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Der Ausdruck scheint derart grundlegend für das gesamte Leben zu sein, dass es dem Menschen noch heute außerordentlich schwer fällt, die Ausdrucksqualitäten dessen, was er betrachtet, bewusst außen vorzulassen. Der nüchterne wissenschaftliche Blick auf die Naturphänomene ist eine Errungenschaft der Neuzeit, und das Erwachen des menschlichen Bewusstseins kennt in allen Kulturen die Projektion der Innenzustände des Lebewesens Mensch in seine Außenwelt, welche sich durch ihn begeistert und sich mit mythischen Wesen erfüllt zeigt.
Auch die Empfindung wächst bei Scheler aus der Bewegung. Sie ist erlittene Bewegung, und er definiert ihre allgemeinste Idee als „Begriff einer spezifischen Rückmeldung eines augenblicklichen Organ- und Bewegungszustandes des Lebewesens an ein Zentrum und eine Modifizierbarkeit der je im nächsten Zeitmoment folgenden Bewegung kraft dieser Rückmeldung.“3
Der Reflexbogen, den Scheler hier beschreibt, äußert sich in der auf die Empfindung folgende Bewegung, wobei in diesem höchst innigen Zusammenhang noch nicht entschieden ist, in wieweit die Bewegung eine geführte oder irgendeine allgemeine, unbestimmte Bewegung ist. Sicher bleibt jedoch, dass sie eine Folge der erlittenen Bewegung, also Empfindung, ist und sich als ein Tun des Lebewesens äußert. Dieses Tun wird alsdann wiederum empfunden. So schließt und öffnet sich zugleich ein Kreis der anlandenden Empfindung; einerlei, ob durch das Tun des Lebewesens selbst provoziert oder willkürlich erlitten. In seiner Konsequenz jedoch eröffnet sich dem Lebewesen ein Raum, ein Dazwischen, ein freier Raum, zwischen sich und Welt, eine kleinste Fraktur, welche es von der Welt scheidet und dieser gegenüberstellt. Empfindung ist in diesem Sinne eine Zustandsempfindung der Selbstbewegung. So verschieden Empfindung und Bewegung scheinen, erwachsen sie gleichursprünglich mit dem Leben.
Alle Kunst jedoch entsteht aus geführter Bewegung, aus tätigem Empfinden, einer sozusagen zweiten oder dritten Potenz der Empfindungsmöglichkeiten. Die Voraussetzung dafür finden wir mit Scheler bereits auf der untersten Stufe des Lebens, dem Gefühlsdrang. Selbst die einfachsten Empfindungen, seien nämlich „nie bloße Folge des Reizes, sondern immer auch Funktion einer triebhaften Aufmerksamkeit.“4
Sie seien Ausdruck des Gefühlsdrangs, welcher über die Vermittlung seines Drängens auf Widerstand treffe. Dieses Widerstandserlebnis bestimmt Scheler als den Ursprung der Erfahrung von Wirklichkeit:
Der Gefühlsdrang ist auch im Menschen das Subjekt jenes primären Widerstandserlebnisses, das die Wurzel alles Habens von «Realität», von «Wirklichkeit» ist, insbesondere auch der Einheit und des allen vorstellenden Funktionen vorangängigen Eindrucks der Wirklichkeit.5
Produktiver Antrieb für die Möglichkeit von Vorstellungen im Innenleben des Lebewesens sei die „triebhafte Aufmerksamkeit“6. Sie sei gleichsam verantwortlich für die Schaffung der Anlage der vorstellenden Funktionen aus dem auf diese Weise aus der Widerständigkeit der Welt geschöpften Eindruck.
