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Sammlung, Selbstbewusstsein und Gegenstandsfähigkeit des ursprünglichen Triebwiderstandes bilden eine einzige unzerreißbare Struktur, die als solche erst dem Menschen eigen ist.“18
Mit der Fähigkeit zur Gegenständlichkeit sowohl seinem Körper wie der Welt gegenüber, kann der Mensch die für seine Beziehung zum Weltengrund entscheidende Frage stellen: Warum ist Etwas und nicht viel mehr Nichts? In dieser Frage ließen sich alle Fragen nach den jeweilig einzelnen Wesen zusammenfassen. Es ist die Frage nach dem to ón dem höchsten allgemeinen Seinsbegriff sowie nach dessen umfassender allübergreifender Ordnung19. Nichts anderes bedeutet die Schelersche Wesensschau als die Einsicht in diese Ordnung via Reduktion der Vielfalt der Welt auf Exempla dieser und deren Ansicht als Ideen.
Der Künstler und der Metaphysiker
Zwingend muss Scheler die Existenz eines „übersingulären Geistes“1 annehmen, wenn er „eine in dieser Welt sich realisierende Ideenordnung unabhängig vom menschlichen Bewusstsein annehmen und dem Urseienden selbst als eines seiner Attribute zuschreiben“2 möchte. Da Akt und Idee bei ihm in einem Wesenszusammenhang stehen, resultiert aus dieser Mechanik der „Weltrealisierung“3 und dem entsprechenden menschlichen Mitvollzug der Zusammenfall von „Auffinden“ und „Entdecken“4, ein „wahres Mithervorbringen“5 aus dem „Zentrum und Ursprung der Dinge selbst heraus“6. Die Klammer, welche die Welt als drängenden Willen einerseits und ordnenden Geist andererseits zusammenhält, verbürge, dass auch der Mensch als Leben und Geist in sich fassendes Wesen sich auf den Urgrund dieser Dynamik zurückbeugen könne, Einsicht in dessen Entwicklung genieße und es ihm ermöglicht werde, tatkräftig daran mitzuwirken. Die Figur des Künstlers ist demnach eine der sozialen Typen – wie auch der Philosoph etc. –, welche neben Gott diese Einsicht in Werke umzusetzen wisse. Der Mensch als Künstler besitze weit über das übliche Erkenntnisniveau der Menschen allgemein hinaus quasi göttliche Einsicht in den Weltengrund und teile diese durch sein Werk der Menschheit mit.
An der Figur des Künstlers bestätigt Scheler in ausgezeichneter Weise seine Ausgangsthese, dass die Wesensbestimmung des Menschen als ein Sonderfall in der Welt des Lebendigen zu Recht bestehe. Denn als homo faber wisse der Künstler zweckgerichtetes Handeln umzusetzen, ein Werk zu erschaffen, und als anthropos aesthetikos metaphysikos besitze er echte Einsicht in die Wesenszusammenhänge. Das berühmte Kantische Diktum des Künstlers als Genie7, dessen ingenium der Kunst ihre Gesetze vorzuschreiben wisse, erfährt hier eine der möglichen Auslegungen, denn der Schelersche Künstler lässt die Gesetze der Welt aus einer Einsicht in die Wesenszusammenhänge heraus in sein nach ästhetischen Kriterien erschaffenes Werk einfließen, welches als idealische Einheit zwar selbst keine Welt schafft, sondern nur bildet, „was nicht da ist, was aber «würdig» wäre, «verdiente», da zu sein nach gewissen ästhetischen Wertideen.“8.
