Aufruhr am Alexanderplatz

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Hurra-Rufe erklangen im Hörsaal, und nun wurde darüber diskutiert, ob es klug war, dass der König mit seinem Eingreifen sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte und ob sich Kaiser und Könige überhaupt mitten auf dem Schlachtfeld aufhalten sollten. Eine andere wichtige Frage war, ob man Seydlitz wegen Befehlsverweigerung vor das Kriegsgericht hätte stellen sollen oder er als der eigentliche Sieger von Zorndorf auf einen Denkmalssockel gehörte.
»Das ist ja das Thema von Kleists Prinz von Homburg!«, rief einer der Lieutenants.
Gontard nickte. »So ist es, nur mit dem Unterschied, dass Friedrich dem General Seydlitz noch auf dem Schlachtfeld dankte und nicht wie der Große Kurfürst das Kriegsgericht bemühte.«
Darüber wurde noch eine Weile diskutiert, dann war die Stunde zu Ende, und Gontard konnte sich wieder auf den Heimweg machen. So ließ sich das Leben genießen, sogar in dem großen Gefängnis namens Preußen. Gerade war er wieder auf die Straße Unter den Linden getreten, da lief er Julius Hitzig in die Arme.
Der stammte aus der Hofjudenfamilie Itzig, war aber 1799 zum Christentum konvertiert und hatte ein H vor seinen Namen setzen lassen. Hitzig betätigte sich als Jurist und Verleger. Er war 1815 Criminalrat in Berlin geworden, und 1827 hatte man ihn zum Director des Inquisitoriats sowie zum Mitglied im Criminal-Senat ernannt. Seit 1835 befand er sich allerdings im Ruhestand. Er hatte strafjuristische Fachzeitschriften begründet, war aber dem breiteren Publikum vor allem durch die Sammlung Der neue Pitaval bekannt geworden, die er zusammen mit Willibald Alexis herausgab und in der in regelmäßiger Folge Bände mit aufregenden Criminalfällen erschienen.
»Na, mein lieber von Gontard, von Ihnen war in letzter Zeit ja wenig zu hören. Haben Sie es aufgegeben, die Fälle unseres wackeren Criminal-Commissarius Werpel zu klären?«
»Mitnichten, aber seit dem Mamsellenmörder und dem Mord an Oberst-Lieutenant von Streyth hat es keine Fälle mehr gegeben, die mich hätten interessieren können. Und wenn Sie mich dazu animieren möchten, wieder einmal eine Tat aufzuklären, dann müssten Sie schon selbst den perfekten Mord begehen.«
Hitzig kam nicht umhin, Gontards besondere Leidenschaft von der moralischen Seite her zu betrachten.
»Sehnsüchtig auf den nächsten Mord zu warten erscheint mir doch ein wenig zweifelhaft.«
Gontard lachte. »Das Publikum will es so. Es liebt das Erschaudern, und jeder ist glücklich, dass es ihn nicht getroffen hat. Außerdem eint das Verbrechen die aufrechten Gemüter im Abscheu vor Tat und Täter und macht dem Volke, wenn der Täter erst einmal am Galgen hängt, klar, dass sich das Morden nicht lohnt.«
»Ach Gontard, jetzt weiß ich endlich, dass ich nicht vergebens gelebt haben werde!«, rief Hitzig, um sich dann zu verabschieden und seinen Weg in den Thiergarten fortzusetzen. »Also, hoffen wir auf den nächsten schönen Fall!«
Gontard liebte sein Zuhause, seine Frau und seine Kinder, doch den ganzen Tag dort zu verbringen langweilte ihn. So hatte er sich auch für den heutigen Abend mit Friedrich Kußmaul verabredet, um durch Berlin zu streifen und zu hören, was im Volke so geredet wurde. Sie hatten vereinbart, dass Gontard in die Ordination kommen sollte, da nie ganz genau vorherzusagen war, wann der letzte Patient gegangen war. Also machte sich Gontard auf zum sogenannten Löben’schen Haus, das an der Ecke Leipziger und Jerusalemer Straße gelegen war. Früher war hier das Hauptritterschaftskreditkollegium untergebracht gewesen, jetzt gab es in dem vierstöckigen Eckhaus Privatwohnungen, und Kußmaul hatte sich auf der ersten Etage seine Praxis eingerichtet.