Die Realität ist in ihrer subjektiven Gegebenheit eine Erfahrung des ungeistigen, triebhaften Prinzips in uns: eine Erfahrung des einheitlichen, wie immer sich spezialisierenden Lebensdranges in uns. Und Realität ist als etwas Objektives und unserem Erfahren Transzendentes notwendig Gesetzheit durch das ursprünglich geistblinde dynamische Prinzip des Dranges – des anderen uns noch erkennbaren Prinzips des Urgrundes selbst.7
Was sich im Mikrokosmos Mensch abspielt, findet seine Parallele im Makrokosmos und vervollständigt so die metaphysische Konzeption des Schelerschen Welt- und Menschenbildes. Der schöpferische Drang als metaphysisches Prinzip und als Prinzip des Lebendigen erschaffe Realität. Dem Geist, dem zweiten Attribut des Urgrundes, fällt dann die Rolle zu, dem darunter sich befindenden Chaos seine ordnenden und zur Vergöttlichung der Welt führenden Werte anzubieten. Für die Erkenntnis bedeutet dies, dass Realsein kein Gegenstandssein ist, in welchem sich gleich ein wie auch immer geartetes Sosein der Dinge ausdrückt, sondern zuerst ein „vielmehr Widerstandsein gegen die urquellende Spontaneität, die in Wollen, Aufmerken jeder Art ein und dasselbe ist.“8
Desgleichen heißt dies, dass dieses Widerstandserlebnis eine Erfahrung des aktiven Selbst ist und mit den peripheren Sinneserlebnissen nicht verwechselt werden darf, denn „nicht Empfindungen widerstehen, sondern die Dinge selbst.“9 Die Betonung der Aktivität eines Selbst bei der Erfahrung der Realität überhaupt, lässt es als plausibel erscheinen, dass das Lebewesen Mensch, die Realität zuerst als Leibsein begreift, da für es gilt:
Das Realsein in der Sphäre «Leibsein» und in der Struktur des Urphänomens «Lebendigsein» ist dem Realsein in der Sphäre «Totsein» (= Mangel an Lebendigsein) so vorgegeben, dass primär und ceteris paribus alles in der Sphäre «Außenwelt» überhaupt Gegebene als leibhaft und lebendig gegeben ist – und dies solange als nicht spezifische ent-täuschende positive Erfahrungsinhalte einiges außenweltliche Sosein als nicht-leibhaft und -lebendig, sondern als körperhaft und tot (= ohne ein Für-sich-Sein und Innensein Seiendes) zu besonderem Aufweis bringen.10
Wenn dem Lebewesen Mensch die Welt zuerst all das ist, was es als lebendiges Wesen selbst ist, so entziffert sich ihm die Welt über das Rissig-Werden dieser vorerst natürlichen Haltung. Eine wesentliche Unterscheidung dabei ist die Erkenntnis eines Anderen des Lebens, des Unbelebten, des Toten oder nur Gegenständlichen. Dieser Vorgang illustriert, was man die Tendenz des Wahrnehmens nennen könnte:
Wahrnehmung – das ist ursprünglich nur der Begriff einer Richtung: der Richtung einer mehr negativ-kritischen als einer positiven Tätigkeit; nämlich Kritik und der Negation der ‚Tradition‘ kraft vergegenständlichender Erinnerung, der Kritik und Negation ferner der Fikta der Trieb- und Wunschphantasie auf Grund von Erfolg und Misserfolg des praktischen Verhaltens gegenüber den ‚zunächst‘ mit Wahrnehmungscharakter und Ding- und Bildcharakter gegebenen «fiktiven» Gegenständen. Ein Ende und ein Ziel also ist die Wahrnehmung – wahrlich nirgends der Anfang seelisch-geistiger Entwicklung.11
Instinkt und Rhythmus, die schöpferische Dissoziation, Intelligenz und Wahl
Der dissoziierende Vorgang bei der Entfaltung des Geschehens Wahrnehmung findet sich analog in der Abfolge der seelischen Wesensformen des Lebendigen wieder. War der „Gefühlsdrang“ noch weitgehend einheitlich und undifferenziert – das pflanzliche Leben ist fest mit dem Boden verwurzelt, ernährt sich aus dessen chemischer Analyse und differenziert grob wie zum Beispiel zwischen Licht und Dunkel –, so kennzeichnet Scheler die nächste Stufe des Lebendigen durch den Instinkt und bestimmt ihn als eine art-dienliche Zeitfigur1. Eine Erweiterung der Fähigkeiten des Lebendigen, derer die Pflanze in ihrer Verwurzeltheit nicht bedarf, da die Seinsveränderung des lebendigen Wesens im Hinblick auf den Ort durch Selbstbewegung ein Privileg der tierischen Lebensform ist.
