhin Moral und Ästhetik seinem Menschheitsprinzip der Körperausschaltung zu. Im Wort erkennt er das lautliche oder sprachliche Werkzeug10, dessen Stoff geistiger Natur ist und schließt:
Wie das stoffliche Werkzeug, so ist auch das Wort ein absolut selbständiges Gebilde, es führt ein Leben für sich und ist in seinem Dasein allein an den Gegenstand gebunden, als dessen Symbol es auftritt.11
Er präzisiert die Sprache als ein „außerkörperliches (künstliches) Werkzeug, mit welchem der Mensch die Ausschaltung seiner Sinnesorgane bewerkstelligt und damit das Prinzip der Körperausschaltung befolgt.“12
Als gegenstandsgebundenes Werkzeug, welches außerkörperliche Wahrnehmung vertritt, sei es ebenfalls ein Novum und keine Steigerung von Bisherigem13.
An dieser Stelle konstatiert er jedoch einen „Drang nach Vervollkommnung“14, den er der Technik wie der Sprache zuspricht. Allein die Einführung eines Telos, um Entwicklungen bei Technik und Sprache zu begründen, scheint mir eine überflüssige Zutat, finden wir doch schon beim täglichen Umgang und der Anwendung beider Arten genügend Motive, um diese entsprechend den Notwendigkeiten des Augenblicks weiter zu entwickeln. Hier reicht das Spektrum von zwingender Notwendigkeit bis zum Zufall. Ein wie auch immer geartetes inhärentes Telos dabei scheint mir deshalb entbehrlich.
Ästhetik als eine Erscheinungsform des Prinzips der Körperausschaltung
Unter Anwendung der Reihe: „comparatio – abstractio – reflexio“1 erklärt Alsberg den Vorgang der Abstraktion mit der „Konzentrierung der Aufmerksamkeit auf das gemeinsame Merkmal“2 und erreicht somit die Höhe des Begriffs, den er sogleich im Unterschied zum Wort, welches für ihn „Gegenstandssymbol“3 ist, als „Beziehungssymbol“4 bestimmt. Im Rückgriff auf Schopenhauer erklärt er die Tätigkeit des Verstandes als die Umwandlung der „Sinnesempfindungen in Wahrnehmungen und Vorstellungen“5, während die Vernunft „das Vermögen der Begriffe“6 darstellt. Mit Hilfe des Begriffs eröffneten sich dem Menschen ganz neue Perspektiven:
Er sieht nicht nur das Heute, sondern auch das Gestern und Morgen; nicht nur das Nahe, sondern auch das Ferne; nicht nur das Einzelne, sondern auch das Ganze in unserem Vorstellungsbereich und schafft auf diese Weise, einen neuen, in die Tiefe und Breite dringenden Lebenszusammenhang.7
Dann bestimmt er die „Besonnenheit“8 als das Werkzeug des Kulturmenschen, die „Wahrheitsidee“9 als dasjenige der Wissenschaft und die Idee „des Guten“10 als das Werkzeug des Prinzips der Körperausschaltung. Das ästhetische Erlebnis ist für Alsberg subjektiver Art, welches die tätige Anwendung des Entwicklungsprinzips des Menschen, die Köperausschaltung, auf den Akt der Wahrnehmung des Schönen anwendet und somit die tierische Komponente der „begehrlichen Körperlichkeit“11 suspendiert. Auf diese Weise entsteht ein der Natur entzogener Raum, in welchem das Schöne erscheinen kann.
Wenn wir aber in der ästhetischen Betrachtung alle praktischen Lebenszusammenhänge durchschneiden, so heißt das nichts anderes als den Akt der „Körperausschaltung“ vollziehen. Das „Schöne“, das ästhetische Erlebnis, tritt „an Stelle“ der begehrlichen Körperlichkeit. So erweist sich auch die Ästhetik als eine Erscheinungsform des Prinzips der Körperausschaltung.12
Die Körperausschaltung wird als ein Akt der Vernunft deklariert, da sie in „jedes Mal gleicher Art, durch eine gleiche Selbstobjektivierung vermittels abstrakter Ideen herbeigeführt“13 wird.