Bei der letzten Volkszählung vom 3. Dezember 1846 hatten 408 502 Menschen ihren Wohnsitz in Berlin gehabt, und inzwischen mochten es noch ein paar mehr geworden sein, so dass Gontard eigentlich damit rechnen konnte, Unter den Linden, in der Friedrich oder der Mohrenstraße einen Verwandten oder einen lieben Freund zu treffen, doch der Zufall war heute gegen ihn. Dafür lief er auf dem Hausvogteiplatz Waldemar Werpel in die Arme.
Der Criminal-Commissarius gab sich übertrieben freundlich. »Nun, verehrter Herr Oberst-Lieutenant, wie ist das werte Wohlbefinden?«
»Danke für die Nachfrage, lieber Werpel. Ich möchte sagen, schlecht, denn schon allzu lange haben wir beide zusammen keine Bluttat mehr aufklären können.«
Werpel kniff die Augen zusammen. »Ich dachte, der Innenminister habe Ihnen das ausdrücklich untersagen lassen …«
Gontard lachte. »Nein, das hat Herr von Bodelschwingh nicht getan.« Am liebsten hätte Gontard hinzugefügt: Schließlich schätzt er mich als einen Liberalen und ist mit seinem König alles andere als d’accord. Aber das brauchte er Werpel nicht auf die Nase zu binden. »Ich hätte zu gern einmal gewusst, wer sich an den Minister gewandt hat. Haben Sie da einen Verdacht?«
Werpel drehte sich um. »Meine dienstlichen Pflichten gestatten mir leider keine längere Plauderei. Adieu, Herr Oberst-Lieutenant!«
Gontard sah dem Criminal-Commissarius schmunzelnd hinterher. Irgendwie tat er ihm leid. Zu oft hatte er ihm den Sieg beim Kampf gegen das Verbrechen weggeschnappt. Andererseits wäre Werpel sicherlich schon längst in die tiefste ostpreußische Provinz versetzt worden, wenn er nicht auch von Gontards Erfolgen profitiert hätte.
Nachdenklich, aber doch bestens gelaunt stieg er dann zu Kußmauls Praxis hinauf. Er freute sich schon darauf, im Wartezimmer in den ausgelegten Journalen zu blättern. Doch als er eingetreten war, erstarrte er. Denn wer dort saß und in der Vossischen Zeitung las, war keine andere als … Flora Morave. Bevor er Henriette kennengelernt hatte, hatte er viele Amouren mit Tänzerinnen und Schauspielerinnen gehabt, und Flora hatte zu seinen Favoritinnen gehört. Und er wäre jetzt auch nicht derart in Panik geraten, wenn zu dieser Zeit nicht gerade eine gewisse Lola Montez, auch eine Tänzerin, das gesamte bayerische Königreich durcheinandergewirbelt hätte. Die Dame hatte eine Affäre mit Ludwig I. und von diesem Verhältnis finanziell bereits erheblich profitiert. Er hoffte inständig, dass Flora ihn nach rund fünfzehn Jahren nicht wiedererkennen würde – oder nicht wiedererkennen wollte. Doch seine Hoffnung war vergebens.
In ihrem Gesicht arbeitete es einen Augenblick, dann lächelte sie, leicht maliziös, wie ihm schien, stand auf und streckte ihm ihre Hand entgegen. »Oh, que c’est beau de vous voir encore une fois, mon ami une fois tant aimé .”
Gott sei Dank hatte sie das auf Französisch gesagt, und die anderen im Wartezimmer Sitzenden verstanden es offenbar nicht. Nur der Junge, der neben ihr saß, grinste anzüglich.
»Auch für mich ist es ein Vergnügen, Ihnen, Mademoiselle Flora, in diesem Leben noch einmal zu begegnen.« Gontard küsste ihr die Hand.