In diesem Sinne nennen wir „instinktiv“ ein Verhalten, das folgende Merkmale besitzt: Es muss erstens sinnmäßig sein, d.h. so sein, dass es für das Ganze des Lebensträgers selbst, seine Ernährung sowie Fortpflanzung, oder das Ganze anderer Lebensträger […] teleoklin ist. Und es muss zweitens nach einem festen, unveränderlichen Rhythmus ablaufen.2
Das Wort „sinngemäß“ im Zusammenhang mit dem Instinktiven verwundert, ist aber der Idee eines teleoklinen Ablaufs geschuldet, dem Zweck der Überlebenssicherung des Individuums durch von der Spezies aufgebaute und bereit gestellte komplexe Verhaltensweisen. An dieser Stelle erscheint zum ersten Mal die Bewegung als Ortsveränderung in den Formen von einem Zu-hin und Von-weg, von Angriff und Flucht, Attraktion und Repulsion. Der gewachsene Aktionskreis des tierischen Lebewesens spiegele sich in seiner Struktur als komplexerer Aufbau wider. Er bedinge ebensolche komplexere Abläufe im Lebewesen selbst. Zum ersten Mal in der Stufenabfolge des Lebendigen erscheint eine Gesamtheit von Tätigkeiten, welche Scheler in die Formulierung eines „festen, unveränderlichen Rhythmus“3 packt. Da es sich um eine mehrgliedrige Tätigkeit handelt, fügt er hinzu:
Solchen Rhythmus, solche Zeitgestalt, deren Teile sich gegenseitig fordern, besitzen die durch Assoziation, Übung, Gewöhnung – nach dem Prinzip, das Jennings das von „Versuch und Irrtum“ genannt hat – erworbenen, gleichfalls sinnvollen Bewegungen nicht.4
Scheler unterscheidet sie als angeborene und erbliche von den erworbenen Bewegungen. Der Instinkt sei in die Morphogenesis der Lebewesen selbst eingegliedert5 und im engsten Zusammenhang mit ihrer physiologischen Struktur tätig. Als ererbt bedinge er das, was ein Tier vorstellen, erinnern und empfinden könne. Der Instinkt umschließe alle diese Tätigkeiten des Tieres. Er sei in seiner arttypischen Anordnung wie eine Melodie6, welche wohl geübt und präzisiert werden könne, aber keine strukturelle Abwandlung erlaubte, ohne dass diese zu ihrer Desintegration führe. Zudem sei er zum einen unabhängig vom Individuum der Art und somit Allgemeingut, zum anderen unabhängig von der Anzahl der Versuche. Der Instinkt sei als Vermögen der Art eine von Beginn an vollständige, teleokline Figur, welche in ihrer Struktur immer gleich abläuft. Insofern gehört seine besondere Ausprägung zur Kennzeichnung der Art, welche in ihrer Umwelt mittels seiner agieren kann.
Der Instinkt ist die spezifische Figur eines Tuns und in seiner Mehrgliedrigkeit eine Rhythmusgestalt, welche als ein Urphänomen der Zeitgestaltung begriffen werden kann. Damit wäre der Instinkt ein erstes innerlich gegliedertes und gestaltetes Zeitfragment eines Lebewesens, ein festgelegter Rhythmus, ein erstes inneres Zeitmaß, eine erste innerliche Uhr des handelnden Lebens selbst. Als solcher zeugt er aber auch von der innigen Verbindung eines Lebewesens mit seiner Umwelt, und im Weiteren mit den makrokosmischen Vorgängen, welche die Wechsel in der Umwelt eines Lebewesens mitbedingen. Tatsächlich jedoch ist er Teil eines Gesamtvorgangs in der Natur und somit ein Bruchstück, welches als solches nicht selbst abstrahiert und als Zeitmesser verwendet werden könnte, aber als in einem Lebewesen angelegter Vorgang bestätigt er dessen Vermögen zu gegliederter und gestalteter Zeit.