Beide, der Künstler und der Metaphysiker bedienen sich zur Erlangung ihrer Einsichten bzw. Ideen – was Scheler für den Künstler „conceptio“9 nennt – der Methode der „Daseinsreduktion […] d.h. durch bewusste Zurückhaltung alles «Begehrens», im Verhältnis zu welchem Welt nur als «real» gegeben ist.“10
Das Ziel des Metaphysikers sei die Erkenntnis des Ganzen, das des Künstlers das Werk, welches er als „ein kleiner Gott – schafft […] eine Welt – aber im Kleinen […] in der Zeichensprache der Qualitäten der verschiedenen Sinne und nach den Gesetzen dieser Zeichensprache für jede Kunst eine eigene.“11
Allerdings leiten den Künstler dabei seine „ästhetischen Wertideen“12. Der Künstler begibt sich also „an eine Werdestelle der Welt“13, wo er dem Grunde der Dinge ansichtig werden konnte, noch bevor „sie das «fiat», der rational undurchdringliche Wille noch nicht so oder anders ins Dasein setzte, da sie nur ihrem Wesen und ihren Ideen nach vor seinem Geiste gleichsam ausgebreitet lag.“14
Seine Kunst besteht darin, das Erschaute in der geistigen Objektivierung des Geschauten zur Darstellung zu bringen, sei es als Maler, als Bildhauer oder Dichter etc. Den Prozess der Objektivierung beschreibt Scheler als:
[…] er steigt vom Keime eines gegebenen Urphänomens herab und exemplifiziert das Urphänomen an dieser konkreten Gestalt, die er als ideales Bild frei erschafft.15
Allerdings erlange der Künstler selbst erst die wirklich volle Einsicht in das ihm in seiner conceptio ursprünglich nur „keimhaft“16 Gegebene allein im Prozess und „kraft des Darstellungsprozesses selbst“17, durch die Arbeit nämlich an der Materie, dem Malen, Bilden oder der „Wortfindung“18. Im Prozess der „darstellenden Exemplifizierung“19 gewinnt der Künstler die Gestalten, welche am Ende das Werk ausmachen werden. Nicht also lässt der Künstler im Werk schlicht Wesenheiten anschaulich werden, sondern „nur die ästhetisch-werthaltigen“20, die ausgewählt werden durch die Führung der „ästhetischen-geistigen Augen unseres Herzens“21. Die Beteiligung unseres Herzens an der Auswahl des ästhetisch Wertvollen deutet schon darauf hin, dass es sich hier nicht um eine Aufgabe des reinen Geistes oder der Vernunft handelt. Weit davon entfernt, denn schon in der elementaren Anlage des Menschen – der Physiologie seiner Nervenwege – für die natürliche Wahrnehmung spielt die Selektion eine Rolle:
Unser inneres Gesetz ästhetisch-triebhafter Aufmerksamkeit «wählt» gleichsam (ohne und vor bewusster Wahl) aus den Empfindungsmöglichkeiten diejenigen zur Realisierung der aktuellen Empfindung aus, die Teilelemente «guter» d.h. prägnanter Gestalten sind.22
Soweit die physiologische Grundlage der ästhetischen Intervention in das Leben der Lebewesen allgemein. Diese bildet jedoch nur den Hintergrund jedes künstlerischen Umganges mit den Materialien, auch den imaginären, welche die Physis dem Menschen bereitstellt. Der Künstler nimmt – im Sinne Schelers Menschbild – gegenüber diesen eine asketische Haltung als Neinsager zur Triebhaftigkeit ein, um erst aus dieser Distanz heraus, sich ihnen wieder zuzuwenden. Dennoch behauptet Scheler in der Kosmosschrift:
Was im Menschen im eigentlichen Sinne schöpferisch mächtig ist, ist nicht das, was wir «Geist» (und die höheren Bewußtseinsformen) nennen, sondern die dunklen unterbewussten Triebmächte der Seele, und dass die menschliche Schicksalsbildung des Einzelwesens und der Gruppe vor allem von der Kontinuität dieser Vorgänge und ihrer symbolischen Bildkorrelate abhängt – wie auch der dunkle Mythos nicht sowohl ein Produkt der Geschichte ist, als vielmehr er den Gang der Geschichte weitgehend bestimmt.23
Scheler lässt hier die an der Kreativität beteiligten Kräfte im Menschen zwischen der Triebaskese des Geistes und dem ekstatischen Wesen des Drangs hin und her gehen und markiert so den Moment, an dem beide Extreme biologisch wie metaphysisch im Menschen vereinigt als „aufeinander hingeordnet“24 betrachtet werden können. Er steht damit in der Nachfolge Nietzsches aus der Geburt der Tragödie, mit dem Unterschied, dass die Kräfte des Apollo und des Dionysios sich nicht im Konflikt begegnen, sondern sich in der teleoklinen Entwicklung der Welt ergänzen. Beide sind es auch, welche dem Menschen strukturellen wie tätigen Anteil an dieser Entwicklung gewähren. Allerdings wird dem Geist abgesprochen Macht zu besitzen. Diese kommt allein den unterbewussten Triebmächten der Seele zu, doch kann der Geist ordnend und lenkend auf diese einwirken, wie wir aus der Dialektik erkennen können, welche Scheler dem Mythos sowohl als Produkt wie als Agens der Geschichte einräumt.