Sie wies auf den grinsenden Jungen. »Darf ich vorstellen? Mein Sohn Jean-Paul.«
Gontard erschrak, denn er hatte schnell zurückgerechnet. O nein, diese Ähnlichkeit! Aber wenn Jean-Paul wirklich sein Sohn war, warum hatte sich Flora nie gemeldet? Und jetzt? War sie etwa aus Paris zurückgekommen, um ihn, wie die Berliner sagten, auszunehmen wie eine Weihnachtsgans? O Gott, der Skandal, wenn Henriette davon erfuhr! Und all die preußischen Beamten, die ihn wegen seiner liberalen Tendenzen schon lange im Visier hatten! Plötzlich hatte er eine Schreckensvision vor Augen: Flora wurde in Berlin ermordet – und für Werpel wie auch den Polizeipräsidenten von Minutoli gab es da nur einen möglichen Täter, nämlich ihn. Ihm wurde siedend heiß. Was tun? Fliehen oder standhalten?
Wer ihn rettete, war sein Freund, denn gerade in diesem kritischen Augenblick öffnete Kußmaul die Tür zum Sprechzimmer und erfreute die Wartenden mit der Aufforderung: »Der Nächste bitte!«
Da sprang Gontard vor, drängte einen Rentier zur Seite, presste die rechte Hand auf den Unterbauch und stöhnte: »Herr Doktor, mein Blinddarm! Ich sterbe!«
Dr. Kußmaul ahnte natürlich nichts von den Zusammenhängen, begriff aber sofort, dass Gontard in Not war, und ließ ihn an sich vorbei ins Behandlungszimmer schlüpfen, wo er dann auch über alles aufgeklärt wurde.
»Was nun, Fritz?«, fragte Gontard, nachdem er seinem Freund die Geschichte erzählt hatte.
Der Arzt musste nicht lange überlegen. »Ich lasse dich jetzt durch die Hintertür entkommen, und du gehst rauf zu meiner Frau und lässt dir einen Baldriantee aufbrühen.«
Der tat dann auch bald seine Wirkung, aber noch mehr half Gontard der Trost, den ihm Luise Kußmaul zuteilwerden ließ. »Deine Henriette hat ein großes Herz, und sie wird es hinnehmen, dass du noch ein drittes Kind gezeugt haben könntest – es war ja alles vor ihrer Zeit.«
»Aber was ist, wenn Flora Geld von mir haben will, viel Geld, und damit droht, sonst einen Riesenskandal zu entfesseln?«
»Dann hast du uns an deiner Seite, und du kennst selbst eine Menge einflussreicher Leute. Was soll da schon passieren?«
Gontard war verzweifelt. »Falls sie umgebracht wird, werde ich als ihr Mörder verdächtigt werden.«
Luise Kußmaul sah ihn verständnislos an. »Warum sollte sie denn umgebracht werden?«
»Ich habe so ein merkwürdiges Gefühl …«
Und von diesem Gefühl kam er auch am Abend nicht los, als er mit Kußmaul durch Berlin streifte, um herauszufinden, ob es irgendwo Anzeichen für ein bevorstehendes politisches Erdbeben gab. In Mailand, Palermo, Neapel und Padua hatte es schon Unruhen gegeben. Breitete sich die Revolte von dort nach Norden aus? Wurde München, wo Lola Montez weiter für Aufregung sorgte, als erste deutsche Stadt erfasst? Dies alles fragten sich die Berliner, insbesondere die Intellektuellen, die im Roten Salon des Lesecafés Stehely oder im Lese-Cabinet der Berliner Zeitungs-Halle am Gensdarmen-Markt beisammensaßen und diskutierten. Zeitungen mussten in Preußen von der Zensur genehmigt werden, aber viele ausländische Blätter wurden im Reisegepäck nach Berlin geschmuggelt. Besonders begehrt waren die aus der Schweiz, wo das liberale Bürgertum gerade einen grandiosen Sieg errungen hatte. Wer eine der raren Zeitungen aus Zürich oder Bern ergattert hatte, stellte sich oft auf einen Stuhl und las den anderen laut daraus vor. Diesmal erlebten Gontard und Kußmaul den Tierarzt Friedrich Ludwig Urban in dieser Rolle. Es hieß, Urban sei prädestiniert dafür, das Volk anzuführen, wenn es in Berlin zu einer Revolution kommen sollte.