Das Reich des Schönen und die Selbstwerdung des Menschen
Das Tier, schreibt Alsberg, ermangelt der Ästhetik, weil es „im Zuge seines Entwicklungsprinzips, welches dauernde und intensive Aufmerksamkeit auf die Verhältnisse und Geschehnisse der Umgebung gebietet“1, die oben genannten Lebenszusammenhänge nicht durchschneiden und sich nicht auf diese Art selbst verobjektivieren kann. Wir erkennen in dieser Beschreibung eine die gesamte Durchführung des Werkzeuggedankens sowie des Prinzips der Körperausschaltung zugrunde liegende Bedingung der dringenden Auseinandersetzung der Lebewesen mit ihrer Umwelt, welche ständig und ununterbrochen von ihnen geleistet werden muss. Allein dem Menschen ist es ob seiner Werkzeugtätigkeit vorbehalten, sich den Begehrlichkeiten der Natur entziehen zu können, und Zeit für die Betrachtung des Schönen zu gewinnen. Das Schöne findet nach Alsberg ein natürliches Arbeitsfeld in der Gattenwahl2. Und wie eine moralische Pflicht auf der „Körperaufopferung nach Maßgabe abstrakter Motive“3 bestehe, so bestehe eine ästhetische Pflicht in der Ausschaltung der körperlichen Begehrlichkeit und der Gattenwahl nach rein ästhetischen Gesichtspunkten nach Maßgabe eines Schönheitsideals vom menschlichen Körper und ist „im Rahmen des Menschenlebens eine naturhafte Aufgabe“4.
Danach wandelt auch in seinen ästhetischen Eingebungen der Mensch die vorgezeichneten Wege der Natur. Was das tierische Entwicklungsprinzip durch Instinkt erzwingt, das leistet das Menschheitsprinzip durch bewusste Ideale.5
Die Idee verkörpert den Werkzeuggedanken und stiftet die Einheit von Menschheitsprinzip und Kulturprinzip6. Damit ist auch die Aufgabe der Kultur bezeichnet. Sie besteht in der Pflege – cultura – der Entwicklung der entsprechenden Werkzeuge in Technik, Sprache und Vernunft. Dieser Art wird das Menschheitsprinzip zum sittlichen Prinzip, welches zum „Vollmenschentum“7, seinem Telos hinführt und in der „vollendeten Ablösung des Instinkts durch die Bewusstheit“8 mündet. Innerhalb dieser Entwicklung fallen der Ästhetik noch weitere Aufgaben zu, denn so, wie sie mit Hilfe des Schönheitsideals die „Naturzüchtung“ 9 zu leiten übernommen hat, gibt sie in der Erhaltung der Körperlichkeit auch die Richtung für Körperpflege und Kosmetik vor, und dies Alles im Dienste der „Selbstvollendung aller vom Menschheitsprinzip aufgreifbarer Anlagen im relativen Sinn einer höchstmöglichen Entfaltung“10. Metaphysisch interpretiert ist der Mensch für Alsberg „Sinn der Erde“11 und doch, so schließt er, ist „Kultur nichts anderes als zum Leben erstandenes Menschheitsprinzip“12 und zitiert Pindar mit: Werde, der du bist!
Der Geschlechtstrieb ist der Angriffspunkt für das Prinzip der Körperausschaltung, welche diesen Naturtrieb mittels der Idee des Schönen in die Form der Gattenwahl verwandelt. Der Geschlechtstrieb ist der natürliche Grund für die Erotik des Menschen, welche durch deren ideelle Ausgestaltung das Reich des Schönen eröffnet und entwickelt. Es ist das Reich der ästhetischen Freiheit, und es ist durch die es tragende Idee des Schönen bestimmt. Aus dieser Quelle stammen alle weiteren Schönheitsbereiche.