So ist Gedächtnis wie Sinnesleben ganz vom Instinkt gleichsam umschlossen, in ihn eingesenkt. Die sog. «Trieb»handlungen des Menschen sind darin das absolute Gegenteil der Instinkthandlung, dass sie, ganzheitlich betrachtet, ganz sinnlos sein können (z.B. die Sucht nach Rauschgift).7
Treten wir aus der Instinktschicht heraus und erklimmen die nächsthöhere Stufe des Lebendigen, so stoßen wir auf „jene Fähigkeit […] die wir als ‚assoziatives Gedächtnisʻ (Mneme) bezeichnen.“8 Doch bevor Teile assoziativ neu angeordnet werden können, bedürfe es eines aus dem „biologisch einheitlicheren und tiefer lokalisierten Verhaltungsweisen“9 austreibenden Mechanismus der Dissoziation, welchen Scheler in der Großhirnrinde lokalisiert. Relative Einzelempfindungen und Einzelvorstellungen sowie einzelne Triebe treten aus dem im Instinkt noch gebundenen komplexen Verband der Regungen heraus. Es handelt sich um den Vorgang der „schöpferischen Dissoziation“10. Der Instinkt trete zurück, die Spuren, welche die Umwelt im Lebewesen hinterlässt, vertieften sich, würden plastischer und könnten, ja müssten neu geordnet werden. Dies geschehe durch das „gewohnheitsmäßige“11, Grundlage des assoziativen Gedächtnisses, welches sich über Probierbewegungen lebensdienliche Strategien aufbaue. Die Probierbewegungen führt Scheler auf einen „Wiederholungstrieb“12 zurück, so wie er die Gesetze der Assoziation auf die des Pawlowschen „«bedingten Reflexes»“13 zurückführt, deren psychische Seite sie darstellten. Die Assoziationsgesetze von „«Berührung und Ähnlichkeit»“14 konfigurieren oder rekonfigurieren die aus einem zerfallenen Gesamtkomplex von Vorstellungen einzelnen Teile. Wie schon vorher bei den Empfindungen gibt es auch hier für Scheler keine reinen Assoziationen, sondern die diese determinierenden Kräfte von Trieben, Bedürfnissen oder auch der Dressur15. Und wiederum bemüht er eine historische Parallele, indem er das assoziative Gedächtnis der Mythenkritik als ein Spätphänomen der Menschheitsentwicklung hinzufügt.
Die Prinzipien von Berührung und Ähnlichkeit können also neben innerseelischen Vorgängen auch soziale Beziehungen regulieren. Dann nämlich, wenn aufgrund des Ausdrucksvermögens des Lebendigen, der Artgenossen, sowie der damit verbunden Signale, „«Nachahmung» und «Kopieren»“16 stattfinden kann. Es handelt sich hier erneut um den Wiederholungstrieb der Lebewesen, diesmal jedoch angewandt auf Fremdverhalten und -erleben, auf dem der Vorgang beruht. An dieser Stelle erscheint nun erstmalig die Tradition.
Durch die Verknüpfung beider Erscheinungen bildet sich erst die wichtige Tatsache der «Tradition», die zu der biologischen «Vererbung» eine ganz neue Dimension der, Bestimmung des tierischen Verhaltens durch die Vergangenheit des Lebens der Artgenossen hinzubringt […].17
Diese müsse jedoch aufs Schärfste von der willkürlichen Erinnerung (Anamnesis) aufgrund von Überlieferung getrennt werden. Außerdem bleibt Scheler dabei, dass die Entwicklung des Menschen grundsätzlich auf „einem zunehmenden Abbau der Tradition“18 beruht.
In den Prinzipien Berührung und Ähnlichkeit erkennt man unschwer die Figuren der Metonymie und der Metapher, sei es als rhetorische, stilistische oder strukturalistische oder als philosophisch-erkenntnistheoretische Figur wie bei Aristoteles19 bis hin zu Karl Eibl20 und Blumenberg21. In Kopie und Nachahmung als Mimesis erkennt man weitere für die Ästhetik grundlegende Prinzipien des Intrapsychischen wie Interpsychischen.