»Gott«, murmelte Gontard, »einen preußischen Danton oder Robbespierre hätte ich mir anders vorgestellt. Dieser Urban ist doch nur eitel und geltungssüchtig und viel zu romantisch und gefühlsselig, als dass er die Massen mitreißen könnte.«
»Da wäre ich mir nicht so sicher«, widersprach Kußmaul ihm.
Wesentlich besser gefiel Gontard später der Kellerhalsredner Heinrich Carrenzien, den sie in der Weinmeisterstraße erlebten. Kellerhalsredner hießen Leute wie er bei den Berlinern, weil sie auf den niedrigen, überdachten Treppen standen, die in die Kellerlokale führten, und von dort aus zu den anwesenden Gästen sprachen.
»Ihr Männer alle«, rief er mit Stentorstimme, »erhebt euch, um für das zu kämpfen, was für euch am wichtigsten ist: das Recht auf Arbeit! Fordert die Einrichtung von Nationalwerkstätten, wo man euch mit gemeinnützigen Arbeiten beschäftigt und gut entlohnt. Das sichert euer Überleben und den allgemeinen Wohlstand.«
»Dann soll der Carrenzien mal den Karren ziehn«, reimte Kußmaul. »Und zwar aus dem Dreck.«
Sie hätten ihm gern noch länger zugehört, doch hinter ihnen gab es einen kleinen Auflauf. Zwei Männer waren in eine heftige Schlägerei geraten. Offenbar ging es um ein auffallend schönes Mädchen. Wie Gontard und Kußmaul den Zurufen der Umstehenden entnehmen konnten, handelte es sich bei den Herren um den Arbeitsmann Ferdinand Dünnebier und den Tischlergesellen Gottlieb Letschinski und bei der Dame um eine gewisse Auguste Gärtner, offenbar eine Dienstmagd. Jeder drohte dem anderen, ihn auf der Stelle umzubringen.
»Dir is wohl schon lange keen blutijet Ooge übers Chemisett jekullert!«
»Dir hau ick uff ’n Kopp, dette in keen Sarg mehr passt!«
»Een Schlag, und deine Neese sitzt hinten!«
»Ick schmeiß dir an de Wand, dette kleben bleibst und der Criminal-Commissarius dir abkratzen muss!«
Kußmaul wandte sich an Gontard. »Da scheint es endlich mal einen Fall für dich zu geben.«
Gontard wehrte ab. »Nicht doch, du beleidigst mich. Wer da der Täter ist, findet sogar Werpel auf Anhieb heraus, das ist weit unter meinem Niveau.«
Drei
Franz Theodor Kugler saß mit Adolph Menzel am 14. Februar, einem Montag, im Hotel Ruppiner Hof in der Spandauer Straße No. 79. Die beiden verband nicht nur eine innige Freundschaft, sondern auch eine gemeinsame berufliche Erfahrung: Menzel hatte für Kuglers Geschichte Friedrichs des Großen rund vierhundert Zeichnungen angefertigt und damit zu dem großen Erfolg des Werkes beigetragen. Menzel war es dadurch außerdem gelungen, sich als Künstler einen Namen zu machen und Kontakte zum Hof zu knüpfen. Kugler hatte schon vorher einen gewissen Bekanntheitsgrad erreicht, nicht zuletzt durch sein 1830 erschienenes Skizzenbuch mit dem Volkslied An der Saale hellem Strande. Er war Mitglied der Sing-Akademie zu Berlin und der literarischen Vereinigung ›Tunnel über der Spree‹.
»Wie geht es bei dir zu Hause?«, wollte Menzel nun von Kugler wissen.
Kugler lächelte. »Danke, gut, wenn auch manchmal recht hitzig.« Das war eine Anspielung darauf, dass er vor fünfzehn Jahren Clara Hitzig geheiratet hatte, die Tochter von Julius Eduard Hitzig. »Wir haben drei sehr lebhafte Kinder.«
Da schwieg Adolph Menzel. Wegen seiner »Gnomenhaftigkeit« – 1,40 Meter maß er lediglich – war er nicht nur als untauglich für das Militär erklärt worden, sondern wurde auch von allen Frauen übersehen, die ihm gefielen. Die menschliche Wärme fand er bei seiner Mutter und seinen Geschwistern, mit denen er auch zusammenwohnte.