Die Kosmetik unterstreicht das Schönheitsideal und erweitert die Macht des Menschen über sich und seine Erotik. Das Unterstreichen von körperlichen Schönheitsmerkmalen lässt sich auf das Bild bzw. Abbild, die Plastik, die Sprache mit und ohne Gesang sowie auf Musik und Tanz – als idealtypische Verhältnisse und Bewegungen – übertragen. Auch körperliche Fitness und Körperpflege finden ihren Ursprung in der menschlichen Gattenwahl, des sie leitenden Ideals und dem in der Idee der Körperausschaltung impliziten Telos des Vollmenschentums. Die Fitness zeitigt bestimmte Körperformen und gibt diese der Idealisierung an die Hand. Des Weiteren lässt sich mittels ihrer eine ethologische Idee, wie die der griechischen Spiele in Olympia kultivieren. Sie führt dem Publikum das Ideal des Sportlers mit seinem Körperbau, aber auch mit seiner Askese und seinem agonalen Ethos vor, generiert Ordnung durch Gruppenbildung, unterscheidet Sieger und Verlierer, stiftet Friedenspflichten, einen Kalender unter den griechischen Stämmen und schafft nicht zuletzt Raum und Motiv für Ehrungen, Erzählung, Feste und Meinungsaustausch unter allen Teilnehmern. Die Körperpflege selbst stiftet ihre eigenen Ideale der Schönheit. Indem sie körperliches Wachstum und Erholung unterstützt, gehen aus ihr nicht nur Kenntnisse hervor, sondern auch Verhaltensweisen wie Ruhe, rekreative Bewegung, spezifische Diäten, Moden und Etikette und nicht zuletzt auch Attraktivität. Die Körperpflege erschafft ihre eigene Askese und ein ihr eigenes Ethos, die aus dem Schönheitsideal entstehen und sich in Kunst und Kultur wiederum manifestieren können.
Alsberg widmet in seiner Abhandlung dem Ästhetischen nur wenige Zeilen, man kann jedoch, ausgehend von den Stichworten Gattenwahl, Kosmetik und Körperpflege, die uns bekannten künstlerischen Genres angelegt erkennen, und stringent aus dem von Alsberg benannten Prinzip der Körperaussschaltung entwickeln.
Resümee
Alsberg gelingt es, den Menschen als primus inter pares unter den Lebewesen zu bestimmen, ohne dabei die gemeinsame Substanz der Lebewesen aufzuheben. Der Mensch ist und bleibt ein Lebewesen unter Lebewesen, doch der Werkzeuggedanke und das Prinzip der Körperausschaltung überformen diese gemeinsame Substanz derart, dass der Mensch in ein Gegenüber zur Natur gerät. Unter den Lebewesen findet sich allein der Mensch in einer Position Welt und Natur gegenüber. Das Schöne gehört dabei wesentlich zu seinem Reich der Freiheit. Wie das Wahre und Gute ist – nach Alsberg – auch das Reich des Schönen Ausdruck jener einsamen Stellung des Menschen in der Welt, und es obliegt ihm, selbst das Rätsel dieser Sonderstellung mit der Entwicklung seiner Fähigkeiten einer Lösung zuzuführen. Das Telos dieser Entwicklung ist die Selbstwerdung des Menschen. Es ist der dynamische Substanzbegriff Alsbergs, welcher die Entwicklung des Dramas dieser Menschheitsaufgabe wie auch das daraus erwachsende geschichtliche Sein des Menschen ermöglicht.
Blicken wir von hier aus auf das eingangs zitierte Gedicht Es un hombre zurück, so können wir eine kurze Geschichte des Menschheitsrätsels erzählen: Ein Mann auf dem Weg durch seine Welt: Va solo por el campo. Im Oye su corazón, como golpea, erlebt er einen Akt der Selbstvergegenwärtigung. Sie überwältigt ihn und schlägt ihn nieder: el hombre se detiene/ y se pone a llorar sobre la tierra. In der Gegenwärtigkeit der Erinnerung an seine Jugend erwacht der Schmerz, Umwelt verwandelt sich in Umfeld und Umgebung: Crece la savia/ verde y armaga de la primavera. Der Mensch wird seiner Vergänglichkeit gewahr, doch er richtet sich wieder auf, frei dem Sonnenuntergang zu folgen: Hacia el ocaso va, und er zieht weiter seines Weges, einsam unter den Lebewesen: un pajaro triste/ canta entre las ramas negras. Er nimmt sein Sein an: Ya el hombre apenas llora, und er versetzt sich so in den Stand, danach fragen zu können: Se pregunta por el sabor a muerto de su lengua, und er beginnt auf diese Weise sich selbst zu ergreifen, getreu des schon erwähnten Pindarschen Mottos: Werde, der du bist!