Durch die zunehmenden dissoziativen Vorgänge bei der Entwicklung und dem Erklimmen der Stufenleiter des Lebendigen lösen sich die assoziativen Prinzipien Berührung und Ähnlichkeit kompensatorisch heraus. Sie bilden auch unter äußeren Zwängen und innerem Drängen die Bedingung der Möglichkeit für Re- und Neukonfigurationen von Empfindungen, Vorstellungen, Trieben und Bedürfnissen. Berührung und Ähnlichkeit rühren aus dem Gesamtkomplex der instinktiven Verhaltensweisen und sind als das Angrenzend-Dazugehörige: Berührung und das Sich-überschneidend-Dazugehörige: Ähnlichkeit, bestimmbar. Ihre propädeutische erkenntnistheoretische Natur lässt sich vor allem in ihrer das Sein zwar gliedernde, nicht jedoch durch eine ausschließende Funktionen ordnende erkennen. Berührung und Ähnlichkeit kennen kein tertium non datur. Mit dem Dazugehörigen-im-Angrenzenden und dem Dazugehörigen-im-sich-Überschneidenden (in z.B. Gestalt, Farbe, Geräusch, Geruch, Geschmack, Fühlen oder Größe, Aufenthaltsort, Menge etc.) ist zwar eine Gliederung als innere Grenze, jedoch kein kategorisch ausgrenzendes Kriterium gegeben. Es gibt noch keinen Horos, kein Definiens, das hier Platz greifen könnte. Es ist die Phylé des Lebendigen selbst, welche in dialektischer Bewegung auf jeder neuen Stufe immer komplexere Differenzierungen und somit immer weitere physische wie psychische Verhaltens- und Repräsentationsweisen der Lebewesen hervortreibt.
Mit dem Erstarken des assoziativen Prinzips geht der Zerfall des Instinktes einher. Ist der Instinkt ein Charakteristikum der Art, so beginne mit den assoziativen Vorgängen die relative „Herauslösung“22 des Individuums aus der Erstarrung des Instinktes. Gleiches gelte für „Triebe, Gefühle, Affekte“23. Löst sich z.B. der Sexualtrieb aus seiner natürlichen Umklammerung und folgt nicht mehr dem Rhythmus des Lebens, kann er sich zu einer selbstständigen „Quelle der Lust“24 und zu einem Zweck wandeln. Konterkariert wird die Befreiung des Seelischen mit dem, was Scheler, „organisch gebundene praktische Intelligenz“25 nennt, die „vierte Wesensform des psychischen Lebens.“26 Mit ihr erscheint die „organisch gebundene Wahlfähigkeit und Wahlhandlung“27. Organisch, da alle diese inneren und äußeren Verhaltensweisen im Dienste der Trieberfüllung oder der „Bedürfnisstillung“28 stehen. Intelligentes Verhalten definiert Scheler zunächst „ohne Hinblick auf psychische Vorgänge“ wie folgt:
Ein Lebewesen verhält sich «intelligent», wenn es ohne Probierversuche oder je neu hinzutretende Probierversuche ein sinngemäßes – sei es «kluges», sei es das Ziel zwar verfehlendes, aber doch merkbar anstrebendes, d.h. «törichtes» («töricht» kann nur sein, wer intelligent ist) – Verhalten neuen weder art- noch indivdualtypischen Situationen gegenüber vollzieht, und zwar plötzlich und vor allem unabhängig von der Anzahl der vorher gemachten Versuche, eine triebhafte Aufgabe zu lösen.29
Steht diese Intelligenz im Dienste geistiger Ziele „erhebt sie sich über Schlauheit und List“30. Auf der psychischen Seite bedeute dies die „plötzliche aufspringende Einsicht in einen zusammenhängenden Sach- und Wertverhalt innerhalb der Umwelt“31. Mit dem Hinweis auf die Köhlerschen Studien zu Schimpansen diskutiert Scheler, ob diese Art der Intelligenz zumindest einigen wenigen Tieren zugeschrieben werden kann und kommt zu dem Schluss, dass Köhler mit „vollem Recht […] seinen Versuchstieren einfachste Intelligenzhandlungen“32 zuspreche:
[…] auch nicht feste, typisch wiederkehrende Gestaltstrukturen der Umwelt lösen das intelligente Verhalten aus – vielmehr sind es vom Triebziel determinierte, gleichsam ausgewählte Sachbeziehung der wahrgenommenen einzelnen Umweltteile zueinander, welche das Aufspringen der neuen Vorstellung zu Folge haben: Beziehungen wie gleich, ähnlich, analog zu x, Mittelfunktion zur Erreichung von etwas, Ursache von etwas.33
Der vom Ziel gepackte Trieb verlängere sich sozusagen in die Umwelt des Tieres hinein und verwandele darin befindliche Dinge in Quasi-Gegenstände zu seiner Erreichung: „Die Triebdynamik des Tieres selbst ist es, die sich hier zu versachlichen und in die Umgebungsbestandteile hinein zu erweitern beginnt.“34 Wir beginnen hier – nach Scheler – „das Kausal- oder Wirkphänomen“ in seinen Ursprüngen zu „belauschen“35. Allerdings handele es sich hier nicht um irgendeine reflexive Tätigkeit, sondern um „eine Art anschaulicher Umstellung der Umweltgegebenheiten selbst. […] Aber es ist doch echte Intelligenz, Erfindung, und nicht nur Instinkt und Gewohnheit.“36
Der Mensch ist weltoffen
Bis zu dieser Stelle der Beschreibung des Lebendigen reichen die von Scheler so genannten seelischen oder psychischen Stufen: „Gefühlsdrang, Instinkt, assoziatives Gedächtnis, Intelligenz und Wahl“1 und es stellt sich ihm nun die Frage, ob zwischen Mensch und Tier nur ein gradueller oder ein wesentlicher Unterschied bestehe. Eine Gruppe sehe sich gezwungen einen „überquantitativen Unterschied“2 zu machen und den Tieren Intelligenz grundsätzlich abzusprechen, die andere verlängere das oben Beschriebene, was zur Theorie des «homo faber»3 führe. Beiden Seiten versagt Scheler seine Zustimmung und meint:
Das Wesen des Menschen und das, was man seine «Sonderstellung» nennen kann, steht hoch über dem, was man Intelligenz und Wahlfähigkeit nennt, […] Das neue Prinzip steht außerhalb alles dessen, was wir «Leben» im weitesten Sinne nennen können. Das, was den Menschen allein zum «Menschen» macht, ist nicht eine neue Stufe des Lebens – erst recht nicht nur eine Stufe der einen Manifestationsform dieses Lebens, der «Psyche» –, sondern es ist ein allem und jedem Leben überhaupt, auch dem Leben im Menschen entgegengesetztes Prinzip: eine echte neue Wesenstatsache, die als solche überhaupt nicht auf die «natürliche Lebensevolution» zurückgeführt werden kann, sondern, wenn auf etwas, nur auf den obersten einen Grund der Dinge selbst zurückfällt: auf denselben Grund, dessen eine große Manifestation das «Leben» ist.4
Die Griechen nannten diese eine echte neue Wesenstatsache, welche allein auf den obersten einen Grund der Dinge selbst zurückfällt, «Vernunft»5 und statteten sie im nous poietikos6 mit eigener Handlungsenergie aus. Scheler erweitert diese Vorstellung des «Ideendenkens»7 um „eine bestimmte Art der «Anschauung», die von Urphänomenen oder Wesensgehalten, ferner eine bestimmte Klasse volitiver und emotionaler Akte wie Güte, Liebe, Reue, Ehrfurcht, geistige Verwunderung, Seligkeit und Verzweiflung, die freie Entscheidung mit umfasst“8, und nennt sie «Geist»9. Dessen Sitz sei die «Person»10, welche nicht zu den psychischen Lebenszentren gehöre. Er charakterisiert Geist vor allem durch dessen „existentielle Entbundenheit vom Organischen, seine Freiheit, Ablösbarkeit […] von dem Bann, von dem Druck, von der Abhängigkeit vom Organischen, vom «Leben» und allem, was zum Leben gehört – also auch von seiner eigenen triebhaften «Intelligenz».“11