Menzel griff nach seinem Weinglas. »Ich hoffe nur, wir schaffen es zeitlich wie finanziell, in diesem Sommer einmal zu verreisen.«
Kugler legte ihm die Hand auf den Unterarm. »Warte nur, bis sie deine Bilder überall ausstellen und dich zu allen Vernissagen anreisen lassen.«
»Ja, Dresden, Wien, Paris – das wäre wunderbar!«
»Und Breslau nicht?«, fragte Kugler. Dort war Menzel am 8. Dezember 1815 zur Welt gekommen – wie so viele echte Berliner.
Menzel winkte ab. »Über Breslau habe ich erst letzte Woche mit Borsig geredet, der kommt ja auch von daher.«
»Willst du nicht eine seiner Lokomotiven malen, wie sie durch die Schöneberger Wiesen dampfen?«, fragte Kugler.
Menzel fasste sich an den Kopf. »Gott, Franz, das habe ich doch schon letztes Jahr getan!«
Kugler seufzte. »Dass ich das vergessen konnte! Wie kann ich das nur wiedergutmachen?«
»Ganz einfach. Sorg dafür, dass sie mich aufnehmen in diesen Verein mit dem Namen ›Tunnel über der Spree‹.«
»Versprochen.«
Damit leerten sie ihre Gläser, zahlten die Zeche und nahmen Abschied voneinander. Danach machten sie sich auf den Heimweg, was ein ziemliches Abenteuer war, denn eine elektrische Straßenbeleuchtung gab es in Berlin noch lange nicht, und man musste sich darauf verlassen, dass etwas Licht aus den Wohnungen fiel und die trüben Gaslaternen an den Hauseingängen nicht vom Wind ausgeblasen worden waren. Dazu kam, dass die Bürgersteige nur grob gepflastert waren und zum Fahrdamm hin von einer breiten Rinne gesäumt wurden, durch die das Regenwasser abfließen sollte. Ab und an gab es schmale hölzerne Stege, auf denen man sie überwinden konnte.
Aber Kugler hatte es nicht weit, er wohnte in der Stralauer Straße, gleich hinter dem Molkenmarkt, brauchte also nur die Spandauer Straße hinunterzugehen. Das war eigentlich in ein paar Minuten zu schaffen – und dennoch dauerte es heute eine gute Stunde, ehe er zu Hause war. Denn an der Nikolaikirchgasse stolperte er über einen menschlichen Körper.
»Heh, Wache!«, schrie er in die Dunkelheit. »Hier liegt ein Betrunkener. Kommt den mal holen, sonst erfriert er noch.«
Als der Nachtwächter mit seiner Laterne heran war, erkannte Kugler den Mann: Es war Ferdinand Dünnebier, ein Dienstmann, der ihm schon oft beim Tragen schwerer Lasten geholfen hatte.
»Der is ja gar nich besoffen«, stellte der Nachtwächter fest, nachdem er sich zu Dünnebier hinuntergebeugt hatte. »Der ist tot, dem hamse ’n Schädel einjeschlagen. Sehn Se det Blut hier hinten am Koppe …«
Der Criminal-Commissarius Waldemar Werpel wohnte schon seit einer halben Ewigkeit in der Oberwallstraße. Die begann Unter den Linden, quetschte sich zwischen Kronprinzen und Prinzessinnenpalais hindurch Richtung Süden und endete am Hausvogteiplatz. Direkt neben ihm, im Hause No. 4a, hatte August Neidhardt von Gneisenau gelebt, einer der großen preußischen Heerführer in den Befreiungskriegen, und das erfüllte Werpel, der Preuße durch und durch war, mit nicht geringem Stolz.