In der dialektischen Bewegung beider Prinzipien, dem des Geistes und des Dranges, wird der Kunst als darstellender Erkenntnis und Vermittlung von Scheler auch Geschichtsmächtigkeit zugesprochen. Die Leistung des Geistes nach Scheler besteht darin, dass dieser der „ursprünglichen produktiven Einbildungskraft […] durch das Triebleben der Vitalseele“25 angetrieben in kritischer Korrektur und Auslese immer mehr an Reife abgewinnt und dem Menschen so die Möglichkeit eröffnet, der Welt ganz allgemein als Erkennender zu begegnen, ihm andererseits aber auch – indem die noetischen Akte des Geistes in den Dienst der Kunst gestellt werden –, das poietische Schaffen im Dienste künstlerischer Erkenntnis ermöglicht. Der seelische Schauplatz dieser Vorgänge ist das Reich der Phantasie.
Die Phantasie
Phantasie definiert Scheler als eine ursprünglich produktive Einbildungskraft1 und „höchste vorstellende Funktion, zu der es die Vitalseele bringt“2, von Trieben angestoßen, vom Geist geleitet. Sie ist ihm als pure Phantasie „eine ideen-wert-wahrheit-falschheit-wissens-täuschungs-blinde Fähigkeit der Vitalseele“3. Schon die natürliche Wahrnehmung besteht für Scheler aus der Dreiheit „Empfindung + Gedächtnis + Phantasie“4. Durch kritische Intervention des Geistes werde die lebendige Phantasie gezügelt und der Mensch lerne nach und nach unter der von ihr bereit gestellten Bilderflut (auch Gefühlsphantasie, Strebensphantasie5) diejenigen auszuwählen, welche ihn zur Beobachtung, die erst das Resultat eines langen Reifungsprozesses sei, führten. Wir treffen hier wieder auf die These der Dissoziation als des eigentlich für die Menschwerdung entscheidenden evolutionären Vorganges. Das evolutionäre Sonderprodukt Mensch weiß grundsätzlich – im Unterschied zum sich immer ekstatisch verhaltenden Tier –, zwischen Schein und Sein zu unterscheiden. Die „seltsame Fähigkeit“6 des Menschen Gegenstände zu erschaffen, die
«ficta» heißen und die, obzwar sie kein anderes Sein haben können als jenes daseinsfreie So-sein, das auch – obzwar nicht nur – bewusstseinsimmanent ist und Bewusstseinsimmanentem immer zukommt, sich doch vom Augenblicksbewusstsein, in dem sie zuerst auftauchten, ja sogar von individuellen Bewusstsein loslösen können, dann durch eine Mehrheit von Akten identifizierbar sind, ja sogar von vielen Individuen identisch gehabt werden können. Die Zahl 3, das Dornröschen, der Gott Apollo als kollektives fictum des griechischen Volkes z.B. sind ficta.“7
Die Phantasie schließe den offenen Raum, der „zwischen «Wesenserkenntnis» und «zufälliger Erfahrung» (Sinneserfahrung) gähnt.