Vorwärts im aufrechten Gang, seinen Schwerpunkt in sich selbst tragend wie seiner Geschichte innewerdend, ist der Alsbergische Mensch in Es un hombre allein unter den Lebewesen frei, nach seinen Grenzen zu streben.
Max Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos
Die Biologie, eine neue philosophische Modellwissenschaft
Das Novum des Denkens, welches Max Scheler seit der Zeit seiner Köllner Vorlesungen von 1922 in der philosophischen Skizze Die Stellung des Menschen im Kosmos kundtun konnte und was ihn zu der Behauptung berechtigte, dass die „Probleme einer Philosophischen Anthropologie heute geradezu in den Mittelpunkt aller philosophischen Problematik in Deutschland“ 1 getreten seien, lag in der Heranziehung einer neuen Modellwissenschaft zum philosophischen Denken: der Biologie. In der Zeit einer Krisis des traditionellen Menschenbildes, innerhalb dessen er entweder als Abbild Gottes oder als selbstverständlicher Träger eines Logos bestimmt worden war, war es ob der neuzeitlichen Wissenschaften (wie der Evolutionstheorie, welche den Menschen als ein wohl komplexeres, gar als den Höhepunkt einer Entwicklung jedoch rein natürlicher Lebensformen auffasste) notwendig geworden, Traditionsstränge neu zu überprüfen. Hinzu kam die Tatsache, dass die verschiedenen Wissenschaften „gewaltige Schätze des Einzelwissens“2 vom Menschen erarbeitet hatten, so dass die Zeit reif schien, für den Menschen „eine neue Form seines Selbstbewusstseins und seiner Selbstanschauung zu entwickeln.“3
Demnach musste sich der Horizont der zentralen philosophischen Fragestellung verschieben – nach der ersten anthropologischen Wende durch Sokrates, jetzt eine zweite – und das Lebendige den paradigmatischen Rahmen dafür darstellen. Der Mensch musste nun als Forschungsgegenstand notwendig in den Fokus der philosophischen Untersuchungen einrücken, war er doch das einzige lebendige Wesen, dessen Innenleben, dessen „Fürsich- und Innesein“4, welches Scheler als „das psychische Urphänomen des Lebens“5 bestimmte, ihm selber einsichtig werden konnte. Konsequenterweise musste sich der Blick auf den Menschen grundsätzlich neu einstellen. Mit theologischen oder metaphysischen Kriterien allein konnte er nicht mehr zureichend beschrieben werden. Es bedurfte zusätzlicher, neuer Konzepte, die den im Aufschwung befindlichen Lebenswissenschaften wie der Biologie Jakob von Uexkülls entnommen werden konnten – wie z.B. der zentrale Begriff der Umwelt6. Damit rückte der Mensch in den Zusammenhang von Tier und Pflanze – seinen Mit-Lebewesen – ein, und es ergab sich zwingend die Frage der modernen Anthropologie nach der Sonderstellung des Menschen in dieser Welt: das Wort „Mensch in der Sprache des Alltags, und zwar bei allen Kulturvölkern […] soll auch einen Inbegriff von Dingen bezeichnen, den man dem Begriffe des ‚Tieres überhaupt‘ aufs Schärfste entgegensetzt […]“.7
Scheler kontrastiert diesen emphatischen Menschenbegriff, den er den „Wesensbegriff“8 des Menschen nennt, mit einem „natursystematischen Begriff“9 und fragt:
Ob dieser zweite Begriff, der dem Menschen als solchem eine Sonderstellung gibt, die mit jeder anderen Sonderstellung einer lebendigen Spezies unvergleichbar ist, überhaupt zu Recht bestehe – das ist unser Thema.10
Das Verdienst Schelers war es also, als erster grundlegend neue Konzepte für diese neue Situation in das philosophische Denken eingeführt und die Fundamente dieses modernen Zweiges der Philosophie gelegt zu haben.
Die Fragen, welche Konsequenzen sich aus dieser anthropologischen Wende des Denkens für Ästhetik und Poetik ergeben, sollen hier behandelt werden.