Wie an fast allen Abenden langweilte er sich auch an diesem. Seine acht Kinder schliefen schon, ebenso seine Frau. Das war bedauerlich, weil er sich gern wieder einmal als Ehegatte betätigt hätte. Nun war er mit Minna schon seit über zwanzig Jahren verheiratet, und da sie zudem in letzter Zeit sehr in die Breite gegangen war, begehrte er sie eigentlich nicht mehr, doch am Tage hatte er in seiner Amtsstube die Tänzerin Flora Morave zu Besuch gehabt, der man Geld gestohlen hatte, und seitdem war er sexuell derart aufgeladen, dass er es ohne Kopulation kaum noch aushalten konnte. In ein Bordell zu gehen, was das Naheliegendste gewesen wäre, verbot ihm sein Amt. Was tun? So saß er beim Schein seiner Rübenöllampe am Küchentisch, tat so, als würde er Akten studieren, und ließ seine rechte Hand ihr Werk vollbringen. Gerade nahte die Erlösung, da wurde kräftig an seine Haustür gebummert.
»Herr Commissarius, schnell, kommen Sie!«, schrie jemand von der Straße her. »Ein Mord an der Nikolaikirche.«
Werpel fühlte sich um seine Lust betrogen und verfluchte Gott und die Welt. Aber was half ’s? Über allem standen Dienst und Pflichterfüllung. Also knöpfte er eilig seine Hose zu und lief auf den Flur. »Wer ist denn da?«
»Der Kugler.«
»Pardon, ich eile!« Werpel war natürlich nicht entgangen, dass Franz Theodor Kugler beim König ein Stein im Brett hatte. Er öffnete, bedankte sich in blumigen Worten für die Aufmerksamkeit des Schriftstellers und lief dann zur Kammer seines Ältesten. »Johannes, zieh dich an, und lauf zu Constabler Krause! Er soll sich auf der Stelle an der Nikolaikirche einfinden. Wir müssen sogleich herausfinden, um wen es sich bei dem Ermordeten handelt.«
Kugler lächelte. »Das kann ich Ihnen jetzt schon sagen. Es ist der Dienstmann Ferdinand Dünnebier.«
Werpel zuckte zusammen. Alle taten so, als wäre er ein Kretin. »Hat Ihnen das der Oberst-Lieutenant von Gontard verraten?«
»Nein – wieso? Der war doch gar nicht an der Nikolaikirche.«
»Gut, dann wollen wir mal!« Er sagte noch schnell seiner Minna Bescheid, die schlaftrunken in den Flur getreten war, dann machte er sich an der Seite Kuglers auf den Weg zur Nikolaikirche. Sie liefen über die Französische Straße zum Werderschen Markt und weiter zum Schloßplatz, um die Spree zu überqueren. Hier stank es fürchterlich, denn die sogenannten Latrinen-Emmas hoben gerade die Fäkalieneimer, die sie in den anliegenden Straßen aufgeladen hatten, von ihrem Handkarren und kippten sie in den Fluss. Beim Einbiegen in die Poststraße kam ihnen der Constabler Krause entgegen.
»Welchen Wirt soll ick festneh’m?«, fragte er Werpel.
»Welchen Wirt Sie festnehmen sollen?«, wiederholte Werpel, der sich darauf beim besten Willen keinen Reim machen konnte.
»Na, den, der det zu dünne Bier ausjeschenkt hat.« Werpel seufzte. Es stimmte leider, was viele von Krause behaupteten: dass er dümmer sei, als die Polizei erlaubte. Er erklärte ihm, dass der Ermordete den Namen Ferdinand Dünnebier trug.
»Det muss doch ’m dummen Menschen jesagt werden«, maulte Krause.
»Darum sag ich’s Ihnen ja.« Werpel wandte sich an Kugler, da sie nun das Gotteshaus erreicht hatten und auf der Nordseite umrundeten, um in die Nikolaikirchgasse zu gelangen. »Wo genau liegt denn nun der tote Dünnebier?«
»Da drüben, vor der Wenzel’schen Holz- und Kohlenhandlung.«
Werpel staunte, als sie die besagte Stelle erreicht hatten.
»Da liegt aber keiner!«
»In der Tat«, musste Kugler einräumen.
»Dabei is doch noch ja nich Himmelfahrt«, stellte Krause fest.