In der Folge besitzt also ein geistiges Wesen wie der Mensch eine singuläre, diesen von allen anderen Lebewesen unterscheidende Freiheit. Er sei „umweltfrei und, wie wir es nennen wollen, «weltoffen»: Ein solches Wesen hat «Welt».“12
Das mit Geist begabte Lebewesen Mensch gehe nicht wie das Tier ekstatisch in seiner Umwelt auf, sondern könne das „Sosein dieser Gegenstände prinzipiell selbst“13 erfassen, weitestgehend ungestört von den Triebsystemen. Deshalb bedeutete die Begabung mit Geist vor allem das Erfassen der Welt als eine sachliche: „Geist ist daher Sachlichkeit, Bestimmbarkeit durch das Sosein von Sachen selbst. Geist «hat» daher nur ein zu vollendeter Sachlichkeit fähiges Lebewesen“14. Vollendete Sachlichkeit heißt hier, im Besitze vollständiger Gegenstandskategorien zu sein, welche es dem Menschen erlauben, einen Gegenstand auch unter veränderten Bedingungen, selbst als veränderten Gegenstand noch identifizieren zu können. Die Welt löst sich dem Menschen nicht in triebbestimmte Beziehungen auf, sondern ihre Gegenstände bleiben isoliert und bestimmbar. Der geistbegabte Mensch kann sozusagen durch sich hindurch, unter Hintanstellung seiner selbst auf die Welt hin blicken. Was er sieht, weise zugleich über sich hinaus in eine Offenheit, welche den Bann der tierischen Umwelt hinter sich gelassen habe. Im Blick des Menschen eröffne sich nun zugleich das, was hier und jetzt nicht zu sehen ist, das Nichtanwesende, die Negation des positiven Teiles der erfahrbaren Welt:
Der Mensch ist das X, das sich in unbegrenztem Maße «weltoffen» verhalten kann. Menschwerdung ist Erhebung zur Weltoffenheit kraft des Geistes.15
Der Geist ist das Organ, vermittels welchem der Mensch mit dem Weltengrund direkt und vor allen anderen Lebewesen verbunden sei. Es sei der Geist, der ihm echte Einsicht in den Aufbau der Welt gewährt, da der Geist durch das Handeln des Menschen, seines non non fiat, der Welt als Drang entsagt und so dem Geist die Energie verleihe, den Weltengrund zu erkunden. Im Menschen träfen sich Geist und Leben.
Der Mensch ist nach Scheler kein vom andrängenden Leben auf einer ihm sich als Widerstand offenbarenden Welt hin fortgetriebenes Wesen, sondern (anders als bei Alsberg in der Durchführung seiner intelligiblen Instrumentenmacherkunst sich weiterentwickelndes Tier) eines, welches die Einheit dieses und ein dem Leben entgegen gesetzten Prinzips, des asketischen Prinzips des Geistes, der mit Einsicht in den Wesensgrund der Welt jenen Drang so zu regieren wisse, dass er in actio der natura naturans des sich entwickelnden Göttlichen mittue16 und der Welt auch ihr innerstes Leben ablausche, darstelle. Das Schelersche Lebewesen Mensch ist ein anthropos metaphysikos, ein Wesen also, welches im Unterschied zu allem übrigen Leben als einziges qua seines Geisthabens Einsicht in die Wesenszusammenhänge besitzt. Kein werkzeugintelligentes Tier also, sondern mit Selbstbewusstsein ausgestattet erscheint der Mensch. Dieses Selbstbewusstsein ist das Resultat einer „zweiten Dimension und Stufe des Reflexaktes“17 und zugleich der Vollzug des ungegenständlich Geistigen, welcher allein im Akte der Sammlung erreicht werden kann.