Der Gefühlsdrang und die Leiter des Lebendigen
Schnell beginnt Scheler in der Kosmosschrift mit der Rekonstruktion der lebendigen Welt, auf deren Stufenleiter er den Menschen an oberster Stelle einordnen wird. Die Grenze des Psychischen fällt für ihn mit der Grenze des Lebendigen zusammen1, und er bestimmt für diese neben anderen als dessen wesentliches Merkmal ein „Fürsich- und Innensein“2.
Es ist die psychische Seite der Selbständigkeit, Selbstbewegung etc. des Lebewesens überhaupt – das psychische Urphänomen des Lebens.3
Dessen unterste Stufe bilde der „bewusstlose, empfindungs- und vorstellungslose ‚Gefühlsdrang‘.“4
Mit dem Kompositum Gefühlsdrang kennzeichnet Scheler im „Gefühl“5 das oben genannte Urphänomen des Lebens, jenes Fürsich- und Innensein, und begründet damit ein erstes Sich-gegeben-Sein des Lebendigen. Zugleich verweist jenes Fürsich- und Innensein auf ein Außen und stiftet im selben Atemzug das Gegenüber des Lebewesens seine Welt oder besser seine ihm zughörige Umwelt. Mit dem Rückgriff auf das Wort „Drang“ – in seiner Bestimmung aus dem 18. Jahrhundert als „innerer Trieb, geistiges Streben, Impuls“6 – verweist er auf einen makrokosmischen Vorgang, welcher sich als solcher eben auch im Lebendigen abbildet und abbilden müsse. Denn die Wesensstufen des Lebendigen befinden sich für den Metaphysiker Scheler eingebettet in ein Weltgeschehen, innerhalb dessen er dem Menschen als Summe des Lebendigen und des Geistes seine ihm spezifische Rolle zuweist. So fragt Scheler, nachdem er die Leiter des Lebendigen bis zum Menschen erklommen hat:
Ist das nicht, als gäbe es eine Stufenleiter, auf der ein urseiendes Sein sich im Aufbau der Welt immer mehr auf sich selbst zurückbeugt, um auf immer höheren Stufen und in immer neuen Dimensionen sich seiner inne zu werden – um schließlich im Menschen sich selbst ganz zu haben und zu erfassen?7
Damit reserviert Scheler dem Menschen ein „ausgezeichnetes Verhältnis, das der Mensch als solcher zum Weltgrund besäße.“8 Dies ist durchaus als eine kritische Replik auf das Menschbild des homo faber aufzufassen. Er distanziert sich damit auch von einem Menschenbild, welches sich in mechanistischen Metaphern von Stoß und Zug erklärt, und zu deren Urvätern auch Descartes oder Kant gehören. Zugleich jedoch verschließt er sich einem Panpsychismus, da er die unbelebte Materie aus dieser Konzeption des Lebendigen verdammt.