“8 Sie sei indifferent gegenüber Wahr und Falsch. Aber nach Scheler kann man mit Hilfe der Vorstellung durchaus „etwas bemerken“9, was in der akuten Wahrnehmung verborgen bliebe. Die Phantasie sei also unter kritischer Anleitung des Geistes der Erkenntnis förderlich. Doch in ihrer Unabhängigkeit gegenüber Wahrheit und Täuschung sei sie das Reich der Freiheit für die Kunst; sie sei das Agens für die Schau der Ideen, worin wie oben erwähnt die Zahl 3 oder das Dornröschen für alle identisch geistig geschaut werden könne. So hält sie für die Kunst die Möglichkeit parat, ihr Material so zu bilden, dass es sowohl als Identisches wie als Vielfältiges betrachtet werden kann. Das künstlerische Werk könne vermittelst ihrer zwischen Einheit und Vielfalt oszillieren, solange es der Künstler vermag, eine wesentlich erkennbare Identität zu stiften. Diese grundsätzliche Ambivalenz des künstlerischen Werkes findet ihre Entsprechung in der Rückbindung bzw. Exemplifizierung der künstlerischen Einsicht in das künstlerische Material, welches per se Vielfalt ist, denn es stammt aus dem bildschaffenden metaphysischen Prinzip des Dranges, der im Grunde nur Chaos10 und keine Ordnung sowie der damit verbunden Möglichkeit der Identität eines Gegenstandes kennt.
Denkt man sich den Schelerschen übersingulären Geist an der Realisierung der Welt durch den Drang und mit Hilfe des Menschen am Werke der Geschichte, so fragt man sich bei der Vielfalt und Kontingenz der Erfahrungswelt nach den unterschiedlichen Aufgaben, welche die Menschheit als unterschiedenes Ganzes dabei übernehmen kann. Dem schafft Scheler durch eine Analyse nach Kriterien sozialer Konvenienz Abhilfe. Er unterscheidet neben der Masse der Menschen, welche immer anonym dazu verdammt sei zu folgen, nach der Kategorie des „Vorbildes“11 und der Nachahmung die Typen des „Heiligen, der geistigen Werte, des Edlen, des Nützlichen und des Angenehmen“12 und bestimmt sie als Träger apriorischer13 Wertideen. Diese Typen des Menschlichen stehen jedem einzelnen als Vorbilder zur Verfügung und jeder Typ für sich genommen stelle einen möglichen Weg für den Menschen dar, damit er durch die Nachfolge die Enge seines individuellen Bewusstseins überkomme. Die Vorbilder seien ideale Wertgestalten, in die sich die Einzelnen in der Nachfolge hineinbildeten und sich somit entwickelten. Die unterste Stufe der Übergabe der Vorbilder wäre nach Scheler ein „dunkler physischer Vorgang der Vererbung“14, doch die Geschlechtsliebe – nicht der Geschlechtstrieb – besitzt nach ihm eine teleologische Tendenz und führt den Liebenden zum passenden Partner, um die entsprechend passenden Erbwerte in der Nachkommenschaft zu entwickeln. Die Tradition stehe „zwischen Vererbung und verstehender Aufnahme (Belehrung, Erziehung) in der Mitte“15. Im Tradierten vermeine man, das Eigene zu tun und zu erkennen. Es sei die unwillkürliche nicht bewusste Nachahmung, welche die Tradition als Form bestimme. Der dritte Modus der „Vorbildwirksamkeit heißt geistiges Verstehen und darauf fußender «Glaube an» Personen.“16 Erst hier komme ein bewusstes Verwerfen oder Anerkennen der Werte und Akte des Vorbilds ins Spiel und erst auf dieser Stufe könne man von „freier Nachfolge“17 sprechen, als welche das große Vorbild die Nachfolge Christi18 benannt wird.