Vier
Christian Philipp von Gontard hatte als Königlich Preußischer Oberst-Lieutenant viele dienstliche Pflichten, und eine von ihnen war die Teilnahme an den Beerdigungen hochrangiger Militärs. Die wurden – sofern sie denn einen Platz in Anspruch nehmen mussten, weil sie keinen eigenen Landbesitz in Preußen hatten – auf dem Invalidenfriedhof beigesetzt. Inzwischen lagen hier viele Helden der Befreiungskriege, und im Februar 1848 waren Leopold Hermann Ludwig von Boyen und Johann Friedrich Constantin von Lossau dazugekommen. Letzteren schätzte Gontard ganz besonders, weil dessen Standardwerk Ideale der Kriegsführung, in einer Analyse der Thaten der größten Feldherren für seine Lehrveranstaltungen im Fach Kriegsgeschichte unentbehrlich war. Die Entscheidungen von Alexander dem Großen, Hannibal, Caesar, Gustav Adolf, Turenne, dem Prinzen Eugen, Friedrich dem Großen und Napoleon wurden darin kenntnisreich diskutiert. Dabei teilte Gontard Lossaus Meinung voll und ganz, dass nur derjenige Feldherr auf Dauer erfolgreich sein konnte, der seine Entscheidungen nicht nach starren Regeln der Kriegskunst, sondern aufgrund der örtlichen Gegebenheiten und besonderen Verhältnisse traf und konventionellem Denken nicht verhaftet war.
Als der Trauerredner über Lossau sprach, hörte Gontard ganz genau zu und machte sich sogar heimlich Notizen, um das Gehörte in seine Vorlesungen einfließen lassen zu können.
»Johann Friedrich Constantin von Lossau wurde am 24. Juli 1767 als Sohn eines preußischen Generals der Infanterie in Minden geboren. Bekannt geworden ist er vor allem als Militärhistoriker …«
Auf dem Weg von der Kapelle zur Grabstelle hatte Gontard einen Mann mittleren Alters vor sich, der ihm irgendwie bekannt vorkam. Er war untersetzt und ging mit leicht schlurfenden Schritten. Mit seinem Nebenmann unterhielt er sich leise in einer Sprache, die Gontard erst für Polnisch, dann für Litauisch hielt, von der er aber kein Wort verstand außer »Lossow«.
»Taip, mūsų draugas buvo labai puikus vyras Lossow, ir dabar mes turime vykdyti jį jo kape …«
Als sie dann am offenen Grab Aufstellung genommen hatten, um den letzten Worten des Garnisonpredigers zu lauschen und zu warten, bis sie ihre drei Hände Sand auf den inzwischen herabgelassenen Sarg werfen konnten, drehte der andere ihm sein Gesicht zu, und bei Gontard zündete es sofort: Richard von Randersacker, Schießplatz Wahner Heide. Nach Ende der Zeremonie fand er dann Gelegenheit, Randersacker anzusprechen. »Christian Philipp von Gontard, Oberst-Lieutenant und Lehrer an der Vereinigten Artillerie- und Ingenieurschule Unter den Linden. Sie erinnern sich an unsere erste Begegnung?«
In Randersackers breitem und etwas teigigem Gesicht begann es zu arbeiten. »Nein, ich bedauere sehr …«
Gontard half ihm auf die Sprünge. »Schießplatz Wahner Heide. Das Vergleichsschießen, bei dem die junge Marie Engels ums Leben gekommen ist.«
Randersacker lächelte. »Normalerweise töten ja unsere Granaten nur Männer, und wenn es damals auch einmal eine Frau getroffen hat, dann ist das nur Gottes ausgleichende Gerechtigkeit.«
So viel Zynismus war Gontard nicht gewohnt, und so dauerte es einen Moment, bis er sich gefangen hatte und Randersacker fragte, welche Konsequenzen der Schießunfall für ihn gehabt habe.
»Keine. Weshalb denn auch?«
Gontard war nicht bereit, ein Blatt vor den Mund zu nehmen. »Weil Sie die Schussbahn der Kanonen mit den neuartigen Kolbenverschlüssen falsch berechnet hatten und der verantwortliche Mann auf dem Schießplatz waren.«
Randersacker winkte ab. »Da war vorher nichts abzusehen und zu berechnen, das war alles technisches Neuland. Keiner kann mir in dieser Hinsicht einen Vorwurf machen.«