Schelers metaphysische Weltkonzeption weist dem Menschen eine tragende Rolle zu. Denn dieser ist als Leben und Geist vereinendes Wesen mit seinem Zentrum der Person aktiver Träger der makrokosmischen Entwicklung, welche sich weder pantheistisch noch panentheistisch als creatio continua9 der Ens a se geschichtlich realisiert. Es ist der allseits bekannte Gedanke eines teleoklinen Weltgeschehens mit dem Menschen als Erfüllungsfigur. Die spezifische Konstruktion dieses Bildes verdankt sich dem metaphysischen Hintergrund, denn das „Sein der Substanz ist ewig; aber das Dasein Gottes als der Identität des Geistes und der Idee ist nur ein Werden“10. Ein Werden, welches durch den Menschen in der Rolle des Ausführenden eines göttlichen Willens – der sich im Geiste manifestiert – ausdrückt:
Der Substanzielle Weltgrund hat zwei Attribute: den Geist und das Leben. (Der Geist realisiert sich in forma von Person; das Leben in Form von Organismen). Sein «Werden» besteht in Vergeistigung des Lebens (Bewegung von oben nach unten) und Verlebendigung (Realisierung) des Geistes (Bewegung von unten nach oben). Der Wille Gottes ist nur das «non non fiat» – nicht das fiat. Darum ist 1. die geistige Gottheit nicht verantwortlich für die Welt. Denn ihre «Macht» war nur negativ; 2. ist das «aus Nichts» vermieden; denn der schöpferische Drang schafft das, was er schafft, aus sich selbst. Der Drang als das realisierende Prinzip ist an sich jenseits von Gut und Böse; gut-schlecht.11
Die Mechanik des „non fiat“ (hemmen) und des „non non fiat“ (enthemmen) findet sich in der Kosmosschrift als „Lenkung“ des metaphysischen Geschehens mittels des Geistes beschrieben12 und besteht in dem vom Geist und dessen Ideen geleiteten Willen, welcher sich den unerwünschten Triebregungen und Vorstellungen versagt und ideen- und wertangemessene Vorstellungen dem Trieb zur Realisierung vorsetzt. Der Geist realisiere sich in der vom Drang geschaffenen Welt und verlebendige sich, während auf der anderen Seite der an sich machtlose Geist die Energien aus dem Drang erhielte. Scheler schließt sich mit dieser metaphysischen Mechanik den Ideen Nicolai Hartmanns an, der „die höheren Seins- und Wertkategorien“ von Hause aus für die schwächeren erkläre13, und kehrt die traditionelle philosophische Anschauung zur Macht und Ohnmacht des Geistes um. Denn die aristotelische Tradition meinte im nous poietikos14 ein machtvolles metaphysisches Agens ausmachen zu können.
Die Verwirklichung des göttlichen Wesens selbst ist ohne das Mitwerden der Welt nicht möglich. Indem der [209] Drang – drängte, seinen unendlichen Reichtum an Richtungen in Phantasiebildern zu entladen, wäre doch ohne den Geist nur ein bestandloses Chaos entstanden. Er musste sich Ideen des Geistes und seinen Werten unterwerfen, die der Geist aus seinen unendlichen Möglichkeiten also auswählte, das ein bestandfähiges, ja ein sich Vervollkommnendes zustande kam. Auch die anorganische Welt enthält weder quantitative noch qualitative absolute Konstanten. Sie gleichen dem Chaos umso mehr, je älter die Stufe ist, auf der wir sie betrachten. Die Natur ist an zufälligem Sosein nur das Phantasiespiel der Gottheit als Drang – geleitet durch den Eros, der zu Gestalt und zu Schönheit richtet.15
Das göttliche Wesen realisiere sich in der Welt mittels des Geistes, dessen Träger, der Mensch, an den Ausführungen jenes Prozesses selbst direkt beteiligt sei. Dies sichere ihm eine Sonderstellung im geschichtlichen Werden der Welt zu, und diese Sonderstellung sei das Resultat der direkten Rückbindung des Menschen an einen „Weltgrund“16, – womit sich seine privilegierte Stellung unter den Lebewesen bestätigte. Es handelt sich bei der Schelerschen Konzeption um eine ausgearbeitete „Metaphysik des Menschen“17.
Ausdruck, Empfindung, Wirklichkeit und Wahrnehmung
Ausdruck besteht bei Scheler in einer Regung, in einer allgemeinen Veränderung und letztlich in einer Bewegung, durch die sich etwas ausdrücklich zu werden anschickt und bemerkbar macht. Aus dem Gesamt der Eindrücke beginnen einzelne sich herauszulösen. Dabei muss deren Ausdrücklichkeit sich noch nicht wirklich im einzelnen kundtun, sondern kann von der Empfindung vorher schon angemahnt worden sein. Der Ausdruck gehe jedoch der Empfindung voraus, denn der Ausdruck sei ein „Urphänomen des Lebens“1 und aufs engste mit dem empfindungs- und vorstellungslosen Gefühlsdrang verbunden – der untersten Stufe des Lebens –, welcher alle seine Formen durchzieht. Schon im pflanzlichen Dasein gebe es ihn, und er drücke „eine gewisse Physiognomik ihrer Innenzustände, der Zuständlichkeiten des Gefühlsdrangs als des Innenseins ihres Lebens, wie matt, kraftvoll, üppig, arm“2, aus.