Der Künstler schaffe in seinen Werken die Vorbilder für die Nachahmung, wie den Helden im Mythos, und er schaffe damit zugleich auch die Schemata, welche als handlungsleitende Vorbilder eines Volkes oder einer Kulturgemeinschaft rückwirkend auf dessen Geschichte Einfluss nähmen. Dennoch bleibe die freie Nachfolge der künstlerisch angebotenen Vorbilder durch den Werkcharakter der Schöpfungen, welche als solche Symbole der Eigenwelt des Künstlers sind, bestimmend. Kein kollektiver Zwang vermöge es, eine ästhetische Wahl wahrhaftig zu beeinflussen. Die Freiheit der Nachfolge werde durch das Wesen des Werkes garantiert.
Ist Eros das „Leben des Lebens“19, so ist der genialische Eros der Geist des Geistigen. Er ist der „positive Akt einer geistigen Liebe zur Welt“20 und das „positive Bewegungsprinzip des Geistes“21, welches dem Fundament der genialischen Anschauung der Welt zugrunde liege. In kritischer Zurückweisung der Schopenhauerschen und Kantischen Interesselosigkeit als Grundlage für die kognitive wie ästhetische Betrachtung, welche nach Scheler schließlich das „Verschwinden aller Inhalte“22 zur Folge hätte, gilt für ihn die “Grundgesinnung“23 der genialischen Seele als eine der Welt schlechthin zugewandte. Der Metaphysiker und Phänomenologe Max Scheler ist in seinem Inneren ein Erotiker des Lebens und hinsichtlich der Kunst gilt für ihn, dass ihr Ursprung in der Feier des Lebens zu suchen sei24 und nicht wie von einer Gesellschaft mit „Magenproblemen“25 behauptet in der Arbeit. Für Scheler ist es die Überfülle des Lebens, das Fest:
Die künstlerische Tätigkeit, die in der Ausdruckstätigkeit wurzelt – schließlich die objektive Ausdruckstätigkeit ist, die in der drängenden Kraft der Selbstrealisierung des Konzeptionsgehaltes liegt –, ist sicherlich zuallerst Ausdruck des erotischen Gefühls. Der «Luxus» der Ausdruckstätigkeit spielt hier zuerst die entscheidende Rolle. Liebeslied, Liebesgesang als Erinnerung und Dauerhaftmachung oder als Erwartung des Festes der Vereinigung mit der Geliebten ist die erste Form der Kunstübung.26
Kunst und Realität
Die Bestrebungen des Typus Mensch als Genius richteten sich überdurchschnittlich „in geistiger Liebesleidenschaft auf das Wesenhafte und Ideenmäßige der Welt“1. Sie richteten sich auf „den Logos der Welt“2, den Scheler als „die ewigen Gedanken Gottes in der Schöpfung“3 beschreibt. In den Händen des Künstlers werde dieser Logos zur „geistgewordenen Form“4. So wird der Künstler ein Vorbild in der Erkundung und Feier des Reichtums der Welt. Er ist nicht deren Maître de cérémonie, sondern ihr erfindungsreicher Ausrichter. Damit lehrt er seine Festteilnehmer das sinnliche und geistige Erfassen der Welt im Symbol seiner – des Künstlers – Schöpfung, seines Werkes und bereichert so auch ihr seelisches Leben im „Nachvollzug seiner Darstellungsprozesse, seiner (des Weisen) Haltung, Lebens- und Seelentechnik.“5 Mit der Schaffung neuer Werke vermehre der Künstler das geistige Kulturgut des Menschen, welches „den objektiven Wert der Welt dauernd vermehrt“6. Der natürliche Mensch, schreibt Scheler7, ist von den Täuschungen, welche ihn beherrschen und bedrängen, befangen, der Künstler in Gestalt des Dichters jedoch durchbreche diese Schicht, indem er den Drang, der sich in den verkrusteten Formen der Sprache manifestiere, hemmt und zum inneren Sinn8 der Sprache vorstoße.
Die wahre Dichtung lehrt uns – weit hinaus über den Gehalt der Dichtung –, überhaupt formvoll zu erleben, das Unmittelbarste unserer seelischen Betätigung zu ergreifen – die Seele als werdende, als erlebende.9
Das Anhalten des vorbeiziehenden Lebens in künstlerischen Formen und Gestalten und damit dessen Betrachtungsmöglichkeit sei in der seelischen Vertiefung, welche ein derartiges Erleben mit sich bringe, selbst die höchste Vollendung des Lebens im Augenblick „der Konzeption“10. Im Kunstwerk werde die „Konzeption – als Beispiel für andere“11 dargeboten. Und in diesem Augenblick treffe sich der Gipfel des Lebens mit dem Beginn der Kunst:
Zuerst war die Seele stumm, blind, – mehr die Möglichkeit der Seele als Seele. Die erste künstlerische Tätigkeit – der Liebe entlang gehend – brachte sie zur Realisierung, zum abgegrenzten Erlebnis – wie Bedeutung die Einheit der Wahrnehmung, der Vorstellung ausmacht.12
Der Künstler sei nur die Spitze einer Funktion, welche im Inneren des Menschen die Tätigkeit eines jeden einzelnen ist und dieses „seelische Geschehen ist – realiter – nur die andere Seite unserer vitalen Tätigkeit.“13
Voraussetzung dieser Konstruktion ist die Annahme, dass die Substanz der Welt, das hypokeimenon, eine dynamische ist, welche sich in Form von Geschichte entwickelt.
Resümee
Noch hängt die Beschreibung des Menschen bei Scheler an einer metaphysischen Konstruktion. Doch der Weg, die Erscheinung des Menschen aus der Immanenz der Welt denkbar werden zu lassen, ist in seinem kurzen Entwurf Die Stellung des Menschen im Kosmos unverkennbar vorgezeichnet.
Jenes Sein, welches wir Geist nennen, vollzieht nach Scheler einen asketischen Akt der Entwirklichung oder anders ausgedrückt, einen Akt der Einverweltlichung. Er lockert und bereichert die Welt in ihrer Substanz als eine dynamische. Im Menschen – im Künstler nach seiner Art – verklammern sich Geist und Leben und arbeiten im Verein an der Welt.
Das Haben von Vorstellungen bei Scheler, vom Gefühlsdrang gespeist und Resultante einer vorgängigen triebhaften Aufmerksamkeit wie zudem eines höchst innerlichen Zusammenhangs zwischen Tun und Leiden, wobei Tun das Erstere ist, bezeugt ein für den Menschen mittelbares, durch sich selbst geführtes Weltverhältnis.
In der Eigenbewegung des tierischen Lebens verliert dieses das strenge Verhaftetsein der Pflanze an ihrem Ort – in ihrem Sein. Diese erweiterte Bewegungsform – nicht mehr nur Selbstausdehnung – und Lockerung des Seins verlangt nach einer Veränderung der inneren Struktur. Der Organismus antwortet darauf mit dem Auftreten des Instinktes. Scheler bestimmt ihn als eine teleokline, mehrgliedrige Zeitgestalt, als „Rhythmus“1. Er dient zur Lebenssicherung. Also schon bei den Wurzeln des Lebendigen selbst, erscheint der Rhythmus als gegliederte, teleokline Zeitgestalt, als Figur der geordneten und zielgerichteten bewegten Bewegung und als Anker des Lebenswesens im Sein.
Die Lockerung des lebendigen Seins ist Bedingung und Möglichkeit von Kultur und das Haben von Realität zugleich.
Helmuth Plessner: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes1
Der Mensch oder die ontologische Leerstelle auf der philosophischen Bühne
Um das Denken Helmuth Plessners auch nur in seinen Grundzügen zu beschreiben, ist es unumgänglich, sich zurück zum Urheber der philosophischen Moderne zu begeben, zu René Descartes. Als dieser die Welt in res cogitans1 und res extensa unterteilte, musste das lebendige Wesen Mensch dadurch notwendig aus dem Blickfeld der Philosophie geraten. Denn zwischen Geist (esprit) und Materie zerfiel das Lebendige in entweder Psyche oder Ding, welche entweder den reinen Gesetzen des immateriellen Daseins, des Denkens, Wollens und Vorstellens, oder den Gesetzen von Stoß und Zug, den Gesetzen der Mechanik allein gehorchten. Zwischen beiden Substanzen entstand eine unüberbrückbare Kluft, eine ontologische Leerstelle, ein Chorismus, welcher keinen Übergang erlaubte. Die Lebewesen, wie auch der Mensch als Körperding, wurden zur unbelebten Materie gerechnet, welche allein mit dem Geist, dem Pneuma verkoppelt – dies gerann Descartes selber noch zur Substanz2 – bewegt werden konnte. Damit war das Lebewesen Mensch als Studienobjekt vom philosophischen Denken ausgeschlossen. Die Probe aufs Exempel liefert Kants Schrift zur Anthropologie, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht3, welche der allgemeinen Welterkenntnis diente, in seine philosophische Systematik jedoch keinen Eingang fand. Für Kant blieb die Anthropologie eine grundsätzlich empirische Wissenschaft und konnte deshalb kein Fundament für systematisches Philosophieren sein4. Auch das eine der möglichen Konsequenzen aus dem Descartschen Dualismus.
All dies führte zur Abwesenheit des Menschen auf der philosophischen Bühne. Plessner macht nun den Versuch dies zu ändern. Er findet im Menschen selbst den Schlüssel zur Verklammerung der von Descartes so streng getrennten Welten und vereint ihn wieder mit dieser. Eine Aufgabe, vor der die Philosophie seit dem Dualismus Descartes den Mut verloren zu haben schien5. Es geht Plessner also um den Menschen „als Objekt und Subjekt seines Lebens“6 und nicht um den Menschen als ein aus res cogitans und res extensa Zusammengesetztes, sondern um jene „psychophysische indifferente oder neutrale Lebenseinheit“7, um den Menschen „»an und für sich«“8. Plessner entwirft eine Anthropologie des Lebendigen als regionale Ontologie des lebendigen Daseins und begründet somit im Weiteren die Bedingungen der Möglichkeit für die Beschreibung des Menschen als Menschen. Er erhält damit zugleich den Ausgangspunkt für eine systematische Philosophie, welche ihrerseits wiederum in einen erweiterten, das allein Menschliche überschreitenden Zusammenhang in einer Ontologie des Lebendigen überhaupt mündet. Auf diese Art gelangt man zu einer Naturphilosophie des Lebendigen sowie dem In-der-Welt-Sein des Lebewesens Mensch. Konstruiert man jedoch den Menschen aus seiner Welt und seinem Milieu heraus, was nichts weniger bedeutet, als die materialen Voraussetzungen – Stoff und Verhalten als Lebewesen – zu den alleinigen Bedingungen seines Seins zu machen, so stellt sich ganz von selbst die Frage nach den Gegenständen des Geistigen, ihrer Gegenwart, Erscheinung und Schöpfung. Es stellt sich die Frage nach dem Geist im Allgemeinen, und im Besonderen nach dessen Verhältnis zur Materie. Antwort auf diese Frage sucht Plessner in seinem Buch Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes von 1923 und später in seiner Die Anthropologie der Sinne von 1970 zu geben. Schon der Titel des 1923 verfassten Buches als Ästhesiologie des Geistes gibt die Richtung der von ihm vorgeschlagenen Lösung des Geist-Körper-Chorismus an. Er erklärt:
Die Ästhesiologie des Geistes ist die Wissenschaft von den Arten der Versinnlichung der geistigen Gehalte und ihren Gründen. Sie zeigt, dass zu bestimmten Sinngebungen bestimmte sinnliche Materialien nötig und warum keine anderen möglich sind.9